Die Volksparteien verlieren überall in der westlichen Welt an Zustimmung. Es sind digitale, autoritäre Anführer, die mithilfe der neuen Medien virtuelle Scharen hinter sich versammeln und zum Sturm auf die westliche Demokratie und die liberale Weltordnung blasen.
Von der verwaisten politischen Mitte muss diese Weltordnung verteidigt werden. Intellektuelle, die einen gewissen Universalismus vertreten, braucht es nicht nur, um die liberalen Demokratien zu stützen, sondern auch, um die Mitte der Gesellschaft erneut zu besetzen. Doch anstatt die Gesellschaft zusammenzuhalten, verlieren sich ihre Verteidiger in ewigen links-rechts Debatten, die zu einer Radikalisierung von Positionen führen und den Blick vom Wesentlichen ablenken. In neun Kapiteln zeigt die Politikprofessorin Ulrike Ackermann, wie das Schweigen der Mitte gebrochen und die Demokratie gerettet werden kann.
Ein Intellektueller neuen Typs, der "Medienintellektuelle", hat den klassischen Gelehrten als Kritiker der Gesellschaft abgelöst. Eine Zeitenwende: Durch das Internet und die neuen Medien kann jeder zum Kommentator mit erstaunlicher Reichweite werden. Immer größer wird die Zahl derjenigen, die sich in ihrem Meinungsbildungsprozess erheblich durch digitale Autoritäten beeinflussen lassen. Dabei bieten die neuen Medien Raum für vor allem eines: Selbstinszenierung! In der Folge entstehen "sich selbst bestätigende Milieus im Netz, die sich kollektiv abschotten". Die Bildung dieser digitalen Kollektive sorgt so für ein Zusammenschrumpfen des politischen Pluralismus und subministriert mittelbar populistische und polarisierende Meinungsführer.
Diese "Hordenbildung" aber führt weg vom Ideal des liberal-aufgeklärten Menschen, der, zivilisiert streitend, an der Kompromissfindung interessiert ist. Den Vorwurf, die Idee eines solchen Staatsbürgers sei utopisch, weist Ackermann mit Verweis auf diejenigen Denker zurück, die stets eine zivilisiert-liberale, aber wehrhafte Gesellschaft angestrebt haben: Ralf Dahrendorf, Dolf Sternberger, André Glucksmann, Jeanne Herrsch und andere.
Paradox: Der Populismus fördert die gesellschaftliche Partizipation an Politik. Eine Lösung für den allgemeinen Vertrauensverlust in die parlamentarische Demokratie freilich kann er nicht sein, weil er den Pluralismus und das Parlamentarische im Kern ablehnt. Sinnbildlich steht der Populismus für die Ablehnung des Modernen und für den Aufstand gegen das „Establishment“, welches immer weniger mit seiner Wählerschaft gemein zu haben scheint. In der Folge werden die Vertreter des vermeintlich Überholten, die Volksparteien, abgewählt. Zurück bleiben Gesellschaften, die sich tief gespalten selber demontieren: Großbritannien und der Brexit zeigen beeindruckend, welche Konsequenzen aus der Spaltung erwachsen können.
Um das Überkommene abzulösen und den politischen Stillstand aufzuweichen, bedarf es gewagter, vielleicht gar verrufener Experimente. Der österreichische Kanzler Kurz ging mit einer schwarz-blauen Koalition ein solches Wagnis ein. Er scheiterte, weil durch die Ibiza-Affäre offenbar wurde, dass sein Koalitionspartner – die FPÖ – eben nicht salonfähig geworden war. Solche Experimente sind dennoch wichtig, um die westliche Demokratie wiederzubeleben, da in zweifacher Hinsicht von ihnen profitiert werden kann: Zum einen kommt ihnen eine entlarvende Funktion, wie im Falle der ÖVP-FPÖ Koalition zu, und zum anderen können sie, im Falle eines Erfolges, belebend und progressiv wirken und so das Land voranbringen. In beiden Fällen aber wird das Interesse der Bevölkerung am politischen Geschehen ansteigen. Ohne Aufmerksamkeit und daraus folgend neuen Ideen, die dann zu jener dringend benötigten Partizipation führen, wird die Demokratie nur schwerlich überleben können.
Eine der Ursachen für Polarisierungen in der Politik ist auch in der Flüchtlingskrise 2015 zu finden. Damals wurde klar: Die Länder Europas und besonders Deutschland müssen sich besser auf mögliche Massenmigrationen einstellen. Die Überforderung im Umgang mit den vielen Hilfesuchenden und das Narrativ von der Alternativlosigkeit des Vorgehens der Bundesregierung waren 2015 für die meisten Deutschen unübersehbar – und verärgerten diese nachhaltig. Dabei stand außer Frage: Die Situation der meisten Migranten gebot humanitäres Handeln. Wer aber glaubt, die NS-Vergangenheit Deutschlands muss zu einer besonderen Moral, zu einem Zwang zu helfen führen, der irrt. Weder können die nationalsozialistischen Verbrechen durch zwanghafte Migration rückgängig gemacht werden, noch ist Migranten geholfen, die in überfüllten und unwürdigen Lagern leben, weil zu viele aufgenommen wurden. Zukünftig braucht es den kritischen Dialog der Bundesregierung mit der Bevölkerung; es braucht Transparenz und keine vermeintliche Alternativlosigkeit. Aufgeklärte Bürger, denen die Regierung das Gefühl gibt, für sie da zu sein, sind Bürger, die viel eher freiwillig und mit großem Engagement denjenigen helfen, die in Not geraten sind. Wie erfolgreiche eine solche Strategie des offenen Dialogs sein kann, zeigt exemplarisch die Corona-Krise. Die Union Angela Merkels und Markus Söders, lange Zeit im Umfragetief, erreichte (im April 2020) erstmals wieder Zustimmungswerte, die an die 40 Prozent heranreichten.
Ulrike Ackermanns Buch enthält viele Wahrheiten. Treffsicher benennt sie die gesellschaftlichen Missstände und Spaltungen, die in die Polarisierungsfalle führen und macht klar, dass es so nicht weiter gehen kann. Es bedarf eines universalistischen Diskurses, der, angeführt von neuen Intellektuellen, die gesamte Bandbreite der Gesellschaft abdecken und erfassen soll. Einzig der Untertitel "Wege aus der Polarisierungsfalle" irritiert. Er impliziert, es handele sich um einen Ratgeber im klassischen Sinne, dabei zeigt Ackermann eher die Wege in, denn aus der Polarisierungsfalle auf. Vielleicht aber ist genau dieses Buch eine erste Einladung zur Diskussion. Ein Aufhänger, dem nicht jeder zustimmen muss, den es aber zu diskutieren gilt. Denn wer genau liest, stellt schnell fest: Schweigen ist Silber, Reden ist Gold! Der freie Diskurs ist das Salz in der demokratischen Suppe.
Ulrike Ackermann: Das Schweigen der Mitte: Wege aus der Polarisierungsfalle, Darmstadt 2020, S. 206 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 22,00 Euro
1 Kommentar
Kommentare
Thomas Amm am Permanenter Link
"Von der verwaisten politischen Mitte muss diese Weltordnung verteidigt werden. "
..welche jetzt? Die aktuelle? Die ohne funktionierende Trennung von Staat und Religion? Dieselbe in der sich frömmelnde, ultra-autoritäre Menschenfeinde rücksichtslos der Plünderung des Planeten widmen; die mit den dutzenden Konflikten angezettelt von den Eliten und abgesegnet von deren religösen Komplizen?
Das können wir uns schenken, das rentiert sich schon wegen der klimatischen Auswirkungen nicht mehr.
Ich würde eher sagen, wir sollten allmählich mal den Tatsachen ins Auge blicken und uns etwas besseres einfallen lassen, als "Das Internet ist schuld - und die Migranten!" zu rufen und die gute, alte Zeit wieder haben zu wollen, wo es auch nicht besser war, aber die Auswirkungen noch nicht zu spüren waren.
Der ganze, unsägliche, Artikel klingt wie aus der Feder einer "christlichen" Partei. Oder einer noch schlimmeren.