Von den Auswirkungen der weltweiten Corona-Krise sind auch in Deutschland nicht alle Menschen gleichermaßen betroffen. Ein Interview mit dem Soziologen Jan Paul Heisig über unterschiedliche Risiken und Folgen von Kurzarbeit, Schulschließungen und Einsamkeit.
Wen treffen die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung besonders hart?
Jan Paul Heisig: Allgemein kann man sagen, dass die Folgen ungleich verteilt sein werden. Bestimmte Bevölkerungsgruppen werden wohl stärker unter der Pandemie zu leiden haben als andere. Im Hinblick auf die gesundheitlichen Folgen ist in der öffentlichen Debatte die Unterscheidung zwischen "Jung" und "Alt" relativ präsent, also der Hinweis auf das Risiko, dass Ältere deutlich stärker betroffen sind, deutlich häufiger auch lebensbedrohlich erkranken und sterben. Dahinter steckt aus der Perspektive eines Ungleichheitsforschers auch die Tatsache, dass Ältere deutlich öfter bestimmte Vorerkrankungen mitbringen. Diese hängen nicht nur mit dem Alter zusammen, sondern auch mit der sozialen Lage der Person: Diejenigen mit niedriger Bildung, die in bestimmten, körperlich belastenden Berufen arbeiten, haben ein deutlich höheres Risiko die einschlägigen Vorerkrankungen der Atemwege oder des Herzkreislaufsystems mitzubringen.
Es geht daher nicht nur um die Ungleichheiten des Alters. Wir müssen davon ausgehen, dass Personen mit niedrigem sozialen Status stärker von den gesundheitlichen Folgen der Krise betroffen sind. Ähnliche Auswirkungen werden sich feststellen lassen, wenn es um die wirtschaftliche Lage oder den Bildungserfolg geht.
Für viele gefährden die aktuellen Maßnahmen auch die wirtschaftliche Existenz. Können Hilfspakete die schlimmsten Folgen abfedern?
Die Effekte sind branchenspezifisch und betreffen bestimmte Bereiche stärker, etwa den Restaurant- oder Veranstaltungsbereich. Hier sind bereits einige Hilfsmaßnahmen aufgelegt worden. Generell würde ich sagen, dass wir in Deutschland im internationalen Vergleich schon viel dafür tun, diese Beschäftigtengruppen zu schützen. Wir können zudem auf viele relativ gut etablierte Instrumente wie etwa die Kurzarbeit für Beschäftigte zurückgreifen, die zumindest in den ersten Monaten die Auswirkungen der Krise abfedern können.
Die Frage bei dieser Krise ist: Wie lange wird sie andauern? Wann können wir wieder zu einem normalen Wirtschaftsleben zurückkehren? Dies ist noch mit großer Unsicherheit behaftet. Daraus ergibt sich, dass die Maßnahmen mittel- oder langfristig weiter angepasst werden müssen, da sie auf kürzere Krisen ausgerichtet sind.
Es geht in der öffentlichen Debatte auch um Menschen in "systemrelevanten" Berufen, die weiterhin zur Arbeit gehen. Könnten diese Berufe zukünftig mehr Anerkennung erfahren?
Diese Personen sind besonderen Risiken und Belastungen ausgesetzt. Dadurch verschärfen sich Ungleichheiten, die vielleicht schon vorher bestanden haben, erheblich. Die Arbeitsbelastung und psychische Belastung von Personen, die in Pflegeberufen arbeiten, ist vergleichsweise hoch. Und das verschärft sich durch die Krise.
Die Frage ist: Verstehen wir endlich, wie wichtig diese Berufe sind? Es geht nicht nur um Pflegeberufe, sondern zum Beispiel auch um Kassiererinnen und Kassierer, die sehr viel Kundenkontakt haben. Aktuell wird deutlich, dass diese Berufsgruppen essenzielle gesellschaftliche Funktionen erfüllen, die wir brauchen, damit das Leben selbst unter den aktuellen Einschränkungen halbwegs funktionieren kann. Die Hoffnung ist, dass diese Erfahrung einen gesellschaftlichen Erkenntnis- oder Diskussionsprozess in Gang setzt, und sich die Anerkennung dieser Tätigkeiten, auch die finanzielle Anerkennung, mittelfristig verbessert. Es gibt Anzeichen dafür, dass dies der Fall ist, wenn ich die mediale und politische Diskussion dazu verfolge. Aber das ist im Moment nicht mehr als eine Hoffnung. Wir müssen weiter die Wichtigkeit dieser Berufe betonen, was die Forschung schon seit mehreren Jahren macht, etwa im Zusammenhang mit dem Gender Pay Gap.
Das Leben und Lernen findet aktuell oft zu Hause statt. Inwiefern wirkt sich das auch auf die Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen aus?
Harte empirische Befunde gibt es dazu noch nicht, dafür ist die Krise zu neu. Vor allem aus US-amerikanischen Studien wissen wir aber, dass sich Ungleichheiten in der Kompetenzentwicklung bei Kindern vor allem in den Sommermonaten, in denen keine Schule stattfindet, verstärken. Die Sommermonate sind eine besondere Zeit, in der die Eltern nicht so sehr darauf achten, wie die Kinder ihre Freizeit verbringen.
Jetzt haben wir eine Situation, in der sich die Eltern viel stärker in die Bildungsprozesse ihrer Kinder einbringen müssen und versuchen, die entfallende Tätigkeit der Schule zu ersetzen und auszugleichen. Ich vermute, dass sich die Muster, die wir aus den Sommermonaten kennen, jetzt noch einmal deutlich verstärken, weil sich die hochgebildeten Eltern stärker in die Bildung ihrer Kinder einbringen können als Eltern mit niedriger Bildung. Dazu kommt die Wohnumgebung. Haben die Kinder Möglichkeiten, sich zum Lernen und Bearbeiten ihrer Schulaufgaben zurückzuziehen? Da ist es im Zweifelsfall auch so, dass Kinder aus höheren sozialen Schichten konzentrierter lernen können.
Es gibt leider viele Hinweise aus der existierenden Forschung, dass sich soziale Ungleichheiten im Bildungserfolg und der Kompetenzentwicklung durch die Schließung der Schulen verstärken. Je länger die Krise andauert, je länger die Schulen geschlossen bleiben – wofür es natürlich wichtige Gründe gibt –, umso stärker werden diese Muster ausgeprägt sein, wenn wir nicht entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen.
Was bedeutet die Schulschließung für die Eltern?
Für die Eltern hat das erhebliche Auswirkungen. Man muss zum Beispiel im Hinblick auf den beruflichen Erfolg die Frage stellen, inwiefern langfristig Ungleichheiten dadurch entstehen können, dass Personen, die eine Betreuungsverpflichtung haben, derzeit nicht so produktiv sein können wie andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wenn das mittelfristig zum Beispiel bei Entscheidungen über Beförderungen und Gehaltserhöhungen nicht berücksichtigt wird, kann dies dazu führen, dass die Einkommensschere zwischen Menschen mit und ohne Kind(ern) wächst.
Dabei geht es auch um bewusste oder unbewusste Diskriminierung gegen Eltern, insbesondere gegen Mütter. Es gibt viele Studien, die belegen, dass Mütter benachteiligt werden, wenn es etwa darum geht, zu Jobinterviews eingeladen zu werden. Diese Diskriminierung könnte sich noch einmal deutlich verstärken, weil Arbeitgeber bewusst oder unbewusst sagen: Ok, in der letzten Krise habe ich ja gesehen, auf wen ich mich verlassen konnte, und das waren dann – aus sehr nachvollziehbaren Gründen – eher nicht diejenigen mit Kindern. Ich denke, dieser Art von subtileren Mechanismen, die Ungleichheiten verstärken, muss man ebenfalls entgegenwirken.
Viele soziale Einrichtungen und Auffangmöglichkeiten wie Frauenhäuser oder Tafeln sind geschlossen. Welche Gruppen sehen Sie dadurch besonders gefährdet?
Das sind Gruppen, die schon vor der Krise mit extremen Problemen zu kämpfen hatten. Generell gibt es ein großes Potenzial für eine Verschärfung von Ungleichheiten und häuslicher Gewalt. Aber auch Personen, die psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen haben und jetzt gezwungen sind, längere Zeit unter Umständen alleine in ihrer Wohnung zu verbringen. Obdachlose sind eine weitere ganz zentrale Risikogruppe, zumal der gesundheitliche Ausgangszustand hier oft sehr schlecht ist.
Insofern ist es sehr wichtig, entsprechend zu handeln. Das passiert zum Teil bereits, zum Beispiel durch einen Ausbau von Hilfsangeboten. Es gibt entsprechende Hotlines und Tele-Betreuungsangebote, auch in der Tele-Psychotherapie sind jetzt einige Bedingungen gelockert worden, damit das besser möglich ist. Das sind Maßnahmen, die in die richtige Richtung gehen. Die bestehenden Angebote sollten auch offensiver beworben und entstigmatisiert werden und so niedrigschwellig wie möglich sein. Es kann auch sicher noch mehr getan werden. Ich finde zum Beispiel den Vorschlag bedenkenswert, dass die Hotelbetten, die jetzt nicht gebraucht werden, vielleicht für bedrohte Frauen und Obdachlose genutzt werden können.
Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf das Zusammenleben der Generationen aus?
Intergenerationale Beziehungen, also der Kontakt zwischen Verwandten, Großeltern, Kindern und Enkeln, wird schwieriger. Einsamkeit ist ein ganz wichtiger Risikofaktor sowohl für psychische als auch körperliche Erkrankungen und letztlich auch für die Sterblichkeit von älteren Personen. Es kann durchaus sein, dass gerade für diese Personen mittel- und langfristig noch sehr strenge Kontakteinschränkungen gelten werden.
Da gibt es dringenden Bedarf, sich zu überlegen, wie man erreichen kann, dass diese Personen nicht vereinsamen und immer noch sinnstiftend mit ihren Angehörigen interagieren können. Digitale Technologien könnten hier zumindest ein wenig helfen, zum Beispiel ein regelmäßiger Skype-Chat mit den Enkelkindern. Aber gerade in dieser Altersgruppe fehlt oft die nötige Ausstattung, und die digitalen Kompetenzen sind oft begrenzt. Das wird mittelfristig sehr wichtig, und diesem Aspekt sollten wir mehr Aufmerksamkeit schenken.
Welche Chancen könnten sich aus der Krise ergeben, um soziale Ungleichheiten zu verringern?
Die Krise führt uns sowohl im unmittelbaren Umfeld als auch global vor Augen, wie sehr wir Menschen voneinander abhängig sind, dass meine Handlungen auch unmittelbare Konsequenzen für meine Mitmenschen haben können. Die Hoffnung wäre, dass sich aus dieser Erfahrung so etwas wie eine stärkere Gemeinwohlorientierung, eine Stärkung des Gemeinsinns ergeben wird. Das ist das Positivszenario, und ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass dies langfristige Effekte der Krise sein werden.
Aber ich halte es auch nicht für ausgemacht. Für jedes positive Beispiel wie die Nachbarschaftshilfe, die wir derzeit sehen, gibt es sicherlich auch ein negatives Beispiel wie zunehmende rassistische Übergriffe und Beleidigungen gegenüber Menschen asiatischer Herkunft. Ob sich über Ländergrenzen hinweg eine stärkere Gemeinwohlorientierung entwickelt, ist aus meiner Sicht noch sehr offen. Und da bin ich bestenfalls eingeschränkt optimistisch. Es wird ja immer wieder die Parallele zum Klimawandel betont, wo ja auch kollektives, gemeinwohlorientiertes Handeln im globalen Maßstab erforderlich ist. Aber ob wir wirklich aus dieser Krise alle lernen, dass wir zur Bewältigung solcher großen Probleme an einem Strang ziehen müssen? Das halte ich noch für eine offene Frage.
Das Interview führte Julia Günther für die Bundeszentrale für politische Bildung. Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE" veröffentlicht.