Zehn Jahre nach dem Missbrauchsskandal von 2010 ist klar, dass die deutschen Bischöfe nur auf öffentlichen Druck reagieren. Aber wo soll dieser Druck herkommen, wenn die deutschen Kirchenredaktionen von Theologen dominiert werden, sich immer wieder als inkompetent und unkritisch erweisen und von der Kirche an der Nase herumgeführt werden?
Die rückdatierten "Cut & Paste"-Missbrauchsbestimmungen
Als Ende Januar, Anfang Februar 2010 der Missbrauchsskandal losbrach, beeilten sich der damalige Hildesheimer Bischof Norbert Trelle und sein Missbrauchsbeauftragter Heinz-Günter Bongartz, zu erklären, Bischof Trelle hätte "zum 1. Januar 2010" Ausführungsbestimmungen zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch "in Kraft gesetzt". Unter anderem in einem "Wort des Bischofs", "zu verlesen in den Gottesdiensten am Sonntag, dem 7. Februar 2010, und in den jeweiligen Vorabendmessen", und in einem Brief an "die Priester und Diakone und an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gemeinden, Einrichtungen, Schulen und der Caritas im Bistum Hildesheim".
Man stelle sich vor, dieses bemerkenswerte Timing hätte einen einzigen Journalisten stutzig gemacht: Sieben Jahre lang hatte das Bistum Hildesheim keine Ausführungsbestimmungen zu den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz von 2002 erlassen. Doch just vor dem Missbrauchsskandal sollten sie nun in Kraft gesetzt worden sein?
Man stelle sich vor, der Journalist hätte einen Blick in die Ausführungsbestimmungen geworfen. Er hätte sofort gesehen, dass sie keineswegs vor dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals in Kraft traten, sondern erst danach.
Es wäre sofort klar gewesen, dass Trelle und Bongartz die Öffentlichkeit belogen hatten: Um den Eindruck zu vermitteln, sie seien bereits vor dem Bekanntwerden des Skandals tätig geworden, hatten sie offenbar hastig per Copy & Paste die Ausführungsbestimmungen des Bistums Aachen auf ihr Bistum umgemünzt und auf den 1. Januar rückdatiert. Da derartige Bestimmungen aber erst mit ihrer Veröffentlichung im Bistumsanzeiger in Kraft treten, konnten Trelle und Bongartz nur das "Unterschriftsdatum" rückdatieren, nicht das Datum des Inkrafttretens.
Eine der ersten Reaktionen von Bischof Trelle und seinem Missbrauchsbeauftragten auf das Bekanntwerden des Missbrauchsskandals bestand also offenbar darin, noch schnell Ausführungsbestimmungen zusammenzuschustern und rückzudatieren, um den Eindruck zu erwecken, sie seien bereits vor dem Bekanntwerden der Vorwürfe tätig geworden. Während Bischof Trelle sich öffentlich "schamerfüllt" gab, den Vertrauensverlust beklagte und erklärte, "Offenheit und Klarheit sind nun entscheidend", führten er und sein Missbrauchsbeauftragter die Öffentlichkeit schamlos weiter an der Nase herum.
Man stelle sich vor, einem Journalisten wäre dies aufgefallen, und die Öffentlichkeit hätte davon erfahren. Denkbar, dass Trelle und Bongartz zum Rücktritt gedrängt worden wären. Zumindest wäre ein Signal gesetzt worden, dass die Äußerungen von Bischöfen und Missbrauchsbeauftragten nicht einfach unkritisch weiterverbreitet werden. Vielleicht wären sogar Missbräuche verhindert worden – denn Trelle und Bongartz ließen einen bereits auffällig gewordenen Priester weiter gewähren – bis die Polizei ihn im Juli 2011 festnahm, als er gerade mit Jugendlichen nach Taizé reisen wollte. Der Priester wurde später wegen 250-fachen Missbrauchs verurteilt.
Wären Bischof Trelle und sein Missbrauchsbeauftragter Bongartz für ihre Täuschungsmanöver verantwortlich gemacht worden, wäre dieser Priester vielleicht schneller aus dem Verkehr gezogen worden. So konnte er bis 2011 weiter mit Kindern und Jugendlichen tätig sein – und sogar einen Luxus-Urlaub mit einem seiner Opfer buchen.
Der Erzbischof, der nicht zuständig sein wollte
Ein weiteres Beispiel: Nachdem der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, im Mai 2010 von einem Missbrauchsopfer wegen Beihilfe angezeigt worden war, ließ er sich attestieren, für den Fall gar nicht zuständig zu sein. Nicht nur von seiner eigenen Pressestelle, sondern auch von zwei Kirchenrechtlern aus seiner Kirchenprovinz. Vielmehr seien Zisterzienser aus einer österreichischen Territorialabtei zuständig. "Eine solche Gebietsabtei gehört zu keinem Bistum und ist vollständig unabhängig vom Diözesanbischof." Qualitätsmedien wie die ZEIT, die WELT und der STERN verbreiteten entsprechende dpa-Meldungen.
Man stelle sich vor, die umständliche Erklärung mit der Territorialabtei hätte einen einzigen Journalisten stutzig gemacht. Per Internetsuche hätte er schnell herausfinden können, dass die Seelsorgeeinheit nicht nur zu Zollitschs Bistum gehört, sondern dass Zollitsch höchstpersönlich die Seelsorge den Ordensgeistlichen aus der Territorialabtei übertragen hatte.
Ein Blick in die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz von 2002 wiederum hätte gleich unter Punkt I.1. gezeigt: "Die Zuständigkeit für die Prüfung von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Ordensleute, die unter Gestellung in bischöflichem Auftrag tätig sind, liegt – unbeschadet der Verantwortung der Ordensoberen – bei der Diözese."
Das Erzbistum Freiburg hatte nicht nur die Öffentlichkeit getäuscht – sondern auch seine eigenen Kirchenrechtler. Nachdem der SPIEGEL und die Badische Zeitung meine diesbezüglichen Recherchen aufgegriffen hatten, widerrief einer der beiden, Prof. Bier, die Erklärung, die er zu Zollitschs Entlastung abgegeben hatte.
Immerhin: Der SPIEGEL erwähnte, dass Zollitsch doch zuständig war, und meinte, der Fall "wirft Fragen auf". Auch die Badische Zeitung aus Freiburg fragte: Hat der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch im Missbrauchsfall Birnau gegen die Anti-Missbrauchsrichtlinien der Deutschen Bischofskonferenz verstoßen? und berichtete, dass Professor Bier seine Erklärung zur Entlastung von Zollitsch widerrief.
Aber das wurde von keinem "Qualitätsmedium" aufgenommen. Auch nicht von denen, die zuvor die dpa-Meldungen mit den irreführenden Darstellungen des Bistums und der Kirchenrechtler verbreitet hatten.
Der Eindruck liegt nahe, dass Zollitsch seine eigenen Kirchenrechtler ins Messer laufen ließ, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Aber dazu hätte ja ein "Messer" – sorgfältiger Journalismus – existieren müssen. Beim Erzbistum Freiburg ging man (wie schon beim Bistum Hildesheim) offenbar davon aus, dass das Risiko, entdeckt zu werden und zur Verantwortung gezogen zu werden, sehr gering war. Und mit dieser Einschätzung hatte das Bistum Recht.
Man stelle sich vor, die breite Öffentlichkeit hätte im Juni 2010 erfahren, dass der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch Kirchenrechtler täuschte, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Denkbar, dass Robert Zollitsch zum Rücktritt gedrängt worden wäre. Zumindest wäre ein Signal gesetzt worden, dass die deutschen Medien wenigstens die dreistesten Täuschungsmanöver durchschauen und publik machen.
Aber so war es natürlich nicht. Und so beklagen derzeit Journalisten allenthalben, dass in den 10 Jahren seit dem Bekanntwerden der massenhaften Missbräuche viel zu wenig Fortschritte erzielt wurden. Sie sollten sich auch an die eigene Nase packen: Mittlerweile ist klar, dass die Bischöfe nur auf öffentlichen Druck reagieren. Aber wo soll dieser Druck herkommen, wenn Journalisten kirchliche Statements regelmäßig unkritisch und ungeprüft weiterverbreiten? Wenn Kritik erst geäußert wird, wenn sie so offensichtlich ist, dass man dazu keine Journalisten mehr braucht?
Wird fortgesetzt
7 Kommentare
Kommentare
Wolfgang am Permanenter Link
Das Ungeheuer Kirche hat doch schon tausende von Jahren auf dem Kreuz: Inquisition,
Hexenverfolgung, Vernichtung der Indianer, Vernichtung der Juden, Missbräuche aller Art,
Aber die Kirchen haben einen Verbündeten: die Dummheit und die ist bekanntlich nicht heilbar.
Lügen haben kurze Beine, bekannt. Damit es nicht erkannt wird, tragen die Theo-logen lange Gewänder!
A.S. am Permanenter Link
Religion ist Menschenverarsche in ganz, ganz großem Stil. Professionell gemacht, bestens organisiert, mit dem deutschen Staat und den "Qualitätsmedien" verfilzt.
Und diese Menschenverarscher beraten Parlament und Regierung in Moralfragen?
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Man stelle sich vor ..." - tja, so läuft das (oder eben nicht).
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Lügen, Betrügen, Vertuschen, alles wie eh und je, es hat sich nichts geändert und mit unserer "Regierung" wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern, auch unsere Gerichte sind im ahnden derartiger Sch
nicht sein darf, also Hände weg von unseren "heiligen" Priestern, denn wir sind ja so christlich, wie man schon an unserem Parteilogo sehen kann CDU-CSU, aber diese Gesinnung ist vermutlich Parteiübergreifend.
Roland Weber am Permanenter Link
Anerkennenswert ist sicherlich die Mühe, die sich der Autor mit dieser Zusammenstellung gibt. Der Titel "Wenn Journalisten ihren Job gemacht hätten" ist nur ein Nebenaspekt.
Offenbar wird in der Politik, der Öffentlichkeit und den Medien gar nicht erkannt (und offensichtlich gewollt nicht erkannt), dass es sich bei Kindesmissbrauch um Offizialdelikte handelt, die von "Staats" und "Amts wegen" zu verfolgen sind. Man tut offenbar so, als käme es auf Anzeigen der Opfer oder gar Anzeigen durch Kirchenvertreter an. Falsch gedacht: Auch bei einem Mord darf kein Staatsorgan warten, bis das Opfer (! - wohl durchaus vergleichbar mit schwersten Persönlichkeitstaumata!) oder Verwandte Anzeige erstatten. Niemand muss bei Offizialdelikten einen Verdacht oder gar den Namen eines Täters anzeigen.
Wer informiert eigentlich einmal, dass auch anonyme Anzeigen ausreichen würden, um Ermittlungsdruck aufzubauen? Oder wo machen "Jouralisten ihren Job", indem sie einmal den Untätigkeiten der Polizei oder der Staatsanwaltschaften nachgehen? Solange diesen nichts bekannt wird und das Gegenteil nicht zu beweisen ist, kann man lange auf Ermittlungen warten. Vor allem sollte man nicht denken, dass es nur um "alte Vorkommnisse" gehe. Solange ein Zölibat besteht, bleibt die Risikostufe hoch.
Solange die "gutgläubigen" (sonst wären sie erst gar nicht in diese Situationen hineingeraten) Opfer (Kinder und vor allem Eltern!) anscheinend meinen, es bedürfte einer kirchlichen Genehmigung samt Offenbarung, damit etwas passiert, wird nichts Entscheidendes passieren.
Die historisch zum Teil erkämpfte Trennung von Staat und Kirche heißt nicht, dass die Strafkompetenzen bei Kirchenpersonla bei den Kirche verblieben sind. Kurz: Staatsrecht geht vor Kirchenrecht - wenn es keine Glaubensangelegenheiten betrifft.
Dass ein Jesus allen einen Mühlstein umhängen und sie ersäufen wollte, die sich an Kindern vergreifen, sollte man auch beachten - und sich über den Glauben der Täter Gedanken machen.
A.S. am Permanenter Link
Wieviele Journalisten werden ich kirchlichen oder kirchennahen Journalistenschulen ausgebildet?
Studiengang an der katholischen Hochschule Eichstätt, Evangelische Journalistenschule in Berlin, Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses (ifp) in München, ...
Martin Franck am Permanenter Link
Der Autor Matthias Krause hat recht, daß es einen kirchenkritischen Qualitätsjournalismus kaum gibt. Ein Lob auch für diesen und weitere kirchenkritische Artikel.
Wenn es irgendwelche Taufscheinchristen gibt, die denken, daß mit der Kirchensteuer gute Dinge finanziert werden, dann muß man auch sagen, daß damit Lobbyismus finanziert wird.
Ich denke, es wird nicht ausreichend, wenn es um Kirchenfinanzen geht, argumentiert, daß damit der Demokratie geschadet wird. Irgendwie ist das öffentliche Bild immer noch sehr davon geprägt, daß Religion als etwas Positives gesehen wird, und Kirche zwar manche einzelne Mitglieder hat, die ganz menschlich fehlen, aber prinzipiell gute Absichten habe.
Sobald Religion mehr ist als eine Anregung, wie verschiedenste Leute über bestimmte Dinge gedacht haben, sondern als ein Weg, der Antworten bieten könnte, ist sie schädlich.
Kirche ist primär und zuvorderst ein Machtapparat, und dann kommt erst einmal lange Zeit nichts.
Leider geht es nur, indem man immer wieder darauf hinweist, daß es eben kein Problem Einzelner ist, sondern daß es ein Systemfehler ist. Man muß also immer wieder den Finger in die Wunde legen, und darauf hinweisen, daß all diese Dinge eben keine Einzelfälle sind, sondern strukturell bedingt sind.
Allerdings glaube ich nicht, daß mit mehr Medienpräsenz schon früher die Stimmung gekippt hätte. Wer es wissen wollte, hätte es wissen können. Die meisten Leute interessieren sich einfach nicht dafür. Das geht irgendwo zwischen einer Casting-Show und einem Tweet von Trump unter.
Ich sehe allerdings einen Silberstreif am Horizont. Seit der MHG-Studie ist die Stimmung etwas gekippt. Auch werden bald die Hälfte der Bundesbürger konfessionsfrei sein. Die Kirchenaustrittszahlen in NRW sind von 88.510 auf 120.188, also um mehr als 35 % gestiegen.