Anmerkungen zur Verleihung des Berliner Literaturpreises 2020

Von Thomas Meinecke über Adorno nach Amorbach

Der Berliner Literaturpreis 2020 wurde am vergangenen Montag im Berliner Rathaus an Thomas Meinecke verliehen. Die Stiftung Preußische Seehandlung nannte für ihre Entscheidung die thematische und literarische Vielfältigkeit des Schriftstellers.

Dass Thomas Meinecke den Berliner Literaturpreis in diesem Jahr erhalten soll, war ja schon seit längerem bekannt. Der Initiator dieser und anderer Preise für Personen aus dem Kulturleben ist die Stiftung Preußische Seehandlung, eine Stiftung des Landes Berlin zur Förderung von Kultur und Wissenschaft in und für Berlin. Vorsitzender des Rates ist im Moment der Regierende Bürgermeister, Michael Müller, der in seiner Rede Bezug direkt auf Meinecke nahm: Berlin sei ebenso wie Meineckes Texte "schnell, flüchtig, belebend und inspirierend", beide böten "immer neue, spannende und anregende Erfahrungen".

Es gab schon viele Preisträger seit 1989, dem ersten Jahr der Preisvergabe, der erste der Geehrten war damals Volker Braun. Einer der nächsten 1992, Christoph Hein, war im Übrigen vorige Woche bei Meineckes Preisveranstaltung auch anwesend – sowie viele im Literaturbetrieb Arbeitende. Es erinnerte fast an einen Klassenausflug der Literatur wie in Klagenfurt, nur dass diesmal die Literatur des Lesenden nicht juriert wurde.

Dieser Berliner Literaturpreis wurde anfangs alle zwei Jahre vergeben für einzelne Autorinnen und Autoren, nach der Verleihung von 1998 allerdings ausgesetzt. Seit 2005 wird die Auszeichnung nach einem neuen Konzept verliehen: es wird das bisherige Gesamtwerk eines deutschen Schriftstellers gewürdigt. Der Preis wird nicht nur mit 30.000 Euro dotiert, er ist auch verbunden mit einer Berufung auf eine Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik beim Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichenden Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin, ein Forum für Studenten zur Textbearbeitung.

Thomas Meinecke, in Hamburg 1955 geboren, wohnt seit Jahrzehnten in Bayern, er ist in einer beeindruckenden Gesellschaft von vielen namhaften Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die – man möge mir das verzeihen – zwar nicht mit populären Bestsellern aufgewartet haben, dafür aber mit eindringlichen Büchern die Literaturlandschaft nachhaltig geprägt haben:

Bisherige Preisträger, nach dem neuen Konzept, waren zum Beispiel Herta Müller, Durs Grünbein, Ilija Trojanow, Ulrich Peltzer, Dea Loher, Sibylle Lewitscharoff, Thomas Lehr, Rainald Goetz, Lukas Bärfuss, Hans Joachim Schädlich.

Meinecke, der diesjährige Preisträger, hat eine interessante Vita aufzuweisen – die in seinem Schreiben in ständiger Reflexion zu sich selber steht. "Ich will mir beim Schreiben nichts ausdenken, das Leben und die Literatur sind meine Inspiration." In seinem vorgetragenen Lesebeitrag am Ende der Veranstaltung zu seinen Ehren trug er einen Ausschnitt aus einem Fragment zum nächsten Roman vor. Er hinterfragt immer. Auch indem er sich selber einbringt.

Er schreibt Kolumnen, ist DJ beim bayrischen Rundfunk ("Zündfunk Nachtmix") und vor allem ein vielfach ausgezeichneter Autor von vielen Romanen und Essays: "Holz", "The Church of John F. Kennedy","Tomboy", "Hellblau", "Musik", "Jungfrau", "Lookalikes" und "Selbst". Er hat viele Preise erhalten, ist zum Beispiel mit dem "Düsseldorfer Literaturpreis", dem Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst und vielen anderen Preisen ausgezeichnet worden. Nicht zuletzt ist er Musiker und Texter der 1980 von ihm begründeten Band "F.S.K.". Von 1978 bis 1986 war er zudem Mitherausgeber der Avantgarde-Zeitschrift "Mode & Verzweiflung", zwischen 2007 bis 2013 Kolumnist für das Berliner Magazin "Groove", die "ZEIT" –  um nur einige Werke und Stationen zu benennen.

In der Begründung der Stiftung für den diesjährigen Preisträger wird auf die Vielfältigkeit beim Schreiben des Schriftstellers Meinecke Bezug genommen, so heißt es unter anderem:

Mit Thomas Meinecke ehrt die Preisjury einen Autor, der nach eigenem Bekunden schreibt, worüber alle reden. Seine Romane und Erzählungen verhandeln ein breites Spektrum, das von aktuellen politischen Debatten über Gender-Diskussionen bis hin zu Identitätskonstruktionen reicht. Es geht um Inter- und Transsexualität, um Queerness, um popkulturelle Selbstentwürfe und um Formen von Uneigentlichkeit, die in die 'normale' Lebenswelt eindringen und sie erweitern. Thomas Meinecke hat den Diskursroman als erzählerischen Theorieessay neu begründet. Seine montierten und gesampelten Texte eröffnen einen Zugang zu popkulturellen Theorien, zitieren klassisch-akademische Sprechweisen und verwenden dabei eine Fülle von Anekdoten und historischen Reminiszenzen. Den Erzählgang dynamisiert Meinecke durch geschickt gesetzte Schnitte – was nicht zuletzt auch dem Handwerkszeug des DJs und Musikers entspricht.

Die Begründung für diese Preisvergabe sei deshalb so ausführlich zitiert, weil sie den nachhaltigen Eindruck der Literatur Meineckes widerspiegelt, der schon in seinem ersten Roman "Tomboy" "ein bizarres Kabinett der gender troubles" (1998) skizziert  – Tomboys sind kleine Mädchen, die lieber große Jungen sein wollen. Auch das neue Werk zeitigt die Nähe zum mythendurchzogenen Odenwald, seiner Historie von Räubern und Landkommunen. Historisch und literarisch sei die Gegend ein "inspirierender Ort" für ihn, etwa als Schauplatz des Nibelungenliedes, aber auch als Feriendomizil der Familie Adornos, Amorbach. Für das neue Romanprojekt hat er selbst eine Zeit lang dort recherchiert und geschrieben. Warum? Weil Theodor W. Adorno damals in Amorbach seinen Sehnsuchtsort fand. Der Autor Meinecke selbst tritt in seinem Roman in einen realen Dialog mit Martin Keller, dem eine Romanfigur gewidmet ist, einem Nachfahren enteigneter Waldbauern, die als Räuber – als Märchenfiguren – fortleben mussten.

Barbara Vinken, Literaturprofessorin an der Münchener Universität, hielt eine sehr interessante Laudatio auf den Preisträger, indem sie auch Persönliches aus dem eigenen Kennenlernen mit der Literatur Meineckes und seiner Person mit den vielfach verbundenen literarischen Ebenen, die Meinecke anwendet, verband. Sie lobte Meinecke als Schriftsteller, der "ein absolutes Gehör für Theorien" habe – und sie zeigte sich verblüfft über das "geradezu irre Weltwissen", mit dem Meinecke in seinen Büchern aufwarte. Und sich selbst habe sie in einem seiner Bücher wiedergefunden, bevor sie ihn überhaupt kennengelernt habe. 

Der Bezug zu Theodor W. Adorno ist fulminant. Die Beschäftigung mit diesem Philosophen, Schriftsteller und Komponisten hat Meinecke geprägt – wie er in seiner Dankesrede nach der Preisverleihung andeutete und den eigenen Bezug zu ihm fragmentarisch vortrug. Den meisten Zeitgenossen ist Adorno ja als Theoretiker, Buchautor oder Mitinitiator der Frankfurter Schule, mit Horkheimer zusammen, bekannt, als Komponist eher nicht. Deswegen war es eine Überraschung, ihn mit einem musikalischem Werk zu erleben und gleichzeitig als Quelle für Meineckes Romanprojekt: In der Feierstunde zur Überreichung des Preises, zu dem natürlich auch immer eine feierliche Musikaufführung gehört, hat der Preisträger mitwirken können, sodass von Adornos Komposition "Sechs Studien für Streichquartett" vom "Kairos Quartett" zu Gehör gebracht wurden, komponiert von Adorno 1920 – der war damals gerade siebzehn Jahre alt. 

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