Menschen neigen zu einer Flucht in eine virtuelle Welt

Der Glaube an ein Leben nach dem Tod – und an Harry Potter

Die Angst vor Unfällen, Schicksalsschlägen und schweren Krankheiten begleitet uns ein Leben lang. Wie ein lästiger Schatten, der sich nicht abschütteln lässt. Zu oft haben wir erlebt, dass wir zerbrechlich sind und rasch aus der Bahn geworfen werden können. Denn wir wissen: Von einem Moment auf den anderen kann das Leben dramatisch auf den Kopf gestellt werden.

Nach solch einschneidenden Erlebnissen sehnen wir uns reflexartig nach einem Zauberstab oder einem Wunder. Wir möchten die Zeit zurückdrehen und das traumatische Ereignis ungeschehen machen. Das passiert auch nüchternen Charakteren, die eigentlich wissen, dass wir die Zeit nicht anhalten und die Schwerkraft nicht aushebeln können.

Der Glaube an Wunder sitzt tief in uns und ist vermutlich genetisch verankert. Unsere Urahnen, die weder medizinische noch technische Hilfsmittel hatten, um gewisse Schicksalsschläge abzufedern, kultivierten schon vor Jahrhunderten die Hoffnung auf Erlösung.

Und unsere Kinder werden mit Märchen gefüttert, in denen sich Wunder im Minutentakt ereignen. Die fantastischen Geschichten sollen helfen, den Kindern, die der Welt der Erwachsenen ausgeliefert sind, Mut und Hoffnung zu machen.

Harry Potter und die Sehnsucht nach einer Welt ohne Grenzen

Dieses Phänomen zieht sich heute bis ins Erwachsenenalter. Wir werden überschwemmt mit Fantasyfilmen und -büchern. Die Flucht in virtuelle Welten, in denen Wunder die Hauptmotive sind, ist für viele eine Lieblingsbeschäftigung. Nicht umsonst gehört Harry Potter zu den beliebtesten Popkultur-Phänomenen. Die Sehnsucht nach einer Welt, in der es keine Grenzen gibt, hört mit dem Ende der Kindheit nicht auf.

Auch der religiöse Glaube nährt diese Sehnsucht. In der Esoterik wird die Erleuchtung angestrebt, die zerbrechliche Menschen zu gottähnlichen Wesen machen soll. Geistheiler sind überzeugt, mit ihren Händen Krebstumore zum Schmelzen zu bringen. Patienten sind begreiflicherweise gern bereit, an die Wunderkräfte der modernen Medizinmänner und -frauen zu glauben.

Außerdem schicken viele Zeitgenossen – auch solche, die nicht besonders esoterisch unterwegs sind – täglich Wünsche ans Universum und erhoffen sich von dem Ritual Wunder.

Der Glaube an Wunder wird schnell zum Aberglauben

Auch bei den Weltreligionen begegnen wir permanent solchen Wundern. Gläubige sind überzeugt, dass die Hunderte von Göttern Wunderkräfte besitzen und diese zum Wohl der Menschen einsetzen. Bei schweren Krankheiten oder Kinderlosigkeit pilgern sie täglich in den Tempel und bringen Opfer dar, um ihren Lieblingsgott gewogen zu stimmen. Auf dass dieser eine Wunderheilung bewirke.

Auch die Buchreligionen halten sich in Sachen Wunder nicht zurück. Propheten werden mehrere hundert Jahre alt, Jesus ging über das Wasser, vermehrte Fische, erweckte Tote zum Leben, flog in den Himmel und so weiter. Auch Marias Himmelfahrt wird von den Katholiken jährlich gefeiert.

Hotspots für Wunder sind auch die vielen Wallfahrtsorte. Unheilbar Kranke pilgern zu Hunderttausenden an die heiligen Orte und erhoffen sich eine wundersame Heilung. Doch es bleibt, abgesehen von Spontanheilungen im Promillebereich, immer bei der Hoffnung.

Kultivierung des Wunderglaubens ist ein Missbrauch

Die Kultivierung des Wunderglaubens ist ein geistiger und geistlicher Missbrauch. Das Züchten von falschen Hoffnungen ist psychologisch problematisch. Das zeigt sich am Beispiel von angeblichen Wunderheilungen exemplarisch.

Konkret: Ein Krebspatient, der sich einem Wunderheiler anvertraut oder nach Lourdes pilgert, erlebt durch die große Hoffnung eine Ausschüttung von Adrenalin und Endorphin. Verbunden mit dem Ritual kann es zu euphorischen Zuständen führen.

Diese Energie und die Glücksmomente werden als Beginn des Heilungsprozesses interpretiert. Die riesige Enttäuschung folgt später so sicher wie das Amen in der Kirche. Diese Enttäuschung frisst die Freude auf und zerstört viel Hoffnung und Lebensenergie. Die Patienten sind am Boden zerstört. Vor allem, wenn sie glauben, von Gott nun definitiv fallengelassen worden zu sein.

Damit kommen wir zur Gretchenfrage: Ist vielleicht der Glaube an eine Erlösung nach dem Tod oder an eine Wiedergeburt auch ein Wunderglaube?

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.

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