Interview: Schulsozialarbeiterinnen von SOS-Kinderdorf über die Auswirkungen der Corona-Pandemie

"Der Leistungsdruck ist geblieben, die Zukunftsangst gestiegen"

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Seit Anfang Mai müssen sich Schüler*innen, Lehrkräfte und Beschäftigte in den Schulen nicht mehr testen lassen; auch die Maskenpflicht an Schulen wurde stark gelockert. Doch kann von Entwarnung in der Corona-Krise wirklich schon die Rede sein? Welche langfristigen Auswirkungen für die jungen Menschen gibt es? Haben Leistungsdruck und Zukunftsängste zugenommen? Was belastet Schulkinder heute besonders? Verena Manz und Verena Kapferer, beide Schulsozialarbeiterinnen des SOS-Kinderdorfs Göppingen, erklären die Auswirkungen auf schulische Leistungen, ob Schüler*innen fehlende Erfolgserlebnisse auffangen und aus der Pandemie sogar lernen können.

SOS-Kinderdorf: Was hat sich seit Beginn der Corona-Pandemie Ende Januar 2020 geändert – für Schulkinder und auch für Sie als Schulsozialarbeiter*innen?

Verena Manz: Die Routinen sind weggefallen. Schule ist für Kinder seither mehr Lern- als Lebensort, Themen wie Schulangst, Streit und Motivation haben einen größeren Anteil in deren Alltag eingenommen.

Verena Kapferer: Klar ist: Der Leistungsdruck ist gleich geblieben, aber die Zukunftsängste sind gestiegen.

Gut zwei Jahre später: Was belastet die Kinder heute besonders?

VM: Wir beobachten vermehrt soziale Ängste und Panikattacken.

VK: Die Pandemiezeit hat vor allem bei jüngeren Kindern einen großen Teil ihres (Schul-)Lebens ausgemacht, das dürfen wir nicht übersehen. Manche kennen keinen "normalen" Schulalltag oder haben diesen vergessen. Sie verstehen oft nicht, dass es andere Schüler*innen gibt, die auch Bedürfnisse haben und dass sie in der Schulgemeinschaft ihre eigenen Bedürfnisse auch mal zurückstellen müssen. Unter anderem kommt es daher zu vermehrtem Aggressionspotential, suizidalen Gedanken, selbstverletzendem Verhalten, Resignation, hinzu kommt fehlende Empathie zwischen Schüler*innen. Manche müssen sogar den durch Corona verursachten Tod von Familienangehörigen verkraften.

VM: Von einem normalen Schulalltag sind wir außerdem noch immer weit entfernt. Leider gibt es bei externen Beratungsstellen und Therapeut*innen gerade lange Wartelisten. Dies bedeutet, dass Kinder nicht rechtzeitig gefördert und aufgefangen werden und in der Konsequenz viel Rückstau bei der Schulsozialarbeit entsteht. 

Welche Auswirkung hat die Pandemie auf die schulischen Leistungen?

VM: Lernlücken werden immer deutlicher, viele Schüler*innen müssen die Klasse wiederholen oder die Schulart wechseln. Außerdem entgehen ihnen Lernerfahrungen, die nicht nachzuholen sind, wie Abschlussfahrten, Abschlussfeiern oder ein Schüler*innenaustausch. Bei Schulwechsel oder Neueinschulung konnte kein "Wir-Gefühl" innerhalb der Klasse entstehen, viele Schüler*innen stehen allein da und haben keinen Anschluss gefunden, was wiederum soziale Ängste und Panikattacken fördert. Selbst Klassen mit guter Gemeinschaft haben den Kontakt untereinander verloren und mussten ihre Rollen neu finden.

VK: Hinzu kommen Angst und Verunsicherung vor Ungewissem oder erneuten Schulschließungen. Schüler*innen in schwierigen familiären Verhältnissen hatten lange keine Möglichkeit, diesen zeitweise zu entkommen, was zu vermehrtem Aggressionspotential führen kann.

VM: Wir beobachten auch, dass Lehrer*innen den Bezug zueinander verloren haben; kollegiale Beratung, Unterstützung und Austausch weniger geworden sind.

Können Sie fehlende Erfolgserlebnisse überhaupt auffangen?

VM: Wir geben uns große Mühe, indem wir soziale Interaktion fördern, schöne Erlebnisse für die Schüler*innen schaffen, viel Gruppenarbeit anbieten. Wir versuchen, selbst Projekte in Klassen durchzuführen, unbeschwerte Zeit durch Spielangebote zu ermöglichen und Erfolgserlebnisse zu bieten.

Was fordern Sie von der Politik?

VM: Dass der Blick mehr auf die Bedürfnisse und die Beteiligung von Jugendlichen gerichtet wird: Mehr Investitionen in den sozialen Bereich und in Bildung, um endlich Chancengerechtigkeit zu fördern, dazu attraktivere Arbeitsbedingungen und bessere Bezahlung in sozialen Berufen sowie einen Ausbau der Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, der Beratung, Therapie und Diagnostik.

VK: Mehr Lehrkräfte zum Aufrechterhalten und Gewährleisten des Schulalltags und Entlastung der Lehrkräfte durch Tandemunterricht, mehr Flexibilität für spezielle Förderung der Schüler*innen.

Können wir aus der Pandemie etwas lernen?

VM: Ganz klar: Personen, die Hilfe brauchen, sollten diese so schnell wie möglich suchen und erhalten, falls durch Unvorhergesehenes gewohnte Strukturen wegbrechen.

Welche Rolle können Sie als Schulsozialarbeiter*innen dabei übernehmen?

VM: Wir sehen uns auch künftig als Anlaufstelle und Schutzraum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sowie als Ansprechpartner*innen für alle Personen, die am System Schule beteiligt sind.

Bringt die Pandemie auch positive Konsequenzen?

VM: Durchaus: Manchen Schüler*innen fällt das Lernen zu Hause leichter. Sie können sich dort besser konzentrieren, weil sie keine Ablenkung durch Mitschüler*innen erfahren.

VK: … und auch keine Hänseleien.

VM: Manchen Schüler*innen fiel auch die Mitarbeit im Online-Unterricht leichter und sie konnten ihre mündlichen Noten verbessern. Durch die ungewöhnliche Situation haben sie in der Schule mehr über außerunterrichtliche Themen gesprochen und dadurch wurde die Bindung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen gestärkt. Zudem haben die Lehrer*innen mehr Einblick in die häusliche Situation der Kinder bekommen und können diese jetzt besser verstehen.

Richten wir den Blick in die Zukunft: Befürchten Sie Langzeitfolgen?

VM: Leider ja, die Corona-Pandemie wird Auswirkungen auf das gesamte Leben einiger Schüler*innen haben, soziale Beziehungen können zum Beispiel schwierig werden, Jugendliche trauen sich nichts mehr zu und verbauen sich daher einen gelungenen Einstieg in das Berufsleben.

Was müssen Schulen künftig leisten können?

VM: Zusätzlich zur reinen Wissensvermittlung müssen wir alle es wieder schaffen, die Schule auch als Lebensort zu reaktivieren. Das Bildungssystem muss daher so organisiert werden, dass benachteiligte Kinder nicht abgehängt werden.

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