Kirchentage erinnern verdächtig an Michael Endes berühmten Scheinriesen: Je näher sie kommen, desto kleiner werden sie. Seit Jahren werden von den Veranstaltern der jeweils im Wechsel stattfindenden Katholikentage und Evangelischen Kirchentage die im Vorfeld genannten Besucherzahlen während des Events drastisch nach unten korrigiert.
Das war auch beim diesjährigen Evangelischen Kirchentag der Fall. Dieser fand hauptsächlich in Berlin statt, nur der Abschlussgottesdienst und kleinere Veranstaltungen in Wittenberg. Außerdem gab es zeitgleich sogenannte Kirchentage auf dem Weg in Dessau-Roßlau, Erfurt, Halle/Eisleben, Jena/Weimar, Leipzig und Magdeburg.
Als die Kirchentagsorganisatoren im Jahr 2015 beim Berliner Senat öffentliche Zuschüsse für den Deutschen Evangelischen Kirchentag (DEKT) 2017 beantragten, schätzten sie die Zahl der Dauerteilnehmer des Kirchentages - allein in Berlin - auf 140.000. Tatsächlich gab es jedoch nur 106.381 Dauerteilnehmer – davon übrigens mehr als 5.000 Helferinnen und Helfer sowie 30.000 Mitwirkende. Es kamen nach Berlin also rund 24% weniger Kirchentags-Dauerteilnehmer als geplant und als beim Beantragen der Finanzierung angekündigt.
Am publikumsstärksten ist bei Kirchentagen traditionell der erste Abend, da dieser neben dem Eröffnungsgottesdienst auch den Abend der Begegnung bietet - ein Straßenfest in der Innenstadt des jeweiligen Veranstaltungsortes "mit bunten Ständen, Köstlichkeiten und Mitmachaktionen" sowie mit Live-Musik auf mehreren Bühnen. Da das Straßenfest im Gegensatz zu den Veranstaltungen des eigentlichen Kirchentages keinen Eintritt kostet, riskieren auch Kirchenfremde und Einheimische einen Blick. Welcher Teenie lässt sich schon ein kostenloses Live-Konzert von Max Giesinger vor dem Brandenburger Tor entgehen – der Top Act des diesjährigen Eröffnungsabends, gleich nach dem Eröffnungsgottesdienst. Bejubelt von Presse und Kirchentag besuchten dieses Straßenfest in Berlin 200.000 Menschen. Wen interessiert da schon, dass der Kirchentagsveranstalter eigentlich mit 300.000 Menschen gerechnet hatte. Mit anderen Worten: Es kamen zum Straßenfest über 33% weniger Menschen als der Kirchentagsveranstalter zur Schmackhaftmachung der Kirchentagsfinanzierung angekündigt hatte.
Für Berliner Verhältnisse sind diese Zahlen ohnehin Peanuts. Allein den Alexanderplatz passieren laut dort aushängenden Plakaten stündlich rund 10.000 Menschen und täglich mehr als 350.000 Fahrgäste. An einem normalen Tag in Berlin, ganz ohne Kirchentag. Das hinderte den Berliner Senat jedoch nicht daran, das Christen-Fest in Berlin mit 8,4 Millionen Euro zu bezuschussen. Weitere Zuschüsse kamen vom Land Brandenburg (1 Million Euro) und vom Bund (2 Millionen Euro). Mindestens 11,4 Millionen Euro der insgesamt 23 Millionen Euro des Kirchentags in Berlin wurden demnach von der öffentlichen Hand bezahlt.
Dass man 100.000 zusätzliche Besucher in Berlin auch ganz ohne öffentliche Förderung gewinnen kann, zeigte der Kirchentagssamstag. Rund 100.000 Fußballfans reisten an diesem Tag zum DFB-Pokalfinale in die Hauptstadt, um dem Fußballgott zu huldigen. Selbstverständlich kostet die öffentliche Hand auch das erhöhte Polizeiaufgebot für das Fußballspiel etwas. Doch auch der Kirchentag wurde durch die Polizei mit teils massivem Einsatz von Sicherheitskräften bewacht. Und die Kosten für diesen Einsatz sind in der offiziellen Fördersumme für den Kirchentag nicht enthalten.
Noch schlechter als beim Berliner Kirchentag war es um die Besucherzahlen der Kirchentage auf dem Weg bestellt. Der Kirchentagsorganisator hatte bei den beteiligten Städten die Hoffnung auf 80.000 Besucher genährt. Doch von den geplanten 80.000 Karten wurden nur 41.000 Karten verkauft. Am schlimmsten traf es Leipzig. Erwartet hatte man dort 50.000 Besucher, jedoch wurden nur 15.000 Karten ausgegeben. Die Hälfte davon an nicht zahlende Mitwirkende und Helfer. Nur 7.500 von den erwarteten 50.000 Tickets in Leipzig wurden tatsächlich verkauft. Eine echte Pleite für die Stadt Leipzig, die das Event trotz hoher Verschuldung mit 950.000 Euro bezuschusst hatte. Das Land Sachsen zahlte weitere 2,25 Millionen Euro für den Kirchentag in Leipzig.
Ebenso wie den Eröffnungsabend in Berlin kommunizierte der Kirchentag auch den Abschlussgottesdienst in Wittenberg als großen Erfolg an die Presse und gab eine offizielle Besucherzahl von 120.000 an. Kein Wort davon, dass man ursprünglich 200.000 Menschen zum Abschlussgottesdienst erwartet hatte. Doch selbst die Zahl 120.000 ist mit Vorsicht zu genießen. Angesichts des eher spärlich gefüllten Areals beim Abschlussgottesdienst übernahmen viele Medien die Angabe des Veranstalters nicht, sondern sprachen nur von "Zehntausenden". Die Welt zweifelte die vom Veranstalter genannte Besucherzahl beim Festgottesdienst sogar explizit an.
15 Kommentare
Kommentare
Wolfgang am Permanenter Link
Stell dir vor, es ist Kirchentag und keiner geht hin!! Das wurde zur Realität. Ach Gottchen!
Kay Krause am Permanenter Link
Hallo Wolfgang! Da haben wir aber ein Problem: wenn keiner mehr hingeht, wen sollen wir dann noch auffordern, den Kirchentag gefälligst selbst zu bezahlen?
Gruß vom Kay
Christian am Permanenter Link
Eine Veranstaltung mit Null Teilnehmern kann so teuer nicht sein.
Stefan Dewald am Permanenter Link
Siehe auch: http://www.mz-web.de/wittenberg/haendler-in-wittenberg-trotz-kirchentag-herrscht-flaute-in-den-kassen-26989772
Peter Edelmann am Permanenter Link
Die Verquickung von Kirche, Staat und Geschäftsinteressen ist widerwärtig.
War nicht einmal die Rede von Schulen und Infrastruktur, für die die Steuergelder verwendet werden sollen?
Skydaddy am Permanenter Link
Die ZEIT hat heute ein Luftbild veröffentlicht, und hinterfragt kenntnisreich die Angabe des DEKT.
Skydaddy am Permanenter Link
Sorry, hier der Link zum ZEIT-Artikel: http://www.zeit.de/2017/23/kirchentag-wittenberg-besucherzahlen-gottesdienst
Stefan Dewald am Permanenter Link
Siehe auch hier: http://www.zeit.de/2017/23/kirchentag-wittenberg-besucherzahlen-gottesdienst
Holger am Permanenter Link
Da feiern vorwiegend junge Leute ein übrigens zumeist aufgeklärtes Christentum und beschäfigen sich mit vielen Fragen der Zeit.
Ich halte kritischen Atheismus für wichtig, gerade in einer Gesellschaft, die sich teilweise auf dem Weg zurück ins Mittelalter bewegen könnte. Aber als Atheist muß man aufpassen, sich nicht zu einem arroganten Misanthropen zu entwickeln.
Petra Pausch am Permanenter Link
Hallo Holger,
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Nichts hinzuzufügen!
Holger am Permanenter Link
Hallo Petra,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Offen gestanden ging es mir nicht so sehr um die Frage der Finanzen. Der Kirchentag rechtfertigt das wohl wie folgt:
https://www.kirchentag.de/ueber_uns/finanzen.html
Ich kann und will das nicht in allen Details nachprüfen. Teilweise läufst Du bei mir offene Türen ein, etwa soweit es die Finanzierung von Krankenhäusern betrifft, die in Wirklichkeit zu 100 % aus staatlichen Geldern getragen werden. Das ist schon etwas bigott. Andererseits muß ich mich auch als Atheist manchmal fragen lassen, wie aufrecht ich eigentlich vor meinen behaupteten Idealen bin, ob eigentlich ich z.B. in Altenheime gehe oder doch idR. Leute aus kirchlichen Kreisen und christlichen Motiven (ich rede hier wohlgemerkt nicht von missionarischen Intentionen, das wäre wieder etwas anderes).
Schreiben und Urteilen ist weit einfacher und macht bestimmt mehr Spaß als dahin zu gehen, wo Menschen sabbern und es nach Urin stinkt.
Aber wie gesagt, um Finanzen ging es mir nicht so sehr. Wenn ich im Hinblick auf den Artikel etwas das Thema verfehlt habe, bitte ich um Nachsicht.
Ich wende mich gegen die polemische Haltung, die ich meine, hinter solchen Artikeln zu erkennen, ich glaube auch nicht recht, dass Atheisten allen Ernstes die finanzielle Seite so furchtbar umtreibt, ich finde das für meinen Teil eher langweilig.
Für mich funktioniert die Grenzziehung Gläubige / Nichtgläubige einfach nicht, ich bin dieses Schubladendenken leid. Ich habe mich da auch lange mit beschäftigt, bin zu einem anderen Schluss gekommen. Wenn man überhaupt von einem "wir" und "die" redet, muß man sich heute sehr genau überlegen, wo man ansetzen will. Es gibt ja genug Strömungen, die wirklich problematisch sind. Wir haben gestern gerade Herrn Trump bei seinem demagogischen Austritt aus dem Klimaabkommen "bestaunen" können; Putin schlachtet in Syrien fröhlich mit und Erdogan demonstriert die Unvereinbarkeit des politischen Islam mit einem Rechtsstaat. Kaum ein Tag vergeht ohne Attentatsmeldungen religiös motivierter Wirrköpfe.
Und wie sieht es in Deutschland aus? Auf der einen Seite bilden sich immer mehr Parallelgesellschaften heraus, denen nur ganz schwierig beizukommen ist. Frauen werden weggesperrt in patriarchischen Familien. Es kommen immer mehr Zweifel auf, ob aus einem Nebeneinander mal ein Miteinander werden kann. Auf der anderen Seite ätzen und pöbeln, diejenigen, die von vornherein kein Miteinander in Betracht ziehen, Nazis und andere rechtsgerichtete Kreise was das Zeug hält. Und dazwischen sitzen immer mehr Menschen einigermaßen hilflos, die tatsächlich nicht einmal wissen, wie sie sich angesichts der Ambivalenz dieser Entwicklungen auch nur ausdrücken sollen. Ständiger Ideologieverdacht, hier allerdings auch aus der linken Ecke, macht viele differenzierte Aussagen und Diskussionen extrem schwierig. Es würde den Rahmen hier weit sprengen, das alles genau zu beleuchten, ich werfe es hier einfach mal rein.
Welche Impulse kann eine säkulare Ausrichtung hier geben, sicherlich eine wichtige Frage.
Aber vor dem Hintergrund finde ich es schlichtweg wohltuend, wenn junge Leute für eine andere Welt eintreten, und da ist es mir ziemlich egal, ob sie das aus christlichen oder humanistischen Motiven letztlich tun - Hauptsache sie tun es. Und dazu gehört - ja sehe ich nun mal so- in weiten Teilen auch eine Veranstaltung wie der Kirchentag, ohne dass ich das idealisieren möchte. Zumindest in praktischer Hinsicht halte ich ohnehin die Differenzierung "Christlicher Humanismus" vs. "Säkularer Humanismus" für Erbsenzählerei. Die meisten Christen, die ich kenne, unterscheiden sich z.B. in Fragen der Evolutionstheorie kaum von Atheisten / Agnostikern. Genauso gibt es unter Atheisten auch eine Menge Leute , die genauso an einer "Mystik" interessiert sind, an Erfahrungen, die ihrem Leben Wert verleihen.
Aber ich ufere aus, sorry. Es sprengt wie gesagt den Rahmen, vielleicht konnte ich wenigstens andeuten, worum es mir geht.
Viele Grüße
Holger
Stefan Wagner am Permanenter Link
"Oder von welcher offenen zu schützenden Gesellschaft reden wir dauernd?"
Was soll das überhaupt sein, ein aufgeklärtes Christentum? Wenn die Kirchentagspräsidentin Frau Aus der Au für Mädchenbeschneidung eintritt im Sinne eines Respekts für alle Kulturen, die ihre Kinder wie Eigentum behandeln?
In Berlin und Wittenberg sind bei 38 Veranstaltungen ca. 50 Mitglieder des Bundestags aufgetreten.
Das sieht für mich doch so aus, als beschlössen die Politiker hier vor allem sich selbst ein Forum zu schaffen, eine schwarze Form der Parteienfinanzierung, eine unbürokratische Wahlkampfhilfe, die sich die Kirche gerne gefallen lässt im Sinne des "Eine Hand wäscht die andere", nur nicht in Unschuld.
Wenn die falschen Zahlen nur ein Haar in der Suppe sind, wieso hat die Kirche es dann so nötig sie zu fälschen? Wie kommt es, dass das in den Medien dazu kaum eine Frage gestellt wird. Stattdessen wird Hofberichterstattung betrieben wie einst bei der aktuellen Kamera. Das Kombinat Arbeiterfaust feiert die Übererfüllung der Produktionsziele und der Genosse Staatsratsvorsitzende der DDR bla, bla, bla gratuliert bei herrlichem Sonnenschein in seinem leuchtenden, blauen Anzug.
Ei, und wer sitzt in den Rundfunkräten und steuert deren windelweiche Gefälligkeitsberichterstattung? Die gleichen Parteisoldaten, die die öffentlichen Zahlungen bewilligen für das Event, bei dem sie bei den Kirchenvertretern auftreten, mit denen sie gemeinsam in den Räten hocken!
Noch ein Stück Törtchen, Herr Superintendent?
Hans Trutnau am Permanenter Link
120.000 sind alternative Fakten.
Stefan Wagner am Permanenter Link
Ergänzen kann man noch, dass die Dt. Bahn AG erklärt hat, die Erlöse aus den Ticketverkäufen zur Fahrt zum Abschlussgottesdienst, dem Kirchentag zu spenden.
Also erst verhandelt sie mit dem Kirchentag über die Konditionen, zu denen sie Sonderzüge bereitstellt, die von Berlin-Südkreuz nach Wittenberg fahren und zurück sowie von und zu den Kirchentag-auf-dem-Weg-Städten. Für Berlin-Wittenberg u. zurück 20 €, soweit ich gehört habe. Im 30-Minutentakt fuhren Shuttlezüge vom frühen Morgen an, aber weitgehend leer, wegen der überzogenen Schätzungen. Dadurch kam es auf anderen Strecken zu Ausfällen und Verspätungen.
Jetzt fuhren die Züge aber nicht gratis, was Kontrolleure gespart hätte und die aufwändige Herstellung von Sondertickets, und es bekamen auch die Kirchentagsbesucher die Fahrt nicht geschenkt, sondern die Kirchentagsbesucher kauften Tickets, und die Bahn, ein Privatunternehmen in weitgehend öffentlicher Hand, spendet die Einnahmen dem Kirchentag, sicher steuerabzugsfähig. Die Kosten hat sie natürlich trotzdem - auch leer fahrende Geisterzüge kosten Geld. Dazu die Einnahmeausfälle durch die fehlenden Züge auf anderen Strecken, ein Sonntag eines langen Wochenendes mit vielen, potentiellen Ausflüglern.
Der Steuerzahler zahlt also doppelt, aber wem fließt das Geld zu, wenn nicht den Reisenden, die ja selbst auch einen Obulus entrichteten? Wer steckt sich die Kohle am Ende ein?