Interview

Statt Feiern Sport und Sex

Der Mensch hat ein Bedürfnis, das Leben zu genießen, Spaß zu haben und dabei auch mal über die Stränge zu schlagen. Ein (mehr oder weniger) kontrolliertes Umfeld bieten dafür unter normalen Umständen Volksfeste, Konzerte oder Discos. Zu Corona-Zeiten ist das anders: Die Möglichkeit, Exzessen zu frönen, ist stark eingeschränkt. Was das mit uns macht, warum das problematisch ist und was man stattdessen tun könnte, darüber sprach der hpd mit dem Philosophen Franz Josef Wetz.

hpd: Herr Wetz, was macht die Ausnahmesituation der Corona-Pandemie mit uns?

Franz Josef Wetz: Unser alltägliches Leben ist normalerweise durch Strukturen und Routinen geprägt, diszipliniert und kontrolliert. Wir sind entlastet vom elementaren Überlebenskampf, den Energieüberschuss können wir lustvoll ausleben. Und dann kommt da plötzlich so ein Virus und stellt alles in Frage, lässt viele unserer vertrauten Strukturen zusammenbrechen. Die Menschen wurden in einer neuen Weise mit der Vergänglichkeit ihres Daseins konfrontiert, mit der Unselbstverständlichkeit ihrer bisherigen Sicherheit. Es war auf einmal Vieles gefährdet: das Leben, der Beruf, die eigene Existenz. Die Verdrängung des Todes war plötzlich nicht mehr so einfach möglich. Das trägt natürlich dazu bei, die lustvolle Seite des Lebens erstmal zurückzuschrauben: Man war weniger mit Spaßveranstaltungen als mit den Hamsterkäufen von Klopapier befasst. Das dämpft und bindet die überschüssigen Energien. Da werden die meisten die Einschränkungen zu Beginn auch gar nicht als so schlimm wahrgenommen haben.

Franz Josef Wetz ist Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd. Seine Arbeitsschwerpunkte in Lehre und Forschung sind Hermeneutik, Ethik, Rechts-, Kultur- und Naturphilosophie. Er gehört dem Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) an. Sein Buch "Exzesse – Wer tanzt, tötet nicht" erschien 2016 im Alibri-Verlag.

Sie haben ein Buch über die Bedeutung von Exzessen geschrieben, in dem Sie darlegen, dass diese eine wichtige Funktion innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft haben. Dass der Mensch die Möglichkeit des Ausbruchs aus dem geregelten Alltag braucht, man auch mal über die Stränge schlagen dürfen muss, um sich abzureagieren. Jetzt sind diese "Ventile" ja momentan sehr eingeschränkt, die Clubs sind geschlossen, es gibt keine Festivals. Ist das ein Problem?

Das mit den Einschränkungen ging nun einige Wochen und Monate so, eine Zeit lang lassen sich diese Bedürfnisse zurückfahren. Aber auf Dauer fragt man sich: kann das so bleiben? Die Infektionszahlen sind niedrig, dadurch wird man leichtsinnig und die Menschen scharren mit den Hufen. Das Wetter ist schön und alles, was das Leben schön macht, ist eingeschränkt – man darf nicht ins Fußballstadion, der Christopher-Street-Day und ähnliche Sommerereignisse fallen alle ins Wasser. Manche sind genervt und gelangweilt, werden griesgrämig, vielleicht sogar leicht depressiv. Dadurch wird unter Umständen die Zündschnur kürzer und die Gewaltbereitschaft steigt. Die Feiergemeinden in den Großstädten hängen durch, denke ich. Man stellt sich die Frage: Wo sind die besagten Energien jetzt? Inzwischen rumort es...

Wir hatten die Krawalle in Stuttgart und Frankfurt und da hieß es, das sei "die Partyszene", die Sie gerade auch angesprochen haben. Sehen Sie da eine Verbindung? Bricht sich da die Lust auf den Exzess Bahn?

Das Bedürfnis, sich wieder frei zu entfalten und die schönen Seiten des Daseins zu genießen ist schon wieder auf dem Vormarsch. Auf dem friedlichen Weg ist es so, dass die Leute wieder in den Urlaub fahren und an den vollen Ostseestränden auch wieder achtloser werden. Und wenn dann, ich sage mal, die Herde ins Laufen kommt, ist sie auch kaum aufzuhalten. Das hat man in Mallorca gesehen. Wenn jetzt im kleineren Raum, wie in Frankfurt oder Stuttgart, gefeiert wird – man ist guter Laune und dann kommt die Polizei und schreitet ein, dann wird das sehr schnell explosiv. Die Gesellschaft muss mit diesem "Vulkan", der gerade in jungen Menschen steckt, einfach rechnen, auch wenn es natürlich keine Rechtfertigung für Randale gibt. Da sind noch andere Unzufriedenheiten im Spiel, man kann das nicht so monokausal erklären. Es handelt sich aber um Einzelfälle, wir haben das ja nicht im großen Stil, so wie die Ausschreitungen in den Banlieus in Frankreich. Ich halte es allerdings für wahrscheinlich, dass wir in nächster Zeit noch mit weiteren Vorfällen dieser Art rechnen müssen.

Franz Josef Wetz
Franz Josef Wetz (Foto: © Evelin Frerk)

In Frankfurt will man den Opernplatz jetzt nachts sperren, um das Ausarten der Zusammenkünfte dort zu verhindern. Was halten Sie davon?

Da bin ich skeptisch. Solche Maßnahmen haben nur eine begrenzte Wirkung insofern, als die Leute sich dann mit Sicherheit wieder andere Plätze und Wege suchen werden. Und dann könnte man diese Orte gleich kontrolliert offenlassen.

Wenn wir nicht feiern können, was gibt es denn für Kompensationsstrategien? Was würden Sie stattdessen empfehlen?

Sport ist eine gute Strategie, die Fitnessstudios haben ja jetzt wieder auf. Dann natürlich die gelebte Sexualität im privaten Raum, da muss man dann auf den eigenen Partner zurückgreifen, sofern denn vorhanden. Für alle anderen ist es schwieriger: Verabredungen über Dating-Apps mit unbekannten Personen bieten Infektionspotenzial, Bordelle sind nach wie vor geschlossen. Da hilft vielleicht nur, die altbewährte Handwerkskunst mit den sexuellen Angeboten des modernen Internets zu verbinden.

DJs, die ihre Musik in die Wohnzimmer live übertragen und die Leute im kleinen Rahmen dazu tanzen, sind eine gute Möglichkeit. Man kann Vieles ins Internet auslagern – das passiert ja sowieso schon – wo die Menschen auch ihr "dunkles Begehren" beim Thema Gewalt ausleben können. Aber insgesamt gilt: Wir werden nur mit angezogener Handbremse fahren können, deswegen dürfen wir nicht ganz so viel Gas geben, damit sich das Ganze nicht überhitzt. Denn die Bremse sollten wir nicht ganz lösen: Die Clubs würde ich nach wie vor nicht öffnen; wenn die Menschen zusammen feiern und tanzen und alkoholisiert sind, dann lassen sie sich nicht mehr so leicht voneinander fernhalten. Da wäre dann die "Rauschmündigkeit" gefordert, aber gerade bei Jüngeren ist die noch nicht so stark ausgebildet.

Mit der schwierigen Situation, in der wir uns befinden, müssen wir uns irgendwie arrangieren, da gibt es keine Patente. Es wird immer wieder Abstriche geben und wir werden uns wohl damit anfreunden müssen, dass das noch längere Zeit so bleibt.

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