Für Christen bestand über Jahrhunderte kein Zweifel, dass das Neue Testament das Leben von Jesus authentisch nachzeichnet. So wurde es ihnen von den Geistlichen gepredigt, so wurde es ihnen später im Religionsunterricht weisgemacht. Es brauchte früher viel Mut und einen sehr kritischen Geist, um am biblischen Bild oder gar an der Existenz von Jesus zu zweifeln. Schließlich galt es als Gipfel der Blasphemie, den Fleisch gewordenen Gottessohn zu hinterfragen.
Als sich Intellektuelle, unabhängige Bibelforscher und Philosophen von den religiösen Doktrinen zu emanzipieren begannen, geriet das Jesusbild aus dem Neuen Testament ins Wanken. Die Quellenlage entsprach nicht den erforderlichen Standards, denn die Autoren der vier Evangelien lebten später als Jesus und hatten ihn nicht gekannt.
Außerdem hatten ihn die damaligen Historiker kaum wahrgenommen oder nur mit einer Randnotiz erwähnt. Gekannt hatte ihn keiner. Zudem zeichneten die Evangelisten oft ein widersprüchliches Bild vom Sohn Gottes. Einerseits war er der barmherzige Rebell, andererseits drohte er Sündern und Ketzern Höllenqualen an.
Kommt hinzu, dass manches am Leben von Jesus und seiner Heilslehre an Mythen und Legenden erinnert, wie wir sie teilweise von früheren Religionen kennen. So vermehrte er beliebig Fische, heilte Kranke und erweckte Tote zum Leben. Schließlich erstand er vom eigenen Tod auf und entschwand in die himmlischen Sphären.
Krampfhafte Suche nach den Zeichen
Solche Erkenntnisse verunsicherten viele Gläubige. Sie suchten krampfhaft nach Zeichen, die die Existenz von Jesus beweisen und sie im Glauben bestärken sollten. Die Suche nach solchen angeblichen Beweisen trieb und treibt abstruse Blüten und verstärken die Zweifel an der Existenz von Jesus eher noch als sie zu zerstreuen.
Jesus 2.0
Da ist einmal der italienische Pater Pio. Nach einer Umfrage der katholischen Zeitschrift Famiglia Cristiana beteten einst mehr italienische Gläubige zu ihm als zu Jesus Christus oder zur Mutter Gottes. Er galt quasi als Jesus 2.0.
Pater Pio identifizierte sich angeblich so sehr mit Jesus und litt so stark mit ihm, dass er die gleichen Wundmale entwickelte, die ebenfalls bluteten. Dass sich der "neue Jesus" die Stigmata selbst zugefügt hatte, interessierte die Gläubigen nicht, die zu Hunderttausenden zum Kapuzinerkloster von San Giovanni Rotondo, Apulien, pilgerten. Auch nach seinem Tod 1968. Pater Pio nahm auch Wunderheilungen wie Jesus vor und hatte noch andere religiöse Tricks auf Lager.
Der Vatikan beendete den okkulten Spuk um die katholische Kultfigur nicht, sondern sprach den Pater fast in Rekordzeit selig und heilig. Schließlich war Pio die erfolgreichste PR-Figur neben dem Papst.
Und täglich erscheint die Mutter Gottes
Auch Wallfahrtsorte dienen dazu, Pilgern angebliche Glaubensbeweise zu liefern und sie an die Kirche zu binden. Beim Wallfahrtsort Medjugorje in Bosnien-Herzegowina zum Beispiel erscheint seit vielen Jahren täglich die Mutter Gottes einer Seherin und übermittelt der braven Frau angeblich authentische Botschaften aus dem Himmel, die postwendend für die Pilger übersetzt werden. Das dreiste Ritual soll signalisieren, dass Jesus sorgsam wacht und sich uns offenbart. Wer solche himmlischen Fake News für bare Münze nimmt, zweifelt nicht mehr an der Existenz des Gottessohnes.
Eine ähnliche Funktion üben auch Reliquien aus. Davon gibt es unzählige, zum Beispiel Milchzähne von Jesus, seine Nabelschnur, seine Vorhaut (von der Beschneidung) und so weiter. Gebeine sind bekanntlich nicht auffindbar, da Jesus in voller Größe in den Himmel aufgestiegen ist. Solche erstklassigen Reliquien reklamieren zwar nur sehr abgedrehte Gläubige für sich, zweit- und drittklassige kursieren aber auch bei geistig unauffälligen Katholiken.
So werden angebliche Holzsplitter und große Teile des Heiligen Kreuzes verehrt, an dem Jesus seinen Tod gefunden haben soll. Andere behaupten, im Besitz eines Nagels zu sein, die seine Hände oder Füße durchbohrt hätten. Es gibt auch einen Fußabdruck, der von Jesus stammen soll, Kleidungsstücke, heilige Tücher und vieles mehr.
Der kuriose Kult um das Grabtuch
Einen kuriosen Kult betreiben auch weite Kreise der katholischen Welt um das angebliche Grabtuch von Jesus. Dieser heilige Fetzen Stoff, Turiner Grabtuch genannt, kam am Sonntag zu uns nach Wädenswil. Der Diakon Andreas Neira stellt es in der Pfarrkirche St. Marien aus. Zwar nicht das Original – dieses wird wie der Augapfel von Jesus gehütet –, sondern eine Kopie davon. Das angebliche Original wird in Turin hinter Panzerglas gelagert und mit Edelgas behandelt, um den Zerfall zu verhindern.
Das Tuch wurde von vielen Experten untersucht. Sie kamen mehrheitlich zum Schluss, dass es aus dem Mittelalter stammen soll. Selbst der Vatikan akzeptiert es nicht als Reliquie, sondern lediglich als Ikone. Trotzdem sind viele strenggläubige Katholiken überzeugt, dass Jesus nach dem Kreuztod in dieses Tuch eingewickelt und ins Grab gelegt worden ist.
Zu ihnen gehört auch Diakon Andreas Neira, der stolz darauf ist, das Duplikat nach Wädenswil geholt zu haben. Bei der Eröffnung der Ausstellung erwies auch der neue Churer Bischof Joseph Bonnemain dem Grabtuch die Ehre. Das ist ein weiteres Signal an traditionalistische Katholiken, dass das Tuch wahrscheinlich doch eine Reliquie ist.
So oder so offenbart die Verehrung des Turiner Grabtuches einen kindlich-naiven Glauben, denn es gibt keinen einzigen plausiblen Hinweis, dass Jesus nach seinem Tod mit diesem Tuch bedeckt worden sein soll. Sicher ist nur, dass solche Grabtücher, in denen die Gestalt der Toten abgebildet ist, im Mittelalter kunstvoll hergestellt wurden.
Mit der okkult anmutenden Aktion verliert die katholische Kirche bei rational denkenden Gläubigen weiterhin an Glaubwürdigkeit. Mit solchem Aberglauben schaufelt sie sich das eigene Grab.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.