Rezension

Vom Urknall zum Gottesmythos

In diesem Buch geht es um Weltbilder, vor allem um das jenseitsbezogene transzendentale und das diesseitige säkulare. Diese zwei sich widersprechenden Weltbilder werden bis in die Feinstruktur hinsichtlich ihrer Unterschiede und auch überraschenden Übereinstimmungen analysiert und kommentiert. Es handelt sich also um eine theologische und philosophische, speziell um eine weltanschauliche Thematik, die zufälligerweise zudem einen ganz aktuellen Bezug aufweist.

Nun mag man sich angesichts der momentanen, durch einen Virus beherrschten Situation fragen, ob derzeit der geeignete Zeitpunkt ist, mit scheinbar lebensfernen Fragen dieser Art sich beschäftigen zu wollen? Gilt zur Stunde unsere Sorge doch zuallererst dem Schutz vor der Infektion und damit um unsere und unserer Angehörigen Existenz.

Die Zeit scheint stehen zu bleiben und sehr viele von uns sind zum Innehalten verurteilt, zu einer von "höherer Gewalt" erzwungenen Pause in unserem täglichen Treiben. In früheren Zeiten wussten religiöse Prediger solche Epidemien als Strafe Gottes zu deuten. Auch heute meinen manche Bischöfe, Hilfe nur von "ganz oben" zu erhalten und selbst der bayerische Ministerpräsident Söder ruft zum gemeinsamen Gebet gegen den Virus auf. Sie leiten Mahnung und Hoffnung ab aus ihrem Verständnis von Gott und der Welt und dem darin gründenden Sinn des Lebens.

Damit wären wir wieder bei den Weltbildern. Ich möchte damit andeuten, dass es sich beim vorliegenden Buch zugleich um eine Schrift mit aktueller Thematik handelt.

Cover

Bei vorliegendem kleinem Taschenbuch handelt es sich um eine gehaltvolle, aber auch dem philosophischen und theologischen Laien gut verständliche Schrift von knapp hundert Seiten. Angesichts der auf uns täglich einströmenden Flut von Informationen ist das geradezu eine Wohltat zu nennen, ist doch der Text an zwei Nachmittagen leicht zu bewältigen. Der Leser erhält einen überraschend umfangreichen Einblick, wie Weltbilder entstehen und wie weitgehend sie unser ganz persönliches und darüber hinaus das gesellschaftliche und politische Leben bestimmen.

In einem einleitenden Kapitel fasst der Autor Mythen, Religionen, Ideologien oder Narrative unter dem Begriff "Utopie" zusammen und stellt fest, dass allen Utopien die Auffassung gemeinsam ist, "dass die Welt so nicht sein dürfte, dass eine 'andere', 'bessere', womöglich 'höhere' Welt möglich sei." Um zu verstehen, was die Bedeutung von Utopien ist und was letztlich wiederum ihr Scheitern ausmacht, stellt er drei Fragen, grundlegende Fragen, die den nachdenkenden Menschen umtreiben, solange er schon über sich und die Welt reflektiert: "Was ist die Welt, was ist der Mensch? Was darf ich erwarten? Was soll ich tun?" Die Antworten auf diese drei klassischen Fragen bilden die drei tragenden Kapitel des Buches und widmen sich den drei Elementen jeder Utopie: der Welterklärung, dem Zukunftsversprechen und der Moral.

Im Kapitel "Was ist die Welt, was ist der Mensch?" stellt sich das Problem des Anfangs der Welt. Hatte da jemand seine Hand im Spiel, fragt der Autor. Es sei legitim, sich über Sinn, Grund und Ziel der Entwicklung des Universums Gedanken zu machen. Die mythischen Erzählungen geben darauf eine Antwort. Die moderne Naturwissenschaft dagegen verzichtet auf die "letzten" Fragen nach dem Woher, Wohin oder Warum. Sie stellt allerdings präzise Überlegungen an, wie alles entstand und sich bis heute entwickelte. Was sind die treibenden Kräfte der permanenten Entwicklung? Die Denkfigur der "polaren Gegensätze" nimmt nach Überzeugung des Autors eine tragende Rolle zur Erklärung und Deutung des Geschehens ein. Als Beispiele für Polaritäten seien etwa genannt: helle und dunkle Materie, Teilchen und Anti-Teilchen, in der Biologie die sexuelle Polarität, bei den Emotionen Freude und Trauer. Polarität ist die Ursache aller Differenz, die ihrerseits wiederum nach Ausgleich sucht und dadurch Bewegung erzeugt. Polarität – so der Autor – ist der Generalschlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit.

Im Kapitel "Was darf ich erwarten?" stellt der Autor die Frage, wie der Mensch mit den negativen Erscheinungen der Wirklichkeit umgeht. Worin liegt der Unterschied in den Antworten der säkularen beziehungsweise der transzendenten Weltbilder? Gibt es bei aller Unterschiedlichkeit doch heimliche Übereinstimmungen? Neben Naturkatastrophen und menschengemachten Grausamkeiten ist es die naturgegebene Hinfälligkeit des Menschen, die stets zum sicheren Tod führt. Worin liegen Trost und Hilfe der transzendenten beziehungsweise andererseits der säkularen Utopien? Hinzu kommen die Zufälligkeiten des Lebens. Das unheilschwangere Wort vom Schicksal erinnert daran, dass wir eben nicht alles in der Hand haben. Philosophie, Soziologie, auch die Evolutionstheorie, rechnen mit der prinzipiellen Offenheit der Zukunft und der damit verbundenen Ungewissheit. Auch unsere eigene Zukunft liegt immer auch in der Hand des Zufalls.

Auch hier zeigt sich der aktuelle Bezug dieser kleinen Schrift. Keiner unserer Futurologen hat dieses einschneidende, unser Leben vollständig verändernde Aufkommen einer Pandemie vorhergesagt, vorhersagen können.

Die Theologen aller Schattierungen verweisen hier auf Gottes Willen, sprechen mit Verheißungen Mut zu und malen tröstende Bilder vom Paradies. Die Naturwissenschaften und die aus ihr hervorgegangenen Technologien dagegen können inzwischen wesentliche, Not wendende Beiträge zur Bekämpfung von Hunger, von Krankheiten und Schmerzen und zur Bändigung von Naturkatastrophen vorweisen. Dort, wo transzendente Weltbilder das Verhalten der Menschen und damit deren Lebensverhältnisse bestimmen, lebt die weit überwiegende Zahl dieser Menschen hinsichtlich ihrer Lebensqualität noch im Mittelalter.

Stiften Utopien bei aller berechtigten Kritik am Detail vielleicht doch mehr Nutzen als nur enttäuschende bis schädliche Illusionen? Der Tod als unser aller Schicksal ist zwar nicht überwunden, aber er kann immer weiter hinausgezögert werden. Der Mensch ist nicht Gott, aber er ist im Begriff, sich seine ihm attestierten Fähigkeiten schrittweise anzueignen. Der polare Gegensatz von transzendenten und säkularen Weltbildern drückt sich offenbar darin aus, dass nicht alle Menschen sich mit den natürlichen Gegebenheiten abfinden wollen. Dennoch scheint die Skepsis des Autors bezüglich Wirkung und Erfolg der säkularen Weltbilder zu überwiegen. Was aber vernünftigerweise bleibt – so der Autor – ist die Suche nach dem Bestmöglichen.

Das letzte große Kapitel fragt "Was soll ich tun?" Moral – so der Autor – ist der dritte große Stützpfeiler einer jeden Utopie beziehungsweise eines jeden Weltbildes. Moral steuert unser soziales Verhalten. Aber woher kommt die Moral? Haben die Götter sie den Menschen verordnet oder entstand sie evolutionär? Kann der Mensch Schuld auf sich laden oder ist der Begriff der Schuld obsolet mangels der Freiheit unseres Willens, sich "frei" für das Gute und gegen das Böse zu entscheiden? Ohne Schuldfähigkeit des Menschen wäre der Opfertod des Jesus von Nazareth zwecks Vergebung der Sünden sinnlos, stellt der Autor zu Recht fest. Der Autor selbst ist überzeugt, wie die überwiegende Mehrheit der Hirnforscher, dass es keine Willensfreiheit gäbe. Er wird aber wenige Zeilen später insofern inkonsequent, als er dem Bewusstsein die Rolle eines doch partiell frei entscheidenden Mitspielers im Entscheidungsprozess zubilligt. Kann das stimmen? Ist doch das Bewusstsein nur jene Instanz, die uns den Prozess der Entscheidungsbildung über falsch und richtig, gut und böse, erwünscht oder unerwünscht gewahr werden lässt, es entscheidet nicht.

Wir fügen erklärend nach unserem Verständnis an: Tatsächlich führt unser Gehirn den Entscheidungsprozess aus. Dieser wiederum ist determiniert durch meine gesamte Persönlichkeit, festgelegt nämlich durch genetische Ausstattung, frühkindliche Prägungen, Erziehung (beziehungsweise fehlende Erziehung!), kulturelle Einbindung, Erfahrungen und aktuelle Reize, zu denen auch Befehle, Wünsche und Begründungen anderer zählen können. Dabei spielen ferner auch die individuell unterschiedlich entwickelten intellektuellen Fähigkeiten des Einschätzens, Abwägens und Schlussfolgerns, die bei einer Entscheidung mitwirken, eine wichtige Rolle. Alle im Kopf beteiligten Instanzen, Prozesse und Faktoren wirken zusammen – überwiegend unbewusst und dadurch unserer bewussten Beobachtung entzogen – und determinieren schließlich eine Entscheidung. Aber auch die "bewusste" Überlegung ist determiniert durch alle oben aufgeführten Determinanten. Nicht "ich" – ein Begriff, der Eigenständigkeit und Freiheit vortäuscht – entscheidet, mein Gehirn entscheidet, "ich" bin wesentlich mein Gehirn.

Diese in den Augen des Rezensenten vergleichsweise unbedeutende Inkonsequenz mindert den Gehalt dieses Büchleins jedoch nicht im Geringsten.

Im abschließenden Kapitel resümiert der Autor, dass die Religionen erodieren, dass seiner Meinung nach aber die säkularen humanistischen Gegenentwürfe eher elitär, leicht altertümelnd und nicht gerade attraktiv wirken würden. Gründe des Verfalls des christlichen Glaubens hat der Autor als ehemaliger Jesuit schon vor längerer Zeit zusammengetragen in seinem – ebenfalls auf diesen Seiten besprochenen – Buch: "Christentum adieu! Das leise Sterben eines Mythos". Dass säkulare Gegenentwürfe noch der Attraktivität ermangeln, mag – so mutmaßt der Rezensent – der Zeit geschuldet sein, die bisher nicht ausgereicht hat, menschengemäße wie zeitgemäße Alternativen zu formulieren und sich bewähren zu lassen. Religiöse Entwürfe dagegen sind schließlich in Jahrtausenden gereift. Hinsichtlich der Zukunftsversprechen dürften die jenseitigen transzendentalen Utopien mit ewigem Leben in dauernder Glückseligkeit nach wie vor vielen Menschen attraktiver erscheinen als jene diesseitigen säkularen Aussichten, die eher nüchtern von der Aussicht allenfalls auf ein bequemeres und längeres und gesünderes Leben sprechen. Der Autor macht letztlich aus seiner Skepsis beiden Alternativen gegenüber keinen Hehl.

Man merkt dem klar strukturierten Buch an, dass hier ein in der Philosophie und Theologie bestens bewanderter Autor spricht. Das Buch ist eine erkenntnisbereichernde und zugleich vergnügliche Wanderung durch die europäische Kulturgeschichte und ersetzt in seiner Kompaktheit, die aber trotz allem immer allgemeinverständlich bleibt, eine ganze Bibliothek von philosophischen und theologischen Schriften. Das zusammenfassende Urteil kann daher nur lauten: Unbedingt lesenswert!

Thomas Ebersberg. Vom Urknall zum Gottesmythos – Utopie und Evolution. Books on Demand, Norderstedt 2020, ISBN: 978-3-7504-4173-6, Taschenbuch 4,99 Euro; E-Book 3,49 Euro

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