Rezension des aktuellen Buches von Richard Dawkins

Forscher aus Leidenschaft

Das vorliegende Buch ist eines über die Ein- und Ansichten eines Vernunftmenschen und Forschers aus Leidenschaft. Die Rede ist von Richard Dawkins – Evolutionsbiologe, Aufklärer und Religionskritiker.

In seinem 1976 erschienenen Buch "Das egoistische Gen" vertrat er die provozierende These, dass wir allein von unseren von Generation zu Generation weitergegebenen Genen gesteuert werden und dass alle biologischen Organismen vor allem dem Überleben und der Unsterblichkeit der Erbanlagen dienen. Dawkins klärte uns aber darüber auf, dass wir aufgrund der inzwischen gewonnenen Einsichten in den naturgesteuerten Ablauf diesem Gen-Schicksal dennoch nicht hilflos ausgeliefert seien. Spätestens mit dem Erscheinen seines weltweit verbreiteten Buches "Der Gotteswahn" wurde er auch einer großen Öffentlichkeit als vehementer Religionskritiker bekannt. "Der Gotteswahn" ist eine leidenschaftliche Streitschrift gegen das Irrationale, Fortschrittsfeindliche und Zerstörerische der Religionen. Dawkins gilt seither als einer der bekanntesten Vertreter des sog. Neuen Atheismus.

Man darf gewiss ohne Übertreibung sagen, dass Richard Dawkins einer der einflussreichsten gegenwärtigen Intellektuellen ist. Nach einer sehr fruchtbaren Phase als Wissenschaftler und Forscher, die 1967 in Berkeley/USA begann, übernahm er 1995 an der Universität Oxford eine "Professur für die Förderung des Wissenschaftsverständnisses in der Öffentlichkeit" (Professor of the Public Understanding of Science). Eine wohl einmalige Einrichtung in der internationalen Wissenschaftslandschaft, die die Informationsdefizite in der Gesellschaft in Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse beseitigen helfen soll. Diese Kluft an Einsichten besteht zwischen dem wissenschaftlichen und aufgeklärten Denken einer gesellschaftlichen Minderheit und dem durch Unwissen, Aberglauben und kompromissloses Festhalten an religiösen "Wahrheiten" gekennzeichneten Verhalten einer großen Mehrheit. Im Jahr 2008 zog sich Dawkins aus Altersgründen aus dem akademischen Betrieb zurück. Als Vortragender und Autor zu wissenschaftlichen, speziell evolutionsbiologischen, aufklärerischen, religionskritischen sowie politischen Themen ist er dennoch bis heute aktiv geblieben.

Das nachfolgend zu würdigende Buch umfasst 41 Aufsätze und Vorträge aus 40 Jahren wissenschaftlicher und publizistischer Tätigkeit, meist mit aktualisierenden Nachworten versehen, wobei die neueren Texte überwiegen. Die Herausgeberin Gillian Somerscales hat zusammen mit Dawkins die Texte ausgewählt, thematisch gruppiert und jeweils einleitend mit klugen und hilfreichen Kommentierungen versehen.

Teil I ist überschrieben mit: "Wert(e) der Wissenschaft". Im Beitrag "Die Werte der Wissenschaft und die Wissenschaft der Werte" meint Dawkins mit Blick auf die Wissenschaftler: "Grundlage ihres Berufes ist die Überzeugung, dass es so etwas wie eine objektive Wahrheit gibt, die über kulturelle Unterschiede hinausgeht; wenn demnach zwei Wissenschaftler die gleiche Frage stellen, gelangen sie unabhängig von ihren vorgegebenen Überzeugungen, ihrer kulturellen Herkunft und innerhalb gewisser Grenzen auch ihrer Fähigkeiten zu der gleichen Antwort." (S. 31f)

Während Teil I davon handelt, was Wissenschaft ist, befasst sich Teil II: "All ihre gnadenlose Pracht" damit, wie Wissenschaft betrieben wird. Es folgen ausführliche, gut verständliche Betrachtungen zur Wirkungsweise der Evolution, wobei übliche Missverständnisse geduldig geklärt werden. Es schließt sich eine Würdigung des Beitrags von Alfred Russel Wallace, eines Zeitgenossen Darwins, zur Entwicklung der Evolutionstheorie an. Erwähnt wird, dass Darwin und Wallace trotz der brisanten Konkurrenzsituation eine freundschaftliche Beziehung entwickelten. Bei aller Schönheit der Ergebnisse der Evolution macht Dawkins – wie schon in Teil I – darauf aufmerksam, dass Evolution eine höchst "blutige Angelegenheit" ist. "Die läuferische Eleganz von Geparden und Gazellen wurde auf beiden Seiten mit einem gewaltigen Blutzoll und dem Leiden unzähliger Vorfahren erkauft." (S. 44) Neues und angepassteres Leben baut auf dem Töten und Fressen der weniger angepassten und damit unterlegenen Individuen auf. Zahllose Vorläufer beispielsweise von Antilopen oder Gazellen mussten sterben, um heutige Antilopen und Gazellen sich entwickeln zu lassen, die genügend schnell sind, um eine Überlebenschance zu haben, wenn sie von den fleischfressenden Geparden oder Löwen gejagt werden.

Cover

In Teil III: "Bedingte Zukunft" fasziniert Dawkins u. a. die Idee und heutige Realisierung des Internets. Er hat in diesem Zusammenhang die zur Vernetzung unzähliger Computer analoge, aber futuristische Vorstellung, dass die menschliche Gesellschaft sich in ein Individuum verwandeln könnte, wenn wir die Gedanken der anderen mit elektronischer Geschwindigkeit von Gehirn zu Gehirn übertragen und lesen könnten.

Manche Überschriften kommen eher in gewöhnlicher Umgangssprache daher. Teil IV: "Denkverbote, dummes Zeug und Durcheinander". Dahinter verbergen sich dann aber doch sehr lesenswerte Beiträge. U. a. eine brillante Widerlegung des Kreationismus und eine süffisante Abrechnung mit der fragwürdigen "Theologie" von Tsunamis und Naturkatastrophen. Wie überhaupt Humorvolles und Satirisches hinter so mancher Entgegnung wider bronzezeitlich anmutende Wissenschaft und Religion hervorlugt. In einem weiteren Beitrag rechnet er zum wiederholten Mal scharf mit der Religion ab. Dawkins äußert die Ansicht, "dass eine der größten … Bedrohungen – vergleichbar mit dem Pockenvirus, aber schwieriger auszurotten – der Glaube ist." (S. 296) Irritierend mag ein Beitrag wirken, betitelt mit "Atheisten für Jesus". Diese Irritation löst sich aber in überraschender Weise mit Blick auf gewisse Tugenden auf, die nach Meinung Dawkins auch Jesus verkörperte – unabhängig davon, ob er nun gelebt hat oder nur eine mythische Gestalt ist.

Teil V: "Leben in der Wirklichkeit" enthält ein leidenschaftliches Plädoyer für die Tiere, deren Leiden wir oft genug nicht sehen wollen. Es folgt ein Loblied auf die Errungenschaft der Vernunft und ein Aufruf zu ihrer konsequenten Verteidigung. Dawkins konstatiert: "Sapiens bedeutet 'weise', aber dieses Attribut haben wir erst verdient, seit wir aus dem Sumpf des primitiven Aberglaubens und der Leichtgläubigkeit an Übernatürliches herausgekrochen sind und uns Vernunft, Logik, Wissenschaft und evidenzbasierte Wahrheit zu eigen gemacht haben." (S. 342) Die behandelten Themen innerhalb eines Abschnitts erscheinen manchmal willkürlich gewählt, tatsächlich stehen dahinter immer seine ihn leitenden Motive: Begründung durch Wissenschaft, Kampf dem Aberglauben, Verteidigung der Vernunft, ja, auch des "gesunden Menschenverstands".

In Teil VI: "Die heilige Wahrheit der Natur" geht es u. a. um den Wallfahrtsort für jeden Darwinisten: die Galapagos-Inseln. Auch Dawkins zog es dorthin, nennt diese Inseln "natürliche Evolutionswerkstätten" und erläutert uns zum Beispiel die verschlungene Evolution der Riesenschildkröten.

Teil VII: "Lachen über lebende Drachen" soll schließlich deutlich werden lassen, dass Dawkins alles andere ist als ein "humorloser Atheist", so wie ihm und anderen Nichtgläubigen das oft vorgehalten wird. Auf das geistreiche Verspotten versteht sich Dawkins hervorragend. Ob es dabei um das Spendensammeln für den Glauben geht oder um die Abstammung des Menschen – Dawkins zeigt sich hier als Meister der Persiflage. Bei der Frage der Abstammung des Menschen spielt natürlich auch wieder die Evolution eine Rolle. In einem fiktiven Gespräch fallen die folgenden Formulierungen, wobei die letzten fünf Wörter die bisher kürzeste und prägnanteste Form der Darstellung der Evolutionstheorie darstellen, die ich je gelesen habe: "Mutation, Sir, ist insofern zufällig, da sie keine Vorliebe in Richtung der Verbesserung hat. Selektion dagegen legt das Schwergewicht automatisch auf Verbesserung, wobei Verbesserung eine bessere Überlebensfähigkeit bedeutet. Man könnte fast ein Sprichwort prägen, Sir, und sagen: 'Mutation schlägt vor, Selektion entscheidet.'" (S. 412)

Den letzten Abschnitt, Teil VIII: "Kein Mensch ist eine Insel" widmet Dawkins Menschen, die er sehr geschätzt hat. In diesem Teil ragt besonders heraus die Rede, die Dawkins 2011 anlässlich der Verleihung des Richard Dawkins Award an den damals schon sterbenskranken Christopher Hitchens hielt. Hitchens ist einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden durch sein religionskritisches Buch "Der Herr ist kein Hirte". Die Herausgeberin Gillian Somerscales vermerkt in ihrem einleitenden Kommentar zu dieser Rede anlässlich der Preisverleihung an Hitchens gleichzeitig über Dawkins: "Es ist eine eigenartige, aber durchaus passende Ironie des Schicksals, dass vieles von dem Lob, das er Hitchens zollt, mit ebenso großer Rechtfertigung auch ihm selbst gezollt werden könnte: 'der führende Kopf und Gelehrte unserer atheistisch/säkularen Bewegung', ein 'sanft ermutigender Freund der Jungen, der Zaghaften', gleichermaßen fähig zu 'durchdringender Logik', 'schneidendem Witz' und 'Mutig-Unkonventionellem'. Kein Wunder, dass sie Seelenverwandte waren." (S. 433 f.)

Was bleibt abschließend zu sagen? Der Name Dawkins ist Programm und Garantie für Erkenntnisgewinn, Aufklärung und Lesegenuss. Die ausgewählten Texte eines "Forschers und Vernunftmenschen" sind höchst informativ, voller Argumente, gelegentlich von fast polemischer Schärfe, unterhaltsam und oft mit Humor und Süffisanz gewürzt. Man kann bei der Lektüre bei einem intellektuellen, klugen und gesellschaftlich engagierten Kopf gewissermaßen hospitieren und ihn bei seiner Art zu denken und zu argumentieren beobachten. Ein umfangreicher Anmerkungsteil mit Quellen und Literaturverzeichnis runden das reiche Informationsangebot ab. Nicht nur Dawkins-Anhänger und -Bewunderer werden auf ihre Kosten kommen. Wären Punkte zu vergeben, würde ich ohne Zögern für maximale Punktzahl plädieren.

Richard Dawkins: Forscher aus Leidenschaft – Gedanken eines Vernunftmenschen. Ullstein Verlag Berlin, 2018, 524 S., ISBN-13 9783550050268, 26,00 Euro

Siehe auch das Interview mit Richard Dawkins, das der hpd exklusiv mit ihm führen durfte.

Uwe Lehnert ist Autor des jetzt in 7., vollständig überarbeiteter Auflage erschienenen Buches: Warum ich kein Christ sein will – Mein Weg vom christlichen Glauben zu einer naturalistisch-humanistischen Weltanschauung", Tectum Wissenschaftsverlag, Baden-Baden, 2018; 19,95 Euro.