Eine zentrale Antwort auf Corona lautet: Wir müssen Arbeit, Gesundheit, ja unser gesamtes Leben noch schneller und tiefer digitalisieren. Idealerweise projizieren wir künftig unsere analoge Welt auf eine digitale Fläche, um sie dort effektiver zu bearbeiten. So haben einige Unternehmen bereits digitale Zwillinge erstellt, die ihre materielle Form binär repräsentieren. Mit ihrem Projekt "Destination Earth" bilden europäische Wissenschaftler derzeit die Erde digital ab, um den Klimawandel zu simulieren. Der Siegeszug der allumfassenden Digitalisierung, so scheint es, ist nicht mehr aufzuhalten. Getreu der griffigen Parole einer politischen Partei aus dem letzten Bundestagswahlkampf: Digitalisierung first. Bedenken second.
Ob sich Bedenken jedoch lapidar aus den Köpfen von Menschen wegwischen lassen, bezweifle ich. Denn die Frage, wie wir mit Technik umgehen sollen, beschäftigt die Menschheit spätestens seit der frühen Industrialisierung. Leider lässt die Antwort auf diese Frage kaum Raum für Schattierungen. Vielmehr spaltet sie – etwas holzschnittartig zugeschnitten – Gesellschaften in das Lager der Rückwärtsgewandten, die sich von neuer Technik distanzieren oder gar bedroht fühlen (denken wir nur an die Weber aus dem 19. Jahrhundert); und auf der anderen Seite tummeln sich Apologeten, für die jede neue Technologie den Fortschritt verkörpert und daher vorbehaltlos zu begrüßen ist. Technik gilt in dieser Geisteshaltung als sakrosankt, als die passende Lösung für fast alle Probleme. Denken wir beispielsweise an die Klimakrise, in die wir immer tiefer hineinrutschen: Für viele Naturwissenschaftler (und für gesellschaftliche Kräfte) lässt sie sich am besten durch ein technologisches Geo-Engineering lösen. Das ist Fortschritt pur.
Ein nur in schwarz-weiß gezeichnetes Weltbild hilft so gut wie nie weiter. Wenn wir auf die Digitalisierung blicken, sollten wir vielmehr den Zoom sehr weit aufziehen. Denn es geht bei technischem Wandel immer um die Frage, wie sich Gesellschaften entwickeln wollen. Eigentlich sollte sie auf der Agenda ganz oben stehen. Erst danach geht es um die Frage, welche Rolle digitale Technologien dabei spielen. In diesem Ansatz wäre Technik also "nur" Mittel zum Zweck, um gesellschaftlich gewünschte Ziele zu realisieren.
Heute hat sich das Verhältnis zwischen Technik und Gesellschaft umgekehrt: Die Digitalisierung kristallisiert sich als ein nicht mehr zu hinterfragender Selbstzweck heraus. Bedenken werden weggewischt, Gesellschaften haben sich der Technik und all ihren Implikationen unterzuordnen. Wenn wir diesen Prozess nicht reflektieren – so gebe ich zu bedenken –, erzeugen und implementieren wir Technologien, die sich fernab von gesellschaftlichen Zielen verselbständigen und in eine Art stählernes Gehäuse der Technik münden (in Anlehnung an Max Webers Begriff vom "stählernen Gehäuse der Hörigkeit").
Denken first, Digitalisierung second
Vielleicht denken Sie jetzt: Was haben diese philosophisch gefärbten Einwürfe mit unserer Wirtschaftswelt zu tun? Transferieren wir sie in einen unternehmerischen Kontext, dann geht es hier durchaus um ähnliche Konstellationen: Laufen wir der Digitalisierung wie Lemminge hinterher oder klopfen wir sie auf ihren Nutzen für das eigene Geschäftsmodell, für die eigenen Märkte und für die Kunden hin ab? Wenn sich ein Mehrwert zeigt, was gilt es dann digital anzugehen und wie lässt sich dies mit der analogen Welt zu gut funktionierenden hybriden Modellen zusammenbauen?
Denken first, Digitalisierung second – so lautet folglich mein persönliches Credo. Doch scheint es eher so zu sein, dass es in vielen Unternehmen anders läuft. Denn kaum ein Unternehmen will es sich leisten, den Digital-Zug zu verpassen. Also stoßen Unternehmen Projekte an, ohne sich über ihre Reise und ihre Destination im Klaren zu sein. Hauptsache digital, verknüpft mit den gehypten Buzzwords, um das passende Narrativ zu erzählen. Wiederum philosophisch betrachtet, befinden sich Unternehmen damit auf der Ebene einer rein instrumentellen, aber nicht einer allumfassenden Vernunft. Die Dialektik der Aufklärung lässt grüßen.
Diese verkürzte Ratio – hier schließt sich wiederum der Kreis – betrifft unseren gesamten Umgang mit der digitalen Transformation. Wenn es uns gesellschaftlich nicht gelingt, mit neuen Technologien reflektiert, also im besten Sinne aufgeklärt umzugehen, wird die Digitalisierung zu einem Tanz um das goldene Kalb, der uns den Rhythmus vorgibt. Der Soziologe Harald Welzer bringt es auf den Punkt: "Im Augenblick wedelt in Sachen Digitalisierung der Schwanz mit dem Hund. Sich von Algorithmen vorschreiben zu lassen, wie man leben soll, ist der Wiedereintritt der Menschen in die selbst verschuldete Unmündigkeit ... Eine mündige Gesellschaft versteht Digitalisierung nicht als Schicksal, sondern als Gestaltungsaufgabe."
6 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
Bei jeder neuen Technologie geht es im ersten Schritt darum, auszuloten was damit möglich ist.
Wenn das technologische Rennen in Anwendungen mündet, ist schon die Frage zu stellen, welche Anwendungen wollen wir, mit welchen Regeln. Es ist aber eine Illusion zu glauben, in einer globalisierten Welt mit offenen Grenzen könne eine Regulierung von Technik noch im nationalen Rahmen geschehen.
Als höchst problematisch sehe ich Tendenzen an, auf neue Technologien Heilserwartungen zu projezieren. Neue Technik ist kein Messias. Technik wird nicht von sich alleine die Weltprobleme lösen. Es kommt hier auf den weisen Gebrauch der Technik (allgemein, nicht reduziert auf Digitalisierung) an.
Letztlich ist jede Technologie nur ein Werkzeug in den Händen von Menschen.
pi am Permanenter Link
Ein guter Punkt: Der Wettbewerb ist – neben ahnungslosem Buzzwording – einer der Treiber einer zu wenig gesteuerten und regulierten Entwicklung.
Roland Fakler am Permanenter Link
Der letzte Satz ist der beste: "Eine mündige Gesellschaft versteht Digitalisierung nicht als Schicksal, sondern als Gestaltungsaufgabe."
IT und KI müssen Angebote bleiben, die ich annehmen oder ablehnen, am besten sinnvoll für mich nutzen kann, sie dürfen mich nicht beherrschen. Das ist alles nicht einfach nur gut und nützlich, sowenig wie das Angebot in einer Konditorei, die uns freien Zugriff erlaubt und die uns schwer schaden würde, wenn wir uns keine Grenzen setzen würden.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Wir müssen Arbeit, Gesundheit, ja unser gesamtes Leben noch schneller und tiefer digitalisieren" - da wollte ich, gleich nach dem Teaser, schon das Lesen einstellen.
Olaf am Permanenter Link
Danke!
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Mutige Worte in einer Zeit des Digitalwahns.
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Widerworte werden nicht gerne gehört und wenn sie - wie mir passiert - im hpd-Facebook niedergeschrieben wurden, dann wird man vom Erstkommentator geblockt und kann seine eigenen Widerworte nicht mehr lesen, geschweige denn mögliche Antworten darauf. Feigheit nenne ich das. Und ob das mit Art. 5 unserer Verfassung konform geht, weiß ich auch nicht.
In nenne diese Phase, in der wir uns befinden, gerne das "Digi-Tal", das wir durchschreiten. Nicht, dass die Technik an sich schlecht wäre. Im Gegenteil, sie hat uns einen Technologieschub beschert wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Doch im Gegensatz zu allen vorherigen Erfindungen - vom Rad bis zu den Webstühlen - kann ich in der "Digitalisierung" (ein auf makabre Weise passendes Wort) einen dramatischen Paradigmenwechsel erkennen.
Der Mensch wird zum Spielball, um nicht zu sagen zum Opfer der schönen neuen Digitalwelt. Wir werden mathematisch erfassbar, mittels Algorithmen beeinflusst, marktgerecht hingebogen, suggestiv manipuliert - pardon: geinfluenced -, sodass wir uns alle wohl und verstanden fühlen dürfen. Das ist doch allemal besser, als wenn wir (wie in "Matrix") als Batterien für eine Alienrasse fungieren müssten. Dabei begreifen wir kaum noch, dass der Kokon diesmal nur nicht physisch ist, sondern digital - als Echokammer.
Das liegt nicht an der Technik an sich. Die ist wunder- und brauchbar. Es liegt daran, dass sich die Industrie ihrer in verantwortungsloser Weise bemächtigte. In den 60ern und Anfang der 70er gab es es Bücher, die eine schöne neue Welt verstellten, ernsthafte Bücher mit futuristischen Autos, die atomgetrieben sein sollten. Für jedermann! Man kann von Glück sagen, dass es dann doch Atomenergiekommissionen gab, die das verhinderten. Atomkraft in privaten Händen war einigen offenbar doch zu heiß.
Dabei enthält die allerorts gehypte Digitalisierung weit mehr Sprengkraft. Sie sprengt nämlich die Gesellschaft. Der Prozess ist längst im Gange und mir schwant Schreckliches. Twitter-Trump war nur der Anfang. Die rein marktgesteuerte Durchdringung der Gesellschaft war aus meiner Sicht ein Fehler, der diese an sich wunderbare Technik zunehmend in Misskredit bringt.
Heute kämpfen wir einen aussichtslosen Kampf gegen Wildwuchs und Cyberkriminalität, gegen Darknet mit Waffen-, Drogen- und Kinderhandel, gegen die digitale Demenz, gegen den Kontrollwahn durch "soziale" Medien. Gegen die Ausbeutung der Menschen - diesmal nicht als lebende Batterien. Im Gegenteil. Dieser Technologiehype hat den Energieverbrauch der Menschheit nach oben schnellen lassen. Und das in einer Zeit des Klimawandels, in der eher möglichst viele Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen abgeschaltet werden müssten.
Doch während man in Matrix aus diesem Alptraum erwachte, finden viele diese Welt sehenden Auges toll - weil sie von Marketing-Experten so zurecht geschneidert und mittels Algorithmen personalisiert wurde - mundgerecht für den, den man aussaugen will. Guten Appetit!