Ein Interview mit der Altistin und Musiktheaterregisseurin Wiebke Hoogklimmer zum Thema Alzheimer

"Nicht die Krankheit ist tückisch, sondern die deutsche Bürokratie"

Wiebke Hoogklimmer hatte die Idee, alte Volkslieder, die sie ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter im Stift vorsang, in tiefer Tonlage und ohne Instrumentation, auf CDs einzusingen. Das Ziel: mit der Sängerin auf der CD mitsingen und sich stimmlich sicher fühlen zu können, eine Verbindung zum Patienten herstellen, Freude empfinden. So entstand ihr Volksliedprojekt mit einer eigenen Website, CD und Buch.

hpd: Im September 2014 verstarb Deine Mutter. Hast Du ihr bis zum Schluss vorgesungen?

Wiebke Hoogklimmer: Ich habe bis zum Schluss meiner Mutter vorgesungen. Allerdings nicht, als sie am Hinübergehen war. Um sie nicht zu stören und ihr den Abschied zu erleichtern. Meine allerschönste Erinnerung in dieser Abschiedszeit war, dass ich einmal meinen Arm unter ihren Nacken gelegt hatte, um ihr das Gefühl einer Umarmung zu geben und ich ihr sehr leise – wie einem Baby – vorsang. Ich musste auch daran denken, dass ich dieses Geschenk der Innigkeit nie erlebt hätte, wäre meine Mutter vollkommen gesund gealtert. Und sie, die sich überhaupt nicht selbstständig bewegen konnte, kuschelte ihr Köpfchen immer mehr in meine Ellenbogenbeuge. Das war das Gefühl der absoluten Geborgenheit.

Nur zum Verständnis ihrer körperlichen Verfassung: Sie hatte sehr starke Kontrakturen. Das rechte Knie war extrem angewinkelt und auch beide Ellenbogen waren ständig angewinkelt, d.h. sie musste sehr oft umgelagert werden, da sie sich überhaupt nicht selbst bewegen konnte. Bei meiner Mutter war das Kleinhirn betroffen, so dass sie während der letzten 9 Jahre ihres Lebens immer mehr alle Bewegungsabläufe verlernte.

Welche Reaktion ist die letzte, an die Du dich erinnern kannst?

Ich glaube, seit 2010 – also 4 Jahre vor ihrem Tod – war sie vollkommen verstummt. Die Sprache wurde aber schon 2008 immer weniger, hauptsächlich "ja" und "nein", Reaktionen habe ich bis zum Schluss bemerkt. Sie hat mich immer wieder überrascht. An zwei Situationen erinnere ich mich sehr: Ich saß an ihrem Bett und sang ihr vor. Sie hatte die Augen geschlossen und reagierte überhaupt nicht. Irgendwann sagte ich so "Na, Du schläfst wohl?". Da kam von ihr, die nie sprach, ein entrüstetes "Nein". Der andere Vorfall: sie in ihrer Spezialliegeschale im Gemeinschaftsraum und ich erzählte ihr etwas. Sie schaute mich mit gerunzelter Stirn die ganze Zeit an, wandte dann den Kopf ab, und ich sagte so rhetorisch "Na, Du denkst wohl nach?" Da kam ein deutliches "Ja". Ich bin aus allen Wolken gefallen.

Was bleibt von diesen liedsingenden Tagen im Stift?

Wir hatten viele schöne Momente, da mein Bruder und ich von Anfang an vollkommen selbstverständlich mit der Demenzerkrankung umgegangen sind und viel mit unserer Mutter gelacht haben. Es gibt ja die zwei Möglichkeiten, über die ganzen Verluste zu verzweifeln oder auch das Lustige in den Situationen zu sehen. Und wir haben uns für das Lustige entschieden.

Hat Dich nicht manchmal die Traurigkeit übermannt, dass Du – außer dem Singen – nichts gegen den Verfall deiner Mutter machen kannst, dass Alzheimer so eine tückische Krankheit ist, die den Geist auslöscht und alles in den Malstrom des Vergessens reißt?

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Meine Mutter war im gesunden Zustand eine unglaublich quirlige Frau, die sehr viel und lebhaft sprach, sehr auf ihr Äußeres achtete, mit meinem Vater Tanzsport als Amateur-Turniertänzer betrieb, überhaupt sehr sportlich und beweglich war, an vielem interessiert, kommunikationsfreudig etc. Wenn ich früher manchmal gedacht habe "Nun red mal nicht soviel", hätte ich sie später schütteln können "Nun sprich doch mit mir!"

Die traurigsten Momente hatte ich mit meiner Mutter im Anfangsstadium der Krankheit, in dem der erkrankte Mensch ein Bewusstsein über die Krankheit hat. Bei uns kam hinzu, dass meine Mutter Krankenschwester war, eine Zusatzausbildung in häuslicher Krankenpflege und Altenpflege hatte, andere Menschen in diesem Fach unterrichtete und genau wusste, was die Diagnose "Alzheimer" bedeutet. Ich hatte dann ein sehr intensives Gespräch mit ihr, als sie sehr verzweifelt war, was da auf sie zukommt, in dem ich ihr versprach, dass ich ihr eine "goldene Tablette" verstecken würde, von der nur wir zwei etwas wüssten und die sie nehmen könnte, wenn sie es nicht mehr aushält. Also – das war 2004, 2005. Von diesem Zeitpunkt an habe ich sie genau beobachtet, ob es wohl Zeit für diese "goldene Tablette" wäre. Sie hat mir nie das Zeichen dafür gegeben. Und sie war nach diesem Gespräch auch nie wieder verzweifelt. Anscheinend hatte die Beruhigung, dass man es selbst beenden könnte, vollkommen genügt. Und dann ist die Krankheit ja sehr gnädig, dass der erkrankte Mensch nach ein oder eineinhalb Jahren kein Bewusstsein mehr über die Krankheit hat. Die Alzheimererkrankung – Alzheimer kann man ja eigentlich nur nach dem Tod in einer Obduktion feststellen – ist aus meiner Sicht für die Angehörigen wesentlich schlimmer als für die Betroffenen. Natürlich bin ich oft ins Schwesternzimmer gegangen mit "Ich glaube, meine Mutter erkennt mich nicht mehr", und die haben mich dann immer beruhigt, dass das nicht stimmt. Und es war auch ganz seltsam – vielleicht reagierte sie drei Tage nicht auf mich, dafür umso intensiver am 4. Tag. Für meine Mutter habe ich die Erkrankung immer als das "selige Vergessen" erkannt.

Ihre Geschichte ist ja: Mit 16 Jahren Flucht aus Zoppot/Danzig, Verlust der Familie auf der Flucht, die haben sich erst später wiedergefunden, als Teenager Missbrauch durch einen Nazi-Onkel, davon erzählte sie erst, als sie über 60 war, Kennenlernen meines Vaters, der nach Notabitur mit 17 Jahren Flakhelfer wurde, gleich in russische Gefangenschaft kam, dann nach der Entlassung aus der Gefangenschaft ausgehungert in dem Ort, in dem meine Mutter auf der Flucht gelandet war, ankam. Das heisst, da war ein sehr traumatisiertes Pärchen ohne alles, das versuchte, die Erlebnisse der Jugendzeit zu verdrängen und sich ein heiles Leben aufzubauen.

Ich habe immer so gedacht, dass meine Mutter in den letzten acht bis zehn Jahren ihres Lebens die Entspannung hatte, die ihr das ganze gesunde Leben gefehlt hat: Keine Geldsorgen oder überhaupt diese Beschwerlichkeiten, die ein erwachsenes Leben so mit sich bringt. Um diese ganze "Verwaltung" habe ja ich mich gekümmert. Sie hat das Essen genossen, sie genoss es, wenn ihr die Sonne ins Gesicht schien oder der Wind in den Haaren zauste, wenn ich sie im Rollstuhl oder der Liegeschale draußen herumfuhr. Sie genoss es sehr, mit so einer Hebevorrichtung gebadet zu werden. Und sie genoss es, Musik zu hören. Wir haben ja nicht nur gesungen, sondern auch sonst immer zwischendurch ihre Lieblingsmusik aufgelegt. Ich habe sehr viel im Umgang mit dieser Krankheit meiner Mutter gelernt, was das eigentliche Glück dieses Lebens ausmacht!

Die andere Seite ist das Leid der Angehörigen. Ich habe zwei Ordner voll mit Widersprüchen gegen die Krankenkasse, Medizinischer Dienst der Krankenversorgung (MDK), GEZ, Versorgungsamt etc., etc., etc. Ich habe nichts, aber auch nichts, was meiner Mutter gesetzlich eigentlich zustand, ohne massiven Protest erhalten. Ich habe jeden Widerspruch ohne Anwalt gewonnen. Ich hatte auch gar keine Skrupel, mich direkt an den Gesundheitsminister zu wenden, zum Beispiel wegen der speziellen Liegeschale, die natürlich erst mal abgelehnt wurde, obwohl es kein Geschenk von der Krankenkasse war, sondern eine Leihgabe. Mit meinen massiven Protesten und Drohungen, mich an die Medien zu wenden, ging die Bearbeitung dann immer sehr schnell. Also, meine Mutter war optimal versorgt. Ich weiß aber, dass die meisten Angehörigen damit vollkommen überfordert sind. Viele wissen nicht, wie man effektiv Einspruch einlegt, können nicht den passenden Brief schreiben, lassen sich einschüchtern, abwimmeln, etc., haben auch schlichtweg nicht die Zeit für einen aufwendigen Briefwechsel.

Der Pflegezustand in Deutschland ist eine Katastrophe! Die Pflegekräfte reißen sich ein Bein aus, um die Patienten zu versorgen, und die Krankenkassen, MDK, Versorgungsamt, etc. legen Steine in den Weg, wo es nur geht, und die Politiker haben keine Lösung. Um meine lange Ausführung zusammenzufassen: Nicht die Krankheit ist tückisch, sondern die deutsche Bürokratie.

Wiebke Hoogklimmer
Wiebke Hoogklimmer

Was bewirkt denn Deiner Meinung das gemeinsames Singen?

Wenn der Mensch die Sprache verliert, wird die Kommunikation sehr einseitig. Man sitzt da am Bett oder am Stuhl und hält Monologe, da das Gegenüber ja nicht mitspricht. Nach spätestens einer halben Stunde wird man selbst sehr müde und auch frustriert. Beim Singen ist das ganz anders: Man hält die Hand oder hat anders Körperkontakt und singt Melodien, die Emotionen auslösen, beim Patienten und bei einem selbst. Es war auch so, dass meine Mutter manchmal ganz plötzlich eine Phrase mit Text mitsang, da über die Musik ein anderes Zentrum im Gehirn angesprochen wird als nur das Sprachzentrum. Durch das gemeinsame Singen entsteht eine sehr andere Zweisamkeit als über das Monologe halten.

Hast du dich auch mit anderen Angehörigen und ihren an Alzheimer erkrankten Verwandten zu einem Chor oder gemeinsamen Singen getroffen?

Nein. Ich bin ja klassische Sängerin und nicht Musiktherapeutin.

Ich hatte dann nur, als ich mit meiner Mutter singend zusammensaß, auf einmal die Idee, dass andere Angehörige auch vielleicht gern so innige Momente hätten. Viele kennen aber vielleicht nicht mehr die Lieder, die unsere Elterngeneration rauf- und runtergesungen hat, viele denken, sie können nicht singen, etc. So hatte ich die Idee, die Lieder so, wie ich sie meiner Mutter vorsinge, also in tiefer Tonlage und ohne Instrumentation, auf CDs einzusingen mit dem Ziel, dass andere mit der Sängerin auf der CD mitsingen können und sich so stimmlich viel sicherer fühlen. Daraus hat sich dann mein Volksliedprojekt mit der Website www.volksliedsammlung.de.

Wie sieht die Medikation von Alzheimer-Patienten heutzutage aus? Was bewirken sie? Welche Nebenwirkungen hast du bei deiner Mutter wahrgenommen?

Meine Mutter hatte von Anfang an die aktuellsten Medikamente, die gerade auf den Markt kamen, erhalten. Sehr interessant übrigens... darunter auch ein Medikament, das schon seit Jahrzehnten bekannt war, allerdings nicht für Alzheimer. Als sie entdeckten, dass es angeblich auch gegen Alzheimer helfen soll, bekam es einen neuen Namen ging im Preis gleich 10x in die Höhe. Alle diese Medikamente hatten Nebenwirkungen. In den letzten Lebensjahren meiner Mutter hatte ich die Alzheimer-Medikamente absetzen lassen. Der Kampf mit der Neurologin, meine Mutter nicht mit irgendwelchen Medikamenten voll zu pumpen, ist eine eigene Geschichte...

Ist die Pflege nach den heutigen Pflegegraden in Umfang und Qualität der Erkrankung angemessen? Was ist gut, was müsste sich ändern, was bedürfte es?

Ich habe mit meiner Mutter ja noch die 3 Pflegestufen erlebt. Grundsätzlich ist es so, dass an der Basis sehr engagierte, idealistische Pflegekräfte arbeiten. In den Krankenkassen und beim MDK sitzen Sachbearbeiter, die anscheinend die Vorgabe haben, möglichst Geld zu sparen und in der Regel erst einmal alles ablehnen. Angehörige und Pflegekräfte kämpfen gegen Windmühlen! Dann glaube ich auch, dass dieses Punktesystem der Heimbewertung zu kritisieren ist. Die Pflegekräfte verbringen sehr viel Zeit mit der Dokumentation anstatt mit der Pflege. Die Heime werden anhand der Dokumentation überprüft und erhalten so ihre Bewertung.

Ich als Angehörige würde nie nach dieser MDK-Bewertung gehen, sondern mir immer einen persönlichen Eindruck vor Ort in dem betreffenden Heim einholen – also, riecht es dort, Urin etc., bei guter Pflege riecht es nicht – in welchem Zustand sind die Patienten, was wird im Sozialdienst angeboten, etc.

Worum musste sich die Tochter Wiebke kümmern, als die beginnende Erkrankung der Mutter offensichtlich wurde - und weiter fortschritt (und wovon der Otto-Normalverbraucher nichts ahnt oder wissen will?

Man hat ja plötzlich ein Kind. Ich habe meine Mutter im Rückwärtsstadium als Sechzehnjährige, Zwölfjährige, Sechsjährige, Zweijährige und Neugeborene kennengelernt. Und alles, was man für Kinder organisieren muss, muss man dann auch für die Mutter organisieren. Nur mit dem Unterschied, dass Kinder immer selbstständiger werden, die Mutter immer unselbstständiger. Geldgeschäfte, häuslicher Pflegedienst, Essendienst, Pflegestufen, GEZ-Befreiung, Rollator-, Rollstuhlbeantragung, Schwerbeschädigteneinstufung. Es ist viel Papierkram! Und da ja erst einmal alles abgelehnt wird, doppelter, dreifacher und vierfacher Papierkram. Und viele Nerven! Ach ja, und "Demenzkranke und Krankenhausaufenthalt" ist nochmal ein gesondertes Thema. Im Krankenhaus ist der Pflegenotstand noch schlimmer!

Hat sich etwas in deinem Zugang zu Musik, als singende Altistin, geändert?

Ich bin beim Einsingen meiner CDs mit einem sehr professionellen Anspruch als ausgebildete klassische Altistin vorgegangen. Ich habe viele Probeaufnahmen gemacht, um den richtigen Ausdruck zu finden. Einerseits wollte ich auf keinen Fall meine klassische Ausbildung verraten, andererseits musste ich einen sanften und schlichten Ton finden, damit die Angehörigen, Pflegekräfte im Sozialdienst und die Patienten mitsingen können. Für die tiefe Tonlage hatte ich mich bewusst entschieden, da einerseits die Stimme im Alter tiefer wird (Patienten), andererseits ungeschulte Stimmen oftmals in entspannter tiefer Lage leichter mitsingen können (Angehörige). Ich habe mir viele Gedanken über die richtigen Tonarten gemacht.

All die anderen Mitsing-CDs anderer Anbieter sind in hoher Tonlage.

Wie sehen deine zukünftigen Projekte in den Bereichen Musik und Film aus?

Die Alzheimer-Erkrankung meiner Mutter hatte mich ja kalt erwischt. Die erste Ahnung gab es so ab 2000, 2002 wurde es dann konkreter und ab 2004 war klar, dass ich immer abrufbereit sein müsste, da wieder eine neue "Katastrophe" dazukam. Ich habe ja Musiktheaterregie studiert, danach klassischen Gesang. Und mein Ziel war immer, Regie und Gesang zu verbinden. Ich hatte auch einige Liedprogramme, in denen ich dies ausprobierte. Und 2004 war das letzte vom Senat geförderte Programm für Bläserquintett und Altstimme mit zeitgenössischer Musik, die ich extra für diese Kombination von verschiedenen KomponistInnen hatte komponieren lassen. Auf dieser Schiene wollte ich weitermachen. Aber das ging ab 2004 einfach nicht mehr. Als Projektleiterin und Sängerin hätte ich nicht kurzfristig absagen können, um mich bei einem Notfall um meine Mutter zu kümmern. Es hätte ja keinen Ersatz gegeben.

Ich habe dann angefangen, untergeordnet beim Film als Produktionsassistentin, Continuity etc. zu arbeiten. Bei diesen Positionen hätte ich im Notfall immer rausgekonnt. Im nachhinein bin ich darüber sehr froh, da ich mich neben Oper schon immer sehr für Film interessiert habe. Dann kam die Idee mit dem Volksliedprojekt, das ich eigentlich nur nebenbei geplant hatte, das sich aber vollkommen verselbstständigt hat. Das wurde ja auf einmal ein Fulltime-Job. Ich habe mein eigenes Label gegründet, arbeite aber auch über einen Lizenzvertrag mit einem Verlag zusammen und kooperiere mit einigen Vertrieben. Die Website www.volksliedsammlung.de wird täglich von über 1000 neuen Menschen besucht, zur Weihnachtszeit von über 2000 Menschen.

Als meine Mutter im September 2014 starb, dachte ich zuerst, ich könne zu meinen ursprünglichen Plänen zurückkehren und die Volkslieder lassen. Aber das geht gar nicht wegen der Nachfrage. Auf jeden Fall will ich noch die Liebeslieder und eine CD mit den Lieblingsliedern der Website-Besucher nach einer Umfrage fertigstellen. Der Traum von der Verbindung aus Regie und Gesang ist aber noch nicht vorbei.