Der Fähigkeitsansatz in der Gerechtigkeitstheorie von Martha Nussbaum lässt sich auch auf die Tierwelt ausweiten. Darauf verweist die aktuell wohl einflussreichste Philosophin in ihrem neuen Werk: "Gerechtigkeit für Tiere. Unsere kollektive Verantwortung", das neue Perspektiven für die Tierethik aufzeigt.
Über die Definition von Gerechtigkeit reflektieren seit Jahrhunderten die Philosophen. Bedeutsam für die gegenwärtige Debatte ist da der Fähigkeitenansatz, der von Martha Nussbaum entwickelt wurde. Sie gilt gegenwärtig als die einflussreichste Denkerin zu ethischen Fragen und lehrt als Professorin an der University of Chicago. Der gemeinte Ansatz besagt, "dass eine Gesellschaft nur dann auch nur annähernd gerecht ist, wenn sie jedem einzelnen Bürger einen Mindestumfang zentraler Fähigkeiten garantiert, die als wesentliche Freiheiten oder Wahl- und Handlungsmöglichkeiten in von Menschen im Allgemeinen sinnvollerweise wertgeschätzten Lebensbereichen definiert sind" (S. 107). So formuliert Nussbaum selbst in ihrem neuen Werk, das mit "Gerechtigkeit für Tiere. Unsere kollektive Verantwortung" überschrieben ist. Darin überträgt sie die Auffassungen für das menschliche Miteinander auf eine andere Sphäre, nämlich die Einstellungen der Menschen gegenüber den Tieren. Ausgangspunkt dafür ist die Einsicht: "Tiere sind weltweit bedroht" (S. 7).
Was diese Feststellung genau meint, wird an vielen Fakten aufgezeigt. Daraus leitet die Autorin eine für die Menschen bestehende, "längst fällige moralische Verpflichtung" (S. 7) ab. Ein entsprechend nötiges Engagement bedürfte aber einer systematischen Theorie, die eben Nussbaum auf über 350 Seiten liefern will. Diese beginnen mit einer kritischen Auseinandersetzung mit anderen Theorien, wozu etwa der "Uns-so-ähnlich", der "utilitaristische" und der "kantische" Ansatz zählen. Dabei differenziert Nussbaum bei ihren Reflexionen, zeigt sie doch deren Schwächen wie Stärken auf. Gut begründet verweist die Autorin darauf, dass die metaphysischen Behauptungen im letztgenannten Sinne unnötig seien. Dem stellt sie als Alternative den Fähigkeitsansatz gegenüber. Deren einzelne Bestandteile, die eine "Liste" ergeben würden, präsentierten die Tiere verständlicherweise nicht selbst. Hier wird auf Erkenntnisse einzelner Forscher zum Themenkomplex verwiesen, welche dabei den bislang ungehörten Stimmen der Tiere jeweils Worte geben würden.
Mit dementsprechenden Einsichten ausgestattet geht es danach um die Erörterungen der unterschiedlichsten Fragen, die sich auf die Behandlung von Tieren in unterschiedlichsten Zusammenhängen beziehen. Thematisiert werden etwa die Bereitschaft zu Tierversuchen und Tötungen, aber auch Detailfragen zu Haus- und Wildtieren. Ganz am Ende fragt Nussbaum danach, was ihre Erkenntnisse für eine bessere Rechtsordnung bedeuten würden. All diese Betrachtungen beziehen sich auf aktuelle Forschungsergebnisse, die mitunter neue Einblicke in tierische Verhaltensweisen ermöglichen. Es werden mit der Berufung auf den Fähigkeitsansatz auch ungewöhnliche Positionen entwickelt, etwa "warum Gerechtigkeit nur für Tiere gilt, die über eine Anschauung der Welt verfügen, und nicht für solche, die keine besitzen, ebenso wenig wie für Pflanzen" (S. 22). Bei all dem stellt die Argumentation von Nussbaum darauf ab, dass das Erstaunen über die besondere Existenzweise eines Tiers hier eine menschliche Verantwortung zu Verbesserungen möglichen machen sollte.
Diese Betonung von Emotionen führt bei ihr aber nicht zur Romantisierung von Tiervorstellungen. Die Autorin stellt auf zentrale Fähigkeiten ab, welchen Menschen wie Tieren gemeinsam sind: Gesundheit, Integrität, Leben oder Zugehörigkeit. Wenn man den Erstgenannten all dies konstitutiv zuordnet, darf nach einer möglichen Übertragung gefragt werden. Genau darauf ist der Ansatz von Nussbaum ausgerichtet, was den Ausschluss von Tieren davon legitimationspflichtig macht. Insofern setzt sie bei Fähigkeiten, nicht bei Mitleid an. Die Autorin vermeidet auch metaphysische Behauptungen und verweist stattdessen auf neuere Forschungsergebnisse. Dass Menschen dabei um ihrer Rechte willen für Tiere sprechen müssten, wäre kein Argument gegen die Auffassungen von Nussbaum. Denn Anwälte reden vor Gericht auch für menschliche Mandanten. Eine Argumentationslücke besteht bei dem Tier-zu-Tier-Verhältnis. Bilanzierend betrachtet hat man es aber beim Fähigkeitsansatz mit einer neuen Perspektive für die Tierethik zu tun.