Nach dem Attentat von Wien

Ist der Blasphemieparagraph noch zeitgemäß?

Zurzeit ist ein Wandel in der Gesellschaft im Gange. Einerseits gibt es immer mehr säkular denkende Gläubige in der Kirche, die in der Kirche bleiben, weil sie um ihren Job oder ihre Stellung in der Gesellschaft fürchten. Andererseits gibt es eine Bewegung in Richtung Konservativismus und die Einwanderung spült eine Welle von Fundamentalismus ins Land. Es bleibt ein Restfundamentalismus, der den Boden aufbereitet für gewaltbereite Jugendliche. Das Bild der weichgespülten Soft-Religion, das die Religionsgemeinschaften heute nach außen vermitteln, ist im Inneren noch kaum verwirklicht, solange sich Christen auf den Wortlaut der Bibel berufen. Darin erscheint Gewalt und Radikalismus als wichtigste Zutat der kindlichen Prägung.

Manche Kinder sind heute stärker gefährdet. Eben diese Prägung von Kindern nach religiösen statt weltlichen Werten und die Macht der Verdummungsmechanismen wie Videospiele und Gewaltserien nach amerikanischem Muster, welche die Welt in schwarz und weiß einteilen, sorgen dafür. Dazu gehören vor allem politische Medien, welche die komplizierte Welt bis zur Unkenntlichkeit vereinfachen und damit eine realitätsferne Welt vorspiegeln, in der man "nur" die vorgegebene Erleuchtung von der Stange, den "geistigen Urknall" haben muss, um die Lösung für alle Probleme der Welt zu finden. Mit Trump ist die geistige Durchproletarisierung der Gesellschaft an der Spitze angekommen und sorgt für Affirmation des Unglaublichen.

Noch immer müssen wir uns vor Menschen fürchten, die die Religion so ernst nehmen, dass die berühmt-berüchtigten "religiösen Gefühle" beleidigt sind. Die platte Phrase hat mit Erfolg die Religion weiter gegen Angriffe immunisiert. Potenzielle Attentäter fühlen sich damit sogar im Recht und müssen erfahren, dass ihnen auch der Staat indirekt Recht gibt, indem er nach wie vor den "Blasphemie-Paragraphen" unterstützt. Wenn auch kein Terrorist im Gesetzbuch nachsieht, ob es einen "Blasphemie-Paragraphen" gibt, so entsteht dadurch ein Klima der falschen Toleranz von Untolerierbarem. Nein, der Staat schützt nicht die "religiösen Gefühle", weil diese Menschen gefährden. Schafft den "Blasphemie-Paragraphen" 188 (in Deutschland: 166) ab! Er ist eine Entwürdigung der Religion und der Demokratie: Entwürdigung der Religion, weil Gott offenbar den Staat braucht, um geschützt zu sein.

Solange Religion autonom werken darf, an kleine Kinder herankommt und sie prägen darf, wird es hohe Ernstnehm-Faktoren geben. Solange Religion unkritisierbar bleibt, wird der Ernstnehm-Faktor zu einigen Prozentpunkten unkontrollierbar hoch sein. In Österreich ist zum Beispiel Religionskritik weitgehend verpönt. Sätze wie die des deutschen Satirikers Dieter Nuhr vor ein paar Wochen beim Radiosender OE1, wonach in einer Demokratie Religionskritik wichtig ist, kann man an einer Hand abzählen.

"Der junge Mann (der Attentäter von Wien) hatte ein völlig naives Verständnis von Religion, er dachte, er kommt direkt in den Himmel", stand in einer Zeitung zu lesen. Dieses naive Verständnis von Religion muss einem aufgeklärten weichen. Der unantastbare Nimbus der Religion muss aufgegeben werden und in einem identitätsstiftendem Universum von Erzählungen münden. Was Benedikt XVI. aus seiner Sicht mit gutem Grund bekämpfte, den Relativismus, genau den brauchen wir so dringend im Kampf gegen Fundamentalismus, weil dieser den hohen Ernstnehm-Faktor für die archaische Gedankenwelt begünstigt, den brachialen Mythenkosmos mit beauftragten Genoziden, Vergewaltigungen, sogar die Verbrennungsöfen für Menschen. "Hasst Vater und Mutter, … ja sogar euch selbst, wenn ihr meine Schüler sein wollt!" (Luk 14/26–27). Eine Welt, in der man die niedrigsten Gefühle ausleben kann. Religion als Türöffner zu einer permissiven Gefühlswelt, die im Namen der Religion alles erlaubt, aber Religion selbst mit autoritären Mitteln verteidigt. Bekanntlich ist die größte Sünde der "Nicht-Glauben", die Apostasie, der Abfall vom Glauben.

Der Wiener Terrorakt hat einmal mehr gezeigt, dass ein harmloses Bürschchen zum Mehrfachmörder werden kann, wenn die natürlichen Hemm-Mechanismen versagen oder ausgeschaltet werden. Ein Weg dazu ist die ernstgenommene Religion. Sie führt zum Anti-Raskolnikow, also vom "Ohne Gott ist alles erlaubt" zum "Allahu akbar!" – so heißt das Zauberwort. "Alles ist zugelassen, wenn es Gott gefällig ist!" Was Gott gefällig ist, das lesen Zeloten aller Schattierungen aus ihrem einen Buch heraus und interpretieren es notfalls in ihrem Sinne.

Der heutige Eklektizismus versteckt solche Zitate verschämt. Eine Heerschar von Theologen fährt auf und die Essenz ist schnell verschwurbelt. Religion ist heute gebügelt, geglättet und desinfiziert. Aber jeder, der will, kann es nach wie vor lesen: "Haut ihnen auf die Hälse …!", spricht der Prophet (Sure 8.12). Jeder kann es auch ernst nehmen. Die in der Moschee sind die Letzten, die den Ernstnehm-Faktor auf ein akzeptables Niveau drücken werden. Auch im Katholizismus gibt es knallharte Fundamentalismen, man lese: "Der Weg" des Opus Dei-Gründers Josemaría Escrivá.

Die Rest-Fundamentalisten sind nicht immer Spinner, sie sitzen zum Teil in unseren Parlamenten und Ministerien. In der Politik hört man nach wie vor fußfällig auf die Amtskirche. Alle Fachleute und die meisten Bürger sind für den "Ethikunterricht für alle", in dem der Staat objektiv über das Phänomen Religion informiert statt den Religionen taxfrei die Kinder zur Missionierung freizugeben und dafür sogar noch bezahlt.

Fundamentalisten stehen hinter "Blasphemie-Gesetzen", die ein moderner aufgeklärter Mensch nur verachten kann. Man stelle sich vor, dass jede Kritik an politischen Einstellungen mit Gefängnis bestraft würde, dass es ein Gesetz gäbe, das eine "kritikfreie Zone" schafft – toxisch für jede Demokratie. Schändlich und abstrus ist vor allem, dass der subjektiv beleidigte Apologet sich durch das Gesetz innerlich bestätigt fühlen darf. Ein Rest-Fundamentalismus! Mit solchen Gesetzen begibt man sich im Grundsatz auf eine Ebene mit Staaten wie Pakistan, Saudi-Arabien und Afghanistan – eine Schande für einen westlichen Staat.

Man kann bei Heiko Heinisch1 nachlesen, dass eine Beleidigung von religiösen Gefühlen unmöglich ist. Man kann prinzipiell nur eine Person beleidigen. Eine Ideologie, eine Religion, ein "–Ismus" muss immer offen für Kritik bleiben. Alles andere kommt einer Teil-Entmündigung der Bevölkerung gleich.

Stoppt endlich den "Blasphemie-Paragraphen"!


1 Nina Scholz und Heiko Heinisch, "Charlie versus Mohammed: Plädoyer für die Meinungsfreiheit", 2015

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