FDP-Politikerin Nicola Beer lädt zu einem virtuellen "Gebetsfrühstück" im Europaparlament ein. Oder doch nicht?

Von guten Mächten wunderbar entworfen

Die FDP-Politikerin Nicola Beer hat eine E-Mail versendet, deren Inhalt ihr zumindest teilweise nicht bekannt war. Der Entwurf des Textes stammte von dem Organisator eines Gebetsfrühstücks, der seine Veranstaltungseinladung gerne von der Vizepräsidentin des EU-Parlaments verbreitet wissen wollte. Die vermeintliche Petitesse wirft ein Schlaglicht auf die Arbeitsabläufe in den Büros der Parlamentarier.

Fast hätte es niemand bemerkt. Als Nicola Beer am 8. Juni eine E-Mail an alle 705 Abgeordneten des Europaparlaments versendet, scheint keinem der Empfänger etwas aufzufallen. In der E-Mail lädt Beer zu einem virtuellen "Gebetsfrühstück" ein, das per Videostream "politische Führungskräfte" mit "Schwestern und Brüdern in ganz Europa" zusammenbringen solle. Unterzeichnet ist die Einladung von elf Abgeordneten, wobei Beer an der Spitze steht. Darunter die anderen Namen, von denen drei aufhorchen lassen: Es sind Parlamentarier der Basisfinnen, Schwedendemokraten und der ungarischen Fidesz-KDNP – allesamt Parteien des rechten Rands, deren Mandatsträger auf europäischer wie auf nationaler Ebene immer wieder durch aggressiven Nationalismus, reaktionäre Gesellschaftspolitik und autokratische Tendenzen auffallen. Wenn sich solche Kreise auf ihren Glauben beziehen, dann nicht selten, um gegen LGBTI-Rechte, Errungenschaften der Emanzipation und Muslime zu hetzen. Nächstenliebe? Fehlanzeige. Stattdessen legen sie religiöse Lehren und Traditionen ultrakonservativ aus, damit diese als Vehikel für intolerante Moralvorstellungen und Hass auf Minderheiten herhalten können. Dass Beer gemeinsam mit drei Kollegen aus jenem Umfeld zum Gebet einlädt, hätte Leser der E-Mail durchaus stutzig machen können. Es regt sich jedoch vorerst nichts.

Erst als Beer am 17. Juni 2020 an den Termin erinnert und dabei die ursprüngliche Mail noch einmal verschickt, wird ein Mitarbeiter eines Grünen-Abgeordneten auf die besondere Konstellation aufmerksam. Er veröffentlicht Screenshots der Einladung auf Twitter und fragt Beer nach ihrer Intention: Welchen Plan verfolge Beer, wenn sie gemeinsam mit Rassisten, Faschisten und Rechtspopulisten zum Gebetsfrühstück einlade? Der Tweet wird rasch weiterverbreitet und erfährt einige Aufmerksamkeit. Am nächsten Tag gibt Beer ein Statement heraus, das als direkte Antwort auf den Tweet gelesen werden kann. In drei Absätzen erklärt sie, nicht von den brisanten Mitunterzeichnern gewusst zu haben, der Veranstaltung ihre Unterstützung zu entziehen und nicht mehr daran teilnehmen zu wollen. Es ist eine unzweideutige Distanzierung, klar im Tonfall und geradezu auffallend umfangreich. Beer möchte erkennbar keinen Raum für offene Fragen bieten, keine Zweifel an ihrer Haltung zulassen.

Damit könnte die Sache erledigt sein, nicht mehr als eine peinliche Posse, die der Vizepräsidentin des Parlaments vermutlich nicht lange nachhängen würde. Schließlich hat sie auf den in den sozialen Medien einsetzenden Gegenwind reagiert und sich vollständig von der Veranstaltung zurückgezogen. Damit ist sie weiter gegangen als andere Unterzeichner der Einladung, wie beispielsweise der CDU-Europaabgeordnete Michael Gahler, der Vorhaltungen auf Twitter mit Unverständnis begegnet und verkündet, sich "nicht rechtfertigen" zu müssen, da sich das Gebetsfrühstück "nicht parteipolitisch kidnappen" lasse. Die Nachfrage, ob er damit ausdrücken möchte, dass religiöse Anschauungen unter Umständen über politische Werte gestellt werden können, lässt er unbeantwortet. Insofern kann Beer jedenfalls für sich in Anspruch nehmen, die Anwürfe ernst genommen und sich halbwegs respektabel aus der Affäre gezogen zu haben.

Um aber zu verstehen, wie Beer überhaupt in die Affäre hineingeraten konnte, lohnt eine genauere Betrachtung der Vorgeschichte. Im Rückblick sticht zunächst ins Auge, dass die Erinnerungsmail vom 17. Juni womöglich nur in einem einzigen Abgeordnetenbüro für Stirnrunzeln sorgte, die ursprüngliche Einladung vom 8. Juni gar in keinem, soweit bekannt. Bei 705 potentiellen Lesern, Mitarbeiter der Abgeordneten noch nicht einmal mitgerechnet, ist das durchaus bemerkenswert. Dass Beer, deren Partei noch bis zum jüngsten Rebranding mit dem Slogan "Die Liberalen" warb, in einem derart illiberalen Dunstkreis agierte, soll niemandem eigenartig vorgekommen sein?

Eine mögliche Erklärung sind frühere Diskussionen um Beers angebliche Affinität zur ungarischen Regierungspartei Fidesz. Als sich die damalige FDP-Generalsekretärin und Bundestagsabgeordnete im Januar 2019 um die Position der Spitzenkandidatin für die Europawahl bewarb, wurden Bedenken laut, ob sie die richtige Persönlichkeit für die Aufgabe sei, die politischen Ideale der Freien Demokraten auf europäischer Ebene gegen die Manöver angriffslustiger Rechtspopulisten in Stellung zu bringen. Auslöser der Zweifel war unter anderem die Freundschaft Beers und ihres Ehemannes Jürgen Illing zu dem ungarischen Fidesz-Politiker Zoltán Balog, der als Minister in Viktor Orbáns "illiberaler Demokratie" nicht zuletzt daran beteiligt war, im Frühjahr 2017 die Freiheit internationaler Universitäten in Ungarn einzuschränken. Inzwischen leitet er eine Fidesz-nahe Stiftung. Beer und Illing ließen sich 2018 von Balog, der auch Pastor ist, in Budapest trauen.

Vielen im Europaparlament dürfte die Verbindung im Gedächtnis geblieben sein und es ist denkbar, dass die gemeinsame Einladung Beers und der Abgeordneten von Basisfinnen, Schwedendemokraten und eben Fidesz vor diesem Hintergrund so manchem etwas weniger kurios erschien. Wer über die Nähe der FDP-Politikerin zu einem Fidesz-Politiker informiert war und zudem wusste, dass sie gläubige Christin ist, ging womöglich über die Einladung zum gemeinsamen Gebet hinweg, ohne besonders überrascht zu sein.

Vermutlich spielte jedoch ein anderer Umstand eine größere Rolle. Um die Unterzeichner der Einladung überhaupt registrieren zu können, hätte man die E-Mail erst einmal lesen müssen. Dass die E-Mail einer Vizepräsidentin des EU-Parlaments von ihren Abgeordnetenkollegen, oder wenigstens deren Mitarbeitern, tatsächlich gelesen wird, ist aber alles andere als selbstverständlich. Im Postfach eines Abgeordneten laufen tagtäglich Unmengen von E-Mails auf; der weitaus größte Teil davon ist für den Empfänger schlichtweg irrelevant, beispielsweise Newsletter, Veranstaltungseinladungen oder andere Massenmails. Selten haben diese auch nur entfernt mit den politischen Betätigungsfeldern der Parlamentarier zu tun. Deren E-Mail-Adressen sind im Internet frei einsehbar, was in der Theorie bedeutet, dass Bürger sehr unkompliziert Kontakt mit ihren jeweiligen Abgeordneten aufnehmen können. In der Praxis führt es jedoch dazu, dass eine Flut unverlangt zugesandter Informationen die E-Mail-Accounts nahezu unbrauchbar macht.

Infolgedessen ist es in Abgeordnetenbüros üblich, im E-Mail-Eingang lediglich Absender und Betreffzeile zu überfliegen – was dabei nicht direkt als relevant ins Auge springt, wird ohne weiterzulesen von Mitarbeitern gelöscht, sodass die Abgeordneten diesen Kommunikationsballast möglichst gar nicht erst zu Gesicht bekommen. Nur so ist ein halbwegs vernünftiger E-Mail-Verkehr mit vertretbarem Aufwand aufrechtzuerhalten. Und von Nicola Beer zum Gebet eingeladen zu werden, schien vielen offenbar eindeutig irrelevant: Die Büroleiterinnen verschiedener Abgeordneter bestätigen, dass die Einladung gelöscht wurde, ohne dass der Inhalt jenseits des Betreffs zur Kenntnis genommen worden wäre. Dies dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass in dem Zeitraum, der zwischen der ersten und der zweiten E-Mail liegt, keine kritischen Fragen an Beer aufkamen.

Doch wenigstens ein Büro hätte die E-Mail in Gänze lesen müssen; wenigstens ein Büro hätte dabei über die Unterzeichner stolpern müssen: Das Büro der Vizepräsidentin Beer. Sie oder, naheliegender, einer ihrer Mitarbeiter muss die Einladung doch verfasst haben, einschließlich der Unterzeichnerliste. Und irgendjemand muss die E-Mail in ihrem Namen von ihrem E-Mail-Account abgeschickt haben, wobei wohl erwartet werden kann, dass der Inhalt zuvor mit der als Absenderin auftretenden Chefin abgestimmt wird – gerade bei heiklen Themen, worunter nahezu jede Angelegenheit fällt, die direkte Berührungspunkte mit den Rechtspopulisten im Parlament aufweist. Genügend Gelegenheiten also, die Liste der Unterzeichner zur Kenntnis zu nehmen.

In der Stellungnahme jedoch, die Beer am 18. Juni 2020 veröffentlichte, erklärt sie die zweifelhafte Gesellschaft, in die sie geraten ist, damit, dass sie sich "nicht vollumfänglich darüber informiert" habe, wer außer ihr zur Unterstützung der Gebetsveranstaltung angefragt worden war. Das kann nur bedeuten, dass sie nicht vollumfänglich darüber informiert war, welchen Inhalt die in ihrem Namen versandte Einladung aufwies, denn darin war der Unterstützerkreis übersichtlich aufgelistet. Demnach hatte auch keiner ihrer Mitarbeiter einen Anlass gesehen, Beer auf die offenkundig problematischen Mitunterzeichner hinzuweisen. Unter diesen Prämissen drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass der Einladungsentwurf möglicherweise gar nicht in Beers Büro entstanden ist.

In der Tat ist aus dem Kreis der anderen zehn Unterzeichner in Erfahrung zu bringen, dass die Organisation im Vorfeld nicht etwa Beer oder ihrem parlamentarischen Mitarbeiterstab oblag, sondern einem Externen: Dem Pastor Carlton Deal. Dieser bestätigt das auf Nachfrage und erklärt, nicht nur die Idee gehabt, sondern auch den Einladungstext geschrieben zu haben. Die Unterzeichner seien ausgewählt worden, weil sie bereits in der Vergangenheit an Gebetsfrühstücken teilgenommen hätten – und einander in "Glaube und Freundschaft" verbunden seien. Dass er Beer die Einladung verbreiten ließ, begründet Deal damit, dass sie 2019 ein Gebetsfrühstück als Moderatorin begleitet hat.

Somit darf man vermuten, dass im Büro Beers, immerhin Vizepräsidentin des Europaparlaments, keine durchschlagenden Bedenken dagegen bestanden, externe Dritte eine E-Mail formulieren zu lassen und diese dann vom offiziellen Abgeordneten-Account zu versenden. Ob der gesamte von Deal zugelieferte Einladungstext dabei ungelesen blieb, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, da die Sprecherin Beers dazu schweigt, aber wenn man davon ausgeht, dass jedem Mitarbeiter die Brisanz des Auftauchens von Basisfinnen, Schwedendemokraten und Fidesz sofort aufgefallen wäre, ist die Möglichkeit einer gewissermaßen blinden Weiterleitung nicht auszuschließen.

Nicht nur für Außenstehende hat das ein Geschmäckle. Auch andere Abgeordnete reagieren mit Unverständnis auf die Vorgehensweise und stellen klar, dass dergleichen für sie nicht infrage käme. Man lasse sich keine E-Mails von anderen formulieren, schon gar nicht, um zu deren Veranstaltungen einzuladen. Als Abgeordneter könne man natürlich nicht sämtliche Kommunikation selbst betreuen, aber dafür habe man eben persönliche Mitarbeiter. Die letzte Verantwortung dafür lasse sich in keinem Fall "wegdelegieren".

Zudem wird eine weitere Lesart ins Spiel gebracht: Im Umfeld verschiedener Parlamentarier wird nicht ausgeschlossen, dass Beer sehr wohl wusste, mit wem sie zum Gebet einlud, aber darin kein Problem erkennen konnte oder wollte. Demnach hätten erst die Reaktionen in den sozialen Netzwerken sie zu einer Kehrtwende bewogen. Vergangene Debatten lassen das nicht völlig unwahrscheinlich erscheinen. Und nicht zuletzt betonen auch viele der Stimmen, die sich nun kritisch gegenüber Beer äußern, dass Religionsausübung eigentlich Privatsache sei, solange ein gewisser Abstand zum politischen Mandat eingehalten werde. Diese Überlegung könnte Beer ebenfalls angestellt und sich dadurch ermutigt gefühlt haben, die Einladung trotz etwaiger Bedenken mit den von Deal ausgewählten Unterzeichnern zu versenden. In diesem Szenario wäre Beers Statement vom 18. Juni glatt gelogen. Da aber keinerlei Belege dafür existieren, ist Beers Version zu folgen, wonach sie also "nicht vollumfänglich darüber informiert" war, was gemäß der Einschätzung einer Abgeordnetenkollegin Beers mindestens von "einem eklatanten Mangel an Professionalität" zeuge.

In dieser Bewertung sind sich nahezu alle, die sich über den Vorgang äußern, weitestgehend einig, auch über Parteigrenzen hinweg. Den Standpunkt der Abgeordneten, die versichern, ein solcher Modus Operandi sei in ihren Büros unvorstellbar, stützt auch Andreas Dür, der als Professor für Internationale Politik an der Universität Salzburg mit Lobbyismus auf europäischer Ebene befasst ist. Er sieht in der Übernahme einer vorformulierten E-Mail nicht per se ein ethisches Problem – "sofern die Parlamentarierin den Text der E-Mail vor dem Verschicken gelesen hat und mit dem Inhalt übereinstimmt". Doch genau daran hat es offensichtlich gefehlt.

Auf einen anderen problematischen Aspekt weist die Nichtregierungsorganisation Transparency International, die sich für die effektive Bekämpfung politischer Korruption einsetzt, hin: Immerhin existiert seit 2011 ein Transparenz-Register auf EU-Ebene, das Einflussnahme auf politische Entscheidungsträger sicht- und kontrollierbar machen soll, doch sind Kirchen und Religionsgemeinschaften von dessen Regelungen ausgenommen. Diese hätten es somit besonders einfach, Veranstaltungen im politischen Umfeld zu organisieren und auf Abgeordnete einzuwirken, ohne jeglicher Kontrolle zu unterstehen, so Vitor Teixeira, Referent im Brüsseler Büro von Transparency International. Der Fall Beer mache deutlich, dass die bestehenden Strukturen nur unzureichenden Schutz vor unzulässiger Einflussnahme böten.

Diesen Eindruck verstärkt die Tatsache, dass es zwar einen Verhaltenskodex für die Mitglieder des Europäischen Parlaments gibt, der unter anderem zu Transparenz, Sorgfalt und Ehrlichkeit verpflichtet, jedoch ausschließlich auf den Bereich finanzieller Interessen und Interessenkonflikte ausgerichtet ist. Der Sachverhalt, als Abgeordnete eine von externen Dritten formulierte E-Mail als eigene weiterzuleiten, ohne den Inhalt vollständig zu kennen, fällt nicht darunter, bestätigt auch die Referentin einer Angehörigen des Beratenden Ausschusses zum Verhalten von Mitgliedern des Parlaments. Jenseits der genannten Regelwerke gibt es keine verbindlichen Richtlinien, an denen sich das Verhalten der Parlamentarier etwa hinsichtlich Transparenz und ethischen Maßstäben orientieren müsste.

Wie die FDP zum Agieren ihrer Brüsseler Mandatsträgerin steht, bleibt offen; auf eine entsprechende Anfrage reagierte die Berliner Pressestelle der Partei lediglich mit einem kurzen Verweis auf die Stellungnahme Beers. Konkrete Nachfragen nach einer Bewertung unter Gesichtspunkten der Transparenz und Ethik blieben unbeantwortet. Auch wollte die Pressesprecherin sich nicht dazu äußern, ob andere FDP-Politiker ihre Kommunikation ebenfalls durch externe Dritte vorformulieren lassen und welche Maßnahmen die Partei gegebenenfalls zu ergreifen gedenkt.

Somit dürfte der Vorfall für Beer ohne Konsequenzen bleiben. Sie selbst kündigte an, unter anderem ihren Glauben künftig vor "Missinterpretation" schützen zu wollen. 2018 hat sie auf einer Veranstaltung der evangelikalen Organisation Deutsche Evangelische Allianz erklärt, sie nehme sich bewusst Zeit für das Gebet. Vielleicht widmet sie künftig einen Teil dieses Zeitbudgets dem Lesen von E-Mails, bevor sie sie verschickt.

Transparenzhinweis: Der Verfasser war von 2013 bis 2017 Mitglied der Jungen Liberalen und als solches von 2013 bis 2016 im Kreisvorstand Leipzig aktiv.

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