Dem Alibri Verlag, bekannt durch seine religionskritischen Schriften, ist es mit der Publikation des vorliegenden Buches gelungen, einen der bedeutendsten deutschen Religionswissenschaftler als Autor zu gewinnen: Hartmut Zinser, Jahrgang 1944, war bis 2011 Professor an der Freien Universität Berlin. Zu seinen neueren Werken zählen die Bücher "Grundfragen der Religionswissenschaft" (2010) und "Religion und Krieg" (2015).
In der nun erschienenen gedrängten Darstellung betont der Autor immer wieder ausdrücklich, dass sein Amt ein wissenschaftliches ist. Mehrfach grenzt er sich einerseits ausdrücklich von Theologien ab (obwohl man von ihren Forschungen und denen der Philologen viel lernen könne (vgl. S. 114), aber andererseits auch von der Auffassung, Religionswissenschaft sei "atheistisch", denn sie mache "zu der Frage, ob Gott oder Götter außerhalb der Vorstellungen der Anhänger existieren, keine Aussage". (S. 20; vgl. auch S. 14 über den Buddhismus; vgl. S. 63 über die frühen Christen, die als Atheisten (atheoi) galten, weil sie nicht opferten).
Dass es "heilige" Schriften gibt, gehört in den "westlichen Kulturen", die historisch vom Christentum geprägt sind (wo es mit der Bibel eine "Heilige Schrift" gibt, die auch so heißt), in denen es Juden gibt (und die Thora) und Muslime (und den Koran) derart zu den kulturellen Tatsachen, dass in den Geisteswissenschaften, selbst in der Religionswissenschaft, nur wenig danach gefragt wird, was eine "Heilige Schrift" eigentlich ist, wer Texten "Heiligkeit" verleiht, seit wann es sie gibt, was sie in ihrer Bedeutung über andere stellt und wer von wem entsprechende Anerkennung verlangt, teilweise per Schutz durch Gesetze, je nach Status der Trennung von Staat und Religion. Solchen Texten wird "Wahrheit" zugesprochen, obwohl die "neuere Sprachwissenschaft … alle Schriften als erfunden (betrachtet)". (S. 94)
In der Freidenkergeschichte haben sich einige Akteure an Debatten über "Betrügereien", etwa in der Bibel, beteiligt. Auch in der aktuellen Szene gibt es entsprechende Debatten, beispielsweise über falsche Zeugnisse zum Leben Jesu. Zinser meint, wer sich hier beteiligt, bewegt sich innerhalb von Theologie und Debatten in Religionsgemeinschaften. Er stellt fest: "Als 'Fälschungen' sind die Schriften zu bezeichnen, die von einer Religionsgemeinschaft nicht anerkannt werden. Für den Glauben kommt es nicht auf eine Wahrheit im Sinne der modernen Wissenschaften an, sondern darauf, was von einer Religionsgemeinschaft als Offenbarungstext eines Gottes anerkannt ist. … [H]eilig ist das, was eine Religionsgemeinschaft als heilig erklärt". (S. 102; vgl. auch S. 26 f., 88 f. u. a.; auf S. 26 f. werden sieben religionswissenschaftliche "Kriterien für heilige Schriften" angeführt)
Fälschungen sind nach Zinsers Ansicht innerreligiöse Festlegungen, in die sich Religionswissenschaft nicht einmischen sollte, nicht nur der unsicheren Quellenlage wegen, je weiter man in die Entstehungsgeschichte dieser Texte und diverser Beschlüsse zurückgehe, die sie "heilig" sprechen.
Die Grundidee der vorliegenden Studie geht über die Charakterisierung solcher Vorgänge hinaus, obwohl der Autor an vielen Stellen darauf verweist, was es für jede wissenschaftliche Beschäftigung mit Religion bedeutet, konsequent bestimmte Regeln einer modernen Religionswissenschaft einzuhalten.
Zinser geht es – und man muss sagen, in einer geradlinigen, gut lesbaren und historischen Beweisführung, die auch vor Wiederholungen nicht zurückschreckt, wenn es um die Bekräftigung bestimmer Aussagen geht – um eine "Revolution in der Religionsgeschichte, die viel zu wenig von der Wissenschaft erforscht wurde". (S. 75)
Der geschichtliche Umbruch habe in dem "Wandel des Kultus aus einem Opfersystem in einen Wortgottesdienst" bestanden. "Diese Transformation können wir im Judentum in der Zeit des Zweiten Tempels in der Diaspora, im frühen Christentum und im frühen rabbinischen Judentum beobachten. Für den Islam bildete sie bereits eine Voraussetzung und seit der Universalisierung und Globalisierung können wir deren Übernahme auch in anderen Religionen, Hinduismus, Buddhismus beobachten." (S. 45)
Auslegungsgeschichte statt Kirchengeschichte
Es ist diese kulturgeschichtliche Wende in den Religionen, die enorme Folgen für die Gesellschaften hatte und hat, in denen sie wirken. Dieser Wandel erzeugte und erforderte Kanonisierungen durch Verschriftlichung. "Heilige" Schriften entstanden, wurden absichtlich produziert, die nun der ständigen Interpretation und eines geschulten Personals bedurften.
Die griechischen Polis-Religionen und die Römer kannten keine "heiligen" Schriften. Während Orakelsprüche in der Regel vieldeutig und widersprüchlich ausfielen, wurde Gott nun für unverfügbar erklärt. Der Streit geht nun um Texte und deren Interpretation, weshalb man "vielleicht statt von Kirchengeschichte besser von Auslegungsgeschichte sprechen" sollte (S. 11).
Im Tempel wurden Götter angerufen, die hier ihr Haus hatten. Nun wird in Predigten zu den Gläubigen gesprochen, ihnen Gottes Wort und Wille erklärt. Während sich eine ausgewählte Priesterschaft (teils sogar in Erbfolge) quasi hinter den Kulissen an die Götter wandte, sind nun ganz anders ausgebildete (überhaupt: gebildete, lese- und schreibfähige) Spezialisten nötig, die ihren Gemeindemitgliedern etwas erklären. Zinser zählt sechs Konsequenzen auf, die ein Wortdienst gegenüber einem Opferdienst hat (vgl. S. 48–50), auf die er in den folgenden Kapiteln eingeht. Dabei gibt er zugleich Einblicke in neuere Forschungen und eine reichhaltige Literatur.
Der Ertrag für eine moderne Religionskritik – dafür steht der Albri-Verlag – ist wohl ein doppelter. Zum einen sehe ich ihn darin, dass eine wirkliche Religionskritik die Anerkennung von Religionen als kulturelle Tatsachen voraus- und sich einer Interpretation entgegensetzt, die sie vorrangig als "Wahn" oder dergleichen wahrnimmt.
Zum anderen gibt Zinser an vielen Stellen die Botschaft, dass die Vertextlichung des als "heilig" Angenommenen, dass der Wortgebrauch die Tür zur Vernünftigkeit öffnet. Das Theologische ist immer in der Gefahr, für Wissenschaft genommen zu werden, je (auch historisch) konkreter die Aussagen sind, die sich rationalen Argumenten stellen müssen – dies nicht nur, weil "Spatenwissenschaften" (vgl. S. 51) ernstlich Ausgrabungen vornehmen und "Heiliges" relativieren, sondern viel grundsätzlicher: "Die Religionsgemeinschaften leisten [durch ihre schriftlich erfolgenden, nachles- und überprüfbaren Auslegungen der Schriften, Anm. d. Autors] damit einen wichtigen und häufig übersehenen Beitrag zur Rationalisierung." (S. 10) Das betrifft auch den Islam (vgl. u. a. S. 106).
4 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
Der Wandel vom Opferkult zum Wortgottesdienst ist in meinen Augen der Wandel vom Aberglauben an irgendwelche Götterfamilien zu einem gesellschaftlichen Steuerungsinstrument.
Ich sehe die heutigen Religionen als Werkzeuge in den Händen der herrschenden Eliten, menschliche Gesellschaften zu steuern.
Mit den Idealen von Freiheit und Selbstbestimmung ist Menschensteuerung nicht zu vereinbaren.
Roland Fakler am Permanenter Link
Selbstverständlich gibt es keine „göttlichen“ Schriften, weil alle Religionen von Menschen gemacht wurden.
„In großer Zahl gab es Heilige Schriften in den hellenistischen Mysterien. Man verwies auf diese Bücher, wie ein Beleg aus dem Jahre 92 vor Chr. bezeugt, mit der Formel »es steht geschrieben« oder »wie geschrieben steht«9.
Im 1. vorchristlichen Jahr hundert bezeichnete man heilige Texte in der Dionysosreligion auch schlicht als »Schrift«, doch ist der Sprachgebrauch wahrscheinlich älter10. Der Isiskult war eine ausgesprochene Buchreligion und beanspruchte absolute göttliche Wahrheit"
Aber auch die Verfasser der Hermetica, einer Gruppe von achtzehn nach Hermas Trismegistos genannten Schriften, die im 1. und 2. Jahrhundert entstanden, doch auf ältere mündliche Tradition zurückgehen, betrachteten sich als Empfänger eines für die ganze Menschheit bestimmten Evangeliums. Dabei sind viele Parallelen zum Christentum bemerkenswert12. Die »Heiligkeit« einer Schrift hat somit wenig zu bedeuten.
Roland Weber am Permanenter Link
Wie man das Thema auch anpackt: Ohne Analysen der historischen Situationen wird man dem Phänomen Religion nie beikommen.
henry burchardt am Permanenter Link
Sorry, ich habe in der Rezension nicht verstanden, was das revolutionäre im Übergang vom Opferkult zum Wortgottesdienst sein soll.