"Celebrating Dissent" Köln 2022 – Tag 2

Säkularismus: Eine Freiheitsgarantie für alle

Am vergangenen Wochenende fand in Köln der zweitägige internationale Kongress "Celebrating Dissent" statt. Auf dieser nach Selbstbeschreibung "größten und prominentesten Versammlung von Ex-Muslimen, Freidenkern und Intellektuellen, die die Freiheit des Denkens verfechten, seit Beginn der Covid-19-Pandemie" waren auch einige säkulare Stargäste vertreten, allen voran Richard Dawkins. Der hpd berichtet in zwei Teilen über das intensive Programm aus Diskussion, Filmvorführungen, Kunstprojekten, Aktivismus und Musik.

Es ist wohl eine anthropologische Konstante, dass jüngere Generationen neue Freiheiten einfordern, während die Elterngeneration noch stärker in traditionellen Strukturen verankert ist. Dass dies zu Konflikten führt, ist nur konsequent. Wie heftig diese ausfallen, ist abhängig davon, wie viele Gemeinsamkeiten man noch teilt. Ist man in seinen Vorstellungen zu weit voneinander entfernt, kann es sein, dass man keine Gesprächsgrundlage mehr findet und sich völlig entfremdet oder sogar im Hass auseinandergeht. Eine Konfrontation ist nie einfach, kann aber mittels bestimmter Gesprächstechniken so gelenkt werden, dass sie nicht völlig eskaliert. Wie eine solche Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen und einander fremden Lebenswelten gelingen kann, darüber hat die Schauspielerin Nazmiye Oral ein Theaterstück geschrieben. Über seine Entstehung und das darin stattfindende therapeutische Familiengespräch hat die niederländische Regisseurin Mijke de Jong einen Dokumentarfilm gedreht, der zu Beginn des zweiten Konferenztages gezeigt wurde.

Nazmiye Oral ist eine liberale Frau, sie ist geschieden, lebt nicht nach den Regeln des Islam, während ihre Mutter streng gläubig ist und den religiösen Traditionen alles unterordnet. Sie sind unverrückbar für sie, was auch bedeuten kann, dass sie die Wünsche ihrer Tochter nicht berücksichtigt und in Kauf nimmt, emotionalen Schaden anzurichten, wenn die Alternative ist, von den vorgegebenen Strukturen abzuweichen. Im Gespräch legen sich Mutter und Tochter gegenseitig ihre Positionen dar. Sie lieben sich trotz allem, doch sollte ihre Tochter sagen, dass sie nicht an Gott glaube, würde es sie umbringen, so die Mutter. Also sagt Nazmiye Oral es nicht. Es fließen viele Tränen, es folgt ein Streit, nachdem Oral gesteht, dass sie einmal abgetrieben hat. Dennoch begegnet man sich respektvoll und bleibt eine Familie. Eine Erfahrung, die viele Ex-Muslime – vor allem weibliche – anders machen mussten, wie auch in der anschließenden Diskussion deutlich wurde.

Das fünfte Diskussionspanel
Das fünfte Diskussionspanel (von links): Milad Resaeimanesh, Victoria Gugenheim, Savin Bapir-Tardy, Nazmiye Oral, Mimzy Vidz und Moderatorin Helen Nicholls (National Secular Society). (Foto: © Eva Witten)

YouTuberin Mimzy Vidz etwa sagte, der Familie zu eröffnen, dass sie vom Glauben abgefallen ist, sei bei ihr gewesen, wie einen Teil von sich selbst, gar die eigene Identität zu verlieren. "Dein Geburtsrecht, teil deiner Familie zu sein, ist weg." Vielleicht kämen die Familienmitglieder irgendwann wieder zurück, hofft sie, und sie könnten ein neues Verhältnis aufbauen. Es sei ein "ewiger Bewältigungsprozess". Das atheistische Coming-Out bedeute den "sozialen Tod", pflichtete Savin Bapir-Tardy, Psychologin an der University of West London, ihr bei. Dem ungehorsamen Familienmitglied solle der Einfluss entzogen werden, damit es keinen Kontrollverlust gebe. Bei diesem Verhalten der Familien spielten Ehre und Scham eine große Rolle, was emotional und irrational sei, analysierte sie. Frauen seien eine Währung, ihr Wert die Jungfräulichkeit. Die Tests, die zur Überprüfung derselben dienen, erfüllten die Kriterien von sexueller Gewalt. Man müsse das Verlassen der Religion unter Muslimen normalisieren, forderte Milad Resaeimanesh vom Central Committee of Ex-Muslims in Scandinavia. Dafür brauche es mehr Information, auch, dass Atheisten als solche benannt würden.

"Meinungsfreiheit ist das Gewissen einer jeden lebenden Gesellschaft"

Als nächstes gab Ensaf Haidar dem Publikum ein Update zur Situation ihres Mannes, dem mittlerweile aus der Haft entlassenen, aber mit einem Ausreiseverbot belegten Raif Badawi. Nach den geltenden Auflagen werde er seine Tochter, die acht Jahre alt war, als er ins Gefängnis musste, erst wiedersehen können, wenn sie 28 ist. Seine Freilassung sei unter Vorbehalt, unvollständig und ungerecht gewesen. Er dürfe sich nicht öffentlich äußern. Er wurde schuldig gesprochen, weil er den Islam beleidigt habe, aber sein wahres Verbrechen sei gewesen, dass er an sein Recht auf Meinungsäußerung glaubte. Die Religion werde benutzt, um einen Mangel an Legitimität und einen autoritären Regierungsstil zu verstecken. Die Meinungsfreiheit sei daher "das Gewissen einer jeden lebenden Gesellschaft". "Ohne Meinungsfreiheit gibt es überhaupt keine Freiheit". Auch zur Unterstützung von Raif Badawi hatte Performance-Künstlerin Victoria Gugenheim etwas vorbereitet: Ein großes Transparent, auf das jede:r einen roten Handabdruck hinterlassen und Botschaften der Solidarität festschreiben konnte.

Solidaritätsaktion für Raif Badawi
Victoria Gugenheim mit dem Transparent für Raif Badawi, das die Teilnehmer gestalten konnten. (Foto: © Eva Witten)

Danach warf Michael Schmidt-Salomon (Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung) zusammen mit der Gründerin und Sprecherin des Zentralrats der Ex-Muslime in Deutschland Mina Ahadi einen Blick zurück auf die Anfänge der Ex-Muslim-Bewegung, die hierzulande vor mittlerweile 15 Jahren ihren Anfang nahm und mittlerweile zu einem weltweiten Phänomen geworden ist. Der pointierte Begriff bedeute für sie in erster Linie den Kampf gegen den Politischen Islam und gegen ISIS, aber auch eine kritische Haltung gegenüber Multikulturalismus und Postmodernismus. Er bringe außerdem die klare Abgrenzung von der Zuschreibung "Moslem" zum Ausdruck, die für Ahadi immer wie ein schwarzes Tuch über ihrer Existenz lag, wie sie sagt. Er sorgte seinerzeit für große Aufregung und hat sich mittlerweile fest etabliert. Zur Veranschaulichung wurde der Film anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Zentralrats gezeigt, von dem es heute zahlreiche Pendant-Organisationen in anderen Ländern gibt. Einige von ihnen waren mit Vertretern auch auf der stattfindenden Konferenz zugegen. "Wir müssen aber noch weitergehen", so Ahadi. "Wir müssen der Bewegung in den sogenannten islamischen Ländern noch mehr Raum geben und sie verteidigen."

Mina Ahadi und Michael Schmidt-Salomon
Mina Ahadi im Gespräch mit Michael Schmidt-Salomon (Foto: © Eva Witten)

Der nachfolgende Programmpunkt war ein weiteres Diskussionspanel, das sich mit Identitätspolitik, Rassismus und Fundamentalismus befasste. Marieme Helie Lucas, Gründerin von Secularism Is A Woman's Issue und Women Living Under Muslim Laws: "Politiker mögen die Ideen der Identitätspolitik. Die Gesellschaft wird aufgespalten und dadurch geschwächt." Die Identitätspolitik sei allerdings nicht immer so rückschrittlich gewesen, warf die britische Rechtsanwältin Pragna Patel ein, ehemalige langjährige Direktorin der Organisation Southall Black Sisters, die sich für die Rechte von Frauen, die Minderheiten angehören, einsetzt. "Die Linken haben versagt", konstatierte sie. Dies und staatliches Appeasement habe rechten Fundamentalisten den Weg geebnet. "Wenn der Staat sich zurückzieht, füllt Religion das Vakuum." Es seien die Fundamentalisten, die am lautesten schrien im Namen von Multikulturalismus, Antirassismus und Menschenrechten. Doch man müsse sich immer wieder erinnern: Fundamentalisten nutzten die Menschenrechte selektiv. Man müsse den Kulturrelativismus herausfordern und Staat und Religion dringend getrennt halten. "Sonst verlieren wir gegen die Rechten und die Fundamentalisten. Sie gewinnen an Boden." Der Säkularismus sei eine Freiheitsgarantie für alle, fügte Nada Peratović, Gründerin des Center for Civil Courage in Kroatien, hinzu. Religiöse Menschen dächten, der Säkularismus nähme ihnen etwas weg, dabei, so ergänzte Marieme Helie Lucas, würden säkulare Gesetze ja die Religionsausübung nicht verbieten. Lucas wünscht sich, dass an einer internationalen Bewegung des Säkularismus gearbeitet wird.

Das sechste Diskussionspanel
Das sechste Diskussionspanel (von links): Nada Peratović, Pragna Patel, Marieme Helie Lucas, Zara Kay (Gründerin der Ex-Musliminnen-Plattform "Faithless Hijabi"), Mazen Abou Hamdan (libanesischer Experte für Friedensbildung und Good Governance) und Moderator Sohail Ahmad (in den Sozialen Medien bekannt als "Reason on Faith"). (Foto: © Eva Witten)

Mit welchen Mitteln man diese voranbringen könnte, darum drehte sich die letzte Debatte der Konferenz: Nämlich, welche Rolle Kreativität spielen kann, Fundamentalismus herauszufordern und Säkularismus zu verteidigen. Alle Diskutant:innen waren sich in der nicht zu unterschätzenden Bedeutung dessen einig: "Kreativität ist unser Motor", sagte etwa Mohamed Hisham, der nach Deutschland floh, nachdem er in einer ägyptischen Talkshow über Atheismus gesprochen hatte. Sie müsse geschützt werden, denn wenn man Angst habe, setze eine Selbstzensur ein. Ibtissame Betty Lachgar (Mouvement Alternatif pour les Libertés Individuelles – eine Organisation für zivilen Ungehorsam) aus Marokko nannte Beispiele für Aktionen, wie sie die sozio-religiösen Strukturen ihres Landes herausfordert und dafür vor Gericht und im Gefängnis landet. Unter anderem hatte sie während des Ramadan tagsüber ein öffentliches Picknick veranstaltet. "Ich habe nie Angst. Ich weiß nicht, was das ist, das hilft mir bei meinem Aktivismus", entgegnete sie bei einem Frage-Antwort-Spiel. Dabei wurden den Podiumsgästen Fragen gestellt und sie sollten zur Beantwortung ein Ja- und/oder Nein-Schild hochhalten. Dabei gab es die ein oder andere Überraschung: "Bist du islamophob?", bejahten zwei Teilnehmer – sie seien nur nicht muslimophob. Ob sie ihr Engagement liebten, darauf antworteten zwei Diskutanten mit Nein. Maryam Namazie, Sprecherin des Council of Ex-Muslims of Britain, resümierte: "Kreativiät bringt Hoffnung." Sie sei das Gegenteil von Gewalt und Hass. "Wir werden das letzte Wort haben." Und Mohamed Hisham ergänzte: "Der Islam wird uns überleben, aber wir können ihn zähmen."

Das siebte Diskussionspanel
Das siebte Diskussionspanel (von links): Moderatorin Jenny Wenhammar (Gründerin des schwedischen Ablegers von Femen), Ibtissame Betty Lachgar, Mohamed Hisham, Amed Sherwan (Aktivist and Blogger aus dem Irak), Maryam Namazie und Nadia El Fani (Filmemacherin). (Foto: © Chadi Wehbe)

Was passieren kann, wenn Religion und politisches Handeln verknüpft werden, lässt sich aktuell am Ukraine-Krieg beobachten. Darauf spielte auch Inna Shevchenko, die Anführerin von Femen an, die eigentlich mit auf der Bühne hätte sitzen sollen, aber abgesagt hatte, auch weil sie desillusioniert sei und sich für den Zynismus derer im Westen schäme, die ihre Freiheiten genössen, aber zu viel Angst hätten, sie zu verteidigen und für sie zu kämpfen, wenn es nötig sei. In einer Grußbotschaft, die verlesen wurde, ließ sie das Auditorium in Bezug auf den Ukraine-Krieg wissen: "Organisierte Religionen haben kaum eine Gelegenheit versäumt, Gewalt bereitwillig anzunehmen und die Welt ins Chaos zu stürzen. Bei diesem Rendezvous sind sie auch wieder dabei." Man müsse den Widerstand weiterführen. Der Preis, gegen die Fanatiker zu verlieren, wäre zu hoch.

Auch am zweiten Tag von "Celebrating Dissent" gab es immer wieder die Gelegenheit, diesen kreativen Protest in unterschiedlichen Ausdrucksformen auch in der Praxis zu erleben. Durch eine Gedichtlesung von Halima Salat, durch die Filmvorführung einer Pole-Dance-Performance eines schwulen Paares oder den zweiminütigen Schrei nach Freiheit von Menschenrechtsaktivistin und Künstlerin Sara Nabil. Sängerin Shelley Segal feierte mit tatkräftiger Unterstützung des Publikums die Weltpremiere ihres Protestsongs "Murtadd"; im Koran gebe es eine Textstelle, die besage: "Du sollst nicht mit den Füßen stampfen" – "also habe ich einen Song geschrieben, bei dem man mit den Füßen stampft".

Im Foyer wurden außerdem Ausstellungen gezeigt, die das Heilige herausfordern und Tabus thematisieren. So etwa ein Best-of von Aktionen des Council of Ex-Muslims of Britain oder die Visualisierung einiger Fälle, die Teil einer Studie von Freethought Lebanon zu Menschenrechtsverletzungen gegenüber Atheisten im Libanon sind. Auch ein weiteres Kunstprojekt von Sara Nabil war dort vertreten, in dem sie sich mit der erneuten Machtergreifung der Taliban in Afghanistan vor einem Jahr auseinandersetzt, "deren fundamentalistische Weltsicht die weibliche Identität bis zur Unsichtbarkeit reguliert". 13 Fotografien zeigen, "wie der weibliche Körper (…) verfremdet wird (…) hin zu einem Schauplatz von politischen Ideologien, kulturellen Konflikten und Machtkämpfen".

Drei Resolutionen und eine Deklaration

Neben den insgesamt sieben Debattenforen, auf denen unterschiedliche Meinungen manchmal auch kontrovers ausgetauscht wurden, verabschiedeten die Konferenzteilnehmer:innen auch drei gemeinsame Resolutionen und eine Deklaration. Eine verurteilt das Attentat auf Salman Rushdie und solidarisiert sich mit dem "mutigen Autor". "Leider ist der brutale Angriff auf Rushdie weder der erste noch wird er der letzte sein. (…) Wir werden weiterhin das Recht auf Apostasie und Blasphemie feiern, bis niemand mehr wegen seines Denkens und seiner Meinung verfolgt wird. Und wir werden uns weiterhin erheben." Eine weitere Resolution bringt tiefe Sorge über den Blasphemieparagrafen 166 in Deutschland zum Ausdruck: "Da jede Kritik am 'Heiligen' und Tabuisierten mit einer Störung des öffentlichen Friedens durch fundamentalistische Gewalt und Drohungen gegen Kritiker beantwortet werden kann, gibt das Gesetzbuch den Zensoren und Unterdrückern Rückendeckung und bringt Andersdenkende zum Schweigen." Sie fordert die Abschaffung der Strafrechtsnorm. Weiterhin wurde der 10. Dezember, der Tag der Menschenrechte, zusätzlich zum "Internationalen Tag des Säkularismus" erklärt; "Säkularismus ist ein Grundprinzip, ein Menschenrecht und eine Mindestvoraussetzung für die Achtung von Rechten und Freiheiten, für eine demokratische Politik und demokratische Gesellschaften."

Die "Deklaration zur Feier des Andersdenkens", die ebenfalls durch Applaus angenommen wurde, stellt klar: "Wir lehnen das Verbot der Apostasie und Blasphemie sowie religiös begründete Gesetze als schwere Rechtsverletzungen ab und fordern ihre sofortige Abschaffung." Und: "Als Atheisten, Agnostiker, Ex-Muslime und Freidenker stehen wir für eine Welt, in der alle Menschen Meinungs- und Gewissensfreiheit sowie Freiheit von Angst und Not genießen."

"Wir wollen in einer Welt leben, in der Säkularismus oder Laizität, die Trennung von Religion und Staat, Recht, Bildung und Politik als ein Grundprinzip und Menschenrecht angesehen wird, das für die Verwirklichung unserer Freiheiten unerlässlich ist."

(Die vollständigen Texte auf Deutsch können im Veranstaltungsbericht zu "Celebrating Dissent" auf der Website der Giordano-Bruno-Stiftung nachgelesen werden.)

Der hpd-Artikel über den ersten Kongresstag findet sich hier.

Unterstützen Sie uns bei Steady!