Ein Berliner über den evangelischen Kirchentag

Voll ist anders

Wenn man manche Medien las oder die Hauptnachrichten im Fernsehen verfolgte, hätte der Eindruck entstehen können, dass die Berliner den Kirchentag in ihrer Stadt freudig begrüßt haben. Tatsache ist jedoch, dass sie ihn ignorierten oder sich über dessen Besucher lustig machten.

Erwartet wurden rund 140.000 Dauergäste für die rund 2.500 Veranstaltungen, die sich im Messezentrum am Rande der Stadt konzentrierten – gekommen waren rund 40.000 weniger. Abgesehen von der einen großen Werbeveranstaltung der CDU, bei der der ehemalige US-Präsident Obama sich neben Kanzlerin Merkel der Masse zeigte, waren in der Innenstadt eher wenige orange Schals zu sehen. Auch eine Beflaggung, wie sie am Messegelände einsam im Wind wehte, fehlte in der City vollständig.

Am Abend des Pokalendspiels war die Berliner Innenstadt schwarz-gelb und schwarz-weiß-rot; auf dem Alexanderplatz trafen sich am späten Abend mehr Frankfurt-Fans als es tagsüber Kirchentagsbesucher waren. Selbst bei Veranstaltungen mit den Größen aus Politik und Kirche verloren sich die wenigen Interessierten in der Menge der üblichen Berlin-Touristen. Als Frau Käßmann über – ja, worüber eigentlich? – über Urlaubserinnerungen sprach, strömten die Touristen durch die kaum besetzten Bankreihen; auf dem Weg vom Geldautomaten zum Billigkaufhaus auf der anderen Seite des Platzes.

Frau Käßmann auf dem Roten Sofa
Frau Käßmann auf dem Roten Sofa... und kaum Jemanden interessiert es. Foto: © Frank Nicolai

Morgens in den U-Bahnen herrschte angestrengte Fröhlichkeit. Einheimische waren insbesondere daran zu erkennen, dass sie nicht mit aufgesetztem Lachen darauf hinweisen mußte, wie toll das doch alles sei. Der Berliner hat sich da längst ein dickes Fell wachsen lassen: Wer schon einmal nach 23 Uhr mit betrunkenen Amis in der U2 gefahren ist, ist Härteres gewohnt.

Und weil dem Kirchentag die Besucher fehlten, zählten offenbar die Veranstalter alle Berlin-Touristen der Woche als Kirchentagsbesucher. Anders ist nicht zu erklären, wie die sonst auf die Zahl von mehr als 200.000 Besuchern kommen konnten. Das fiel dann richtig beim Abschlussgottesdienst in Wittenberg auf: Viele Touristen waren nicht vor Ort, die man für sich vereinnahmen konnte – und so blieb die Festwiese ziemlich leer; auch wenn die Kollegen von Deutschlandfunk das gern anders gehabt hätten und unkritisch die Zahlen der Veranstalter übernommen haben. Ein Blick auf die Festwiese hätte sie eines Besseren belehrt.

Doch dafür, dass sich ein paar Touristen in Berlin, Leipzig und Wittenberg wohlfühlen, gibt man doch gern sein Geld her. Laut dpa ist der diesjährige Evangelische Kirchentag in Berlin und Wittenberg der bisher teuerste: Er hat schlappe 22 Millionen Euro gekostet. Aber "die Zuschüsse seien legitim", erklärt der Kirchentag auf seiner Internetseite: Viele Veranstaltungen seien kostenlos und mitten in der Stadt - so profitierten alle Einwohner der Region. Dumm nur, dass die Veranstaltungen "mitten in der Stadt" nicht nur die Kirchentagsbesucher nicht interessiert haben; noch viel weniger die Bewohner der "Hauptstadt des Atheismus".

Kirchentag in Berlin: Nicht mehr Toristen als üblich.
Kirchentag in Berlin: Auf dem Alexanderplatz sind nicht mehr Touristen als üblich. Foto: © Frank Nicolai

Wie sehr diese Argumente Scheinargumente sind, hat Kirchentagspräsidentin Christina aus der Au am Samstag im Roten Rathaus deutlich gemacht. Sinngemäß sagte sie, dass die Öffentliche Hand selbst Schuld sei, wenn sie Kirchentage aus Steuermitteln finanziere, man wisse schließlich, dass das fragwürdig sei "…doch das wird immer wieder neu verhandelt."