Zum ersten Mal seit Erfindung der Statistik sind in Deutschland weniger als 50 Prozent der Bevölkerung Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirche. Der Säkularismus frohlockt und fordert gerechtfertigterweise den ihm zu lange verwehrten Platz in Politik und Gesellschaft immer erfolgreicher ein. Doch wird eine Gesellschaft, die weniger kirchlich wird, automatisch auch weniger gläubig?
Wenn säkulare Kreise – berechtigterweise – die Wichtigkeit der Konfessionsstatistiken betonen, dann wollen wir darüber nicht vergessen, dass unter den Ausgetretenen nicht nur Menschen sind, für die der Glaube keine Rolle mehr spielt. Es kehren der Kirche auch Menschen den Rücken, gerade weil diese – für ihren Geschmack – zu weit von der originären Lehre abweicht.
Im März hatte das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD eine Studie präsentiert, für die man 1.500 frühere Protestanten und Katholiken nach den Gründen ihres Kirchenaustritts befragt hatte. Etwa 30 Prozent von ihnen wünschten sich laut der Studie eine Kirche, die unabhängiger vom Zeitgeist sein solle.
Eine international angelegte Untersuchung des Religionsphilosophen Dr. Joseph Shaw – selbst aktiv in Organisationen, die sich für eine Rückkehr zur lateinischen Messe und vorkonziliaren Liturgien in der katholischen Kirche einsetzen – kam zu dem Ergebnis, dass besonders Ordinationen, die die katholische Messe in ihrer traditionellen, vor 1965 etablierten Form feiern, steigende Besuchszahlen verzeichnen können.
Katholischer Traditionalismus: Der Staat als Handlanger Christi
In diesem Kontext ist es lohnenswert, kurz beispielhaft über die Piusbruderschaft zu sprechen. Diese traditionalistische katholische Priestervereinigung hat in den vergangenen zwei Corona-Jahren im gesamten deutschsprachigen Raum nach eigenen Angaben einen gewissen Zulauf verzeichnet. Getrieben wurde dieser, um den deutschen Distriktoberen Stefan Pfluger zu zitieren, von Menschen, "die auf der Suche sind oder enttäuscht, dass ihr Hunger nach Sakramenten und Glauben zu wenig gestillt wird".
Hier drängt sich nun die Verbildlichung mittels Venn-Diagramm auf: Sicherlich gibt es eine gewisse Schnittmenge zwischen denen, die aus Frustration gegenüber "dem Zeitgeist" die Kirchen verlassen und denen, die es zu traditionalistischen Kirchenablegern wie der Piusbruderschaft zieht. Denn wie die Studie des sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche zeigt, ist die Fluktuation hin zu anderen Denkansätzen extrem gering: "Es ist ein verschwindend geringer Anteil, für den das gilt, dass wirklich eine religiöse oder erkennbare spirituelle Neuorientierung erfolgt", so Studienautorin Petra-Angela Ahrens im Bayerischen Rundfunk.
Fragen wir uns einmal kurz, welcherart "der Zeitgeist" ist, der hier abgelehnt wird. Schnell stellen wir fest, dass sich das auf zwei Kernanliegen herunterbrechen lässt:
- Die vermeintliche Erosion der Geschlechterrollen und der "Kernfamilie" durch eine zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz von selbstbestimmten Frauen, Homosexualität und – mittlerweile – Transgeschlechtlichkeit.
- Die vermeintliche Erosion des gesamten gesellschaftlichen Gefüges, da sich Staat und Politik vom christlichen Glauben als primärem ideologischem Unterbau entfernen. Pfluger bringt dies mit folgendem Satz pointiert zum Ausdruck: "Wir vertreten die Auffassung, dass auch der Staat mithelfen sollte, übernatürliche Ziele zu erreichen."
Politisches Christentum
Da gibt es nun also eine Fülle an Menschen, die den Kirchen entfliehen, weil ihnen diese zu antiquiert, zu verstaubt, zu patriarchal erscheinen – und dann gibt es jene, die den Kirchen den Rücken kehren, weil ihnen diese nicht mehr antiquiert, verstaubt und patriarchal genug sind. Wie sollte irgendeiner Organisation ein effektiver Spagat zwischen diesen Polen gelingen? Bereits jetzt ist die deutsche katholische Kirche international isoliert, weil sie im Verdacht steht, zu progressiv zu sein. Zu progressiv. Wo Säkulare sich verwundert die Augen reiben, schreibt der Papst gar Brandbriefe – es ist absurd.
Der Piusbruderschaft selbst kommt im Rahmen dieser Überlegungen übrigens keine besondere Bedeutung zu. Sie ist eine Blaupause für die Frage, was mit den knapp 200.000 Menschen passiert, denen die christlichen Volkskirchen nicht mehr christlich genug sind. Denn das werden nicht weniger werden. Die Kirchen müssen und werden unter dem gesellschaftlichen Druck einknicken, den das fatale Missmanagement des Missbrauchsskandals hervorgerufen hat. Doch wer wird das von ihnen hinterlassene moralphilosophische Vakuum füllen?
Der Säkularismus darf nicht den Fehler machen, anzunehmen, dass ihm diese Rolle zufliegen wird. Und er darf schon gar nicht den Fehler machen, diese 30 Prozent zu ignorieren, die die Kirche auch deshalb verlassen, weil sie sich nach ihrem Empfinden zu sehr dem Zeitgeist anbiedert. Dort tummelt sich eine Menge latentes radikales Potential. Aus etwas, was als "Linksruck der CDU" empfunden wurde, ging die AfD hervor. Als Gesellschaft können wir nicht wollen, dass aus dem mancherorts verspürten "Linksruck der Kirchen" parallel dazu eine "Alternative für Christen" hervorgeht. Denn auch Ahrens kommt in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass kirchliches Engagement nach dem Austritt oft von politischem abgelöst wird. "Konfessionslos glücklich" nennt Ahrens diese Menschen.
Wo werden sich aber Personen, die die Kirchen aus einer Empfindung der "Anbiederung an den Zeitgeist" heraus verlassen haben, die "konfessionslos Unglücklichen", politisch engagieren? In feministischen, liberalen oder gar säkularen Organisationen? Sicher nicht, denn eine religiöse oder spirituelle Neuorientierung findet, wie Ahrens feststellte, kaum statt. Es werden Organisationen sein, die "das Christentum" in seiner vermeintlichen Urgestalt verkörpern.
Wie diese angebliche Urgestalt aussieht, lässt sich aktuell nirgends besser erahnen als in den USA, wo sich die republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor Greene offen als christliche Nationalistin bezeichnet. Lauren Boebert, ebenfalls republikanische Abgeordnete, nannte jüngst die Trennung von Staat und Kirche wörtlich "Müll". Wir sollten darauf vorbereitet sein, auch in Deutschland einen solchen – auf den ersten Blick widersprüchlichen – Trend zu erleben: mehr Säkularismus und mehr (pseudo-)religiöser Wahn. Gleichzeitig.
8 Kommentare
Kommentare
Martin Franck am Permanenter Link
Wo die https://en.wikipedia.org/wiki/Spiritual_but_not_religious (SBNR) hingehen wurde ja schon im Artikel erwähnt. Zur Alternative für D.
Damals gab es noch keine Coronaleugner und Putinversteher. Wir sehr aber auch unsere intellektuellen Eliten versagen, sah man bei dem offenen Brief, der vorschlug Putin die Ukraine zu überlassen, so daß Taiwan lernt, wie man mit Mainland China verfahren sollte. Humanistische Bildung wie https://de.wikipedia.org/wiki/Si_vis_pacem_para_bellum hilft also nicht.
Es sind also nicht nur diejenigen anfällig mit geringer formaler Bildung. Wie erst kürzlich eine Studie https://www.oecd.org/publications/does-higher-education-teach-students-to-think-critically-cc9fa6aa-en.htm zeigte, bringt ein Studium nicht sehr viel für kritisches Denken.
Das Internet und social media, die mit eine Ursache des negativen Flynn Effekt für die nach 1975 geborenen sind, verschlimmern die filter bubbles nur.
Wenn https://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Pfister René Pfister über: Ein falsches Wort: Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht, schreibt, werde ich daran erinnert, wie man auf der Seites des HPD die säkulare Klimareligion diskutierte. Also ist auch hier auf dieser Seite kritisches Denken nicht immer vorhanden.
Cult atheism oder tribal atheism dienst als Religionsersatz bzw. Ersatzreligion.
Es war Richard Dawkins mit seinem tweet https://twitter.com/RichardDawkins/status/976474848330469376 2018: „Let’s not forget Hilaire Belloc’s menacing rhyme:
“Always keep a-hold of nurse
For fear of finding something worse.”“
Haben wir nur den Pileolus gegen den Aluhut getauscht? Oder haben wir gar den https://de.wiktionary.org/wiki/den_Teufel_mit_Beelzebub_austreiben Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben?
In Analogie kann man als Weissagung zum Creed (Kredo, Weltanschauung) sagen:
Erst wenn der letzte Kirchensteuerzahler ausgetreten, der letzte Priester aufgehört, die letzte Kirche geschlossen ist, werdet ihr merken, daß die Mehrheit nicht analytisch denken kann.
Laut https://de.wikipedia.org/wiki/Salutogenese Salutogenese benötigen wir drei Faktoren, um gesund zu bleiben:
Die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen – das Gefühl der Verstehbarkeit. Dinge sind vorhersehbar und erklärbar.
Die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können – das Gefühl der Handhabbarkeit oder Bewältigbarkeit (ähnlich dem Begriff der ‚Selbstwirksamkeitserwartung‘).
Der Glaube und das Gefühl der Sinnhaftigkeit, daß diese Anforderungen Herausforderungen sind, bei denen sich Anstrengung und Engagement lohnen.
Dienten früher Religionen zur Verminderung der Komplexität, so sind es heute Verschwörungstheorien und Esoterik. In der Arbeit:
Analytic thinking reduces belief in conspiracy theories,
Viren Swami, Martin Voracek, Stefan Stieger Ulrich S. Tran, Adrian Furnham,
Cognition, 2014 Dec;133(3):572-85.
doi: 10.1016/j.cognition.2014.08.006. PMID: 25217762, Epub 2014 Sep 18.
https://www.researchgate.net/publication/265608142_Analytic_thinking_reduces_belief_in_conspiracy_theories
wurde festgestellt, daß es die Möglichkeit zum analytischen Denken ist, die einen davor bewahrt. Während die Anzahl der not affiliated (konfessionsfrei) immer weiter steigt, so bleibt der Anteil der Atheisten beinahe gleich. Deshalb ist das Problem nicht die unzureichende Kirchenkritik, sondern die fehlende Kompetenz zum analytischen Denken.
Der Autor schließt zu recht mit dem Ausblick:
Wir sollten darauf vorbereitet sein, auch in Deutschland einen solchen – auf den ersten Blick widersprüchlichen – Trend zu erleben: mehr Säkularismus und mehr (pseudo-)religiöser Wahn. Gleichzeitig.
wolfgang am Permanenter Link
Mit dem Glauben ist es so eine Sache: man glaubt an die große Liebe, man glaubt an einen Lottogewinn, man glaubt an eine Beförderung. Alles privater Glaube, von Glück oder Pech verfolgt.
noch glauben, das man aus Wasser Wein machen kann, das ist kein Wunder sondern eine Straftat.
Ein alter Mann, ein alter Glaube, nur für Blinde und für Taube.
A.S. am Permanenter Link
Korrektur: Die AfD entstand ursprünglich aus Protest gegen die €-Politik (Lucke, Henkel). Sie wurde dann später von rechtspopulistischen Kreisen gekapert.
Wenn irgendeine Organisation einen "Linksruck" vollzieht, ist es nur normal dass sich ein "rechter" Teil abspaltet, der eben diesen Linksruck nicht mitmachen will. Diese "rechte" Abspaltung wird eine Zeit herumvagabundieren und sich dabei entweder auflösen, irgendwo "rechts" anschließen oder eigenständig sich zu behaupten lernen. Da geht es den Kirchen nicht anders als politischen Parteien. Analog ereignen sich Linksabspaltungen bei einem "Rechtsruck" (WASG als Reaktion auf Schröders Agenda 2010).
Vermeiden lassen sich solche Abspaltungen nur mit vorsichtigen Kursänderungen in der Politik statt mit disruptiven Maßnahmen, Evolution statt Revolution.
Konservative Abspaltungen von den Amtskirchen bergen sicher das Potential, politisch Rechtsaußen zu landen.
wolfgang am Permanenter Link
Es heißt nicht zu weit von der "orginären Lehre", nein "ordinäre Leere. "
Wenn eine Frau "unbefleckt" ein Kind empfängt, das ist ordinär.
Wenn ein Mann aus Wasser Wein macht, das ist auch ordinär.
Wenn ein Mann über das Wasser geht, wie ordinär.
Wenn Priester Kinder missbrauchen, ist das orginär???
Roland Fakler am Permanenter Link
Ich lasse jedem seine Götter und Gartenzwerge, wenn er die zu seinem Wohlbefinden braucht, aber ich wehre mich dagegen, wenn einer glaubt, sein Gott gäbe ihm das Recht über mich zu herrschen und mir die Regeln für mei
Tobias Seyb am Permanenter Link
Interessanter Artikel.
Habe nichts zu widersprechen.
Allerdings gibt es einen Faktor, der dabei eine große und für aufgeklärte, anständige Menschen eine große Rolle spielt:
Diese Spinner verzetteln sich notwendigerweise.
Kleine anti-moderne Gruppen werden niemals den Einfluß erringen, den die historisch gewachsenen Riesenorganisationen namens Kirchen in der Gesellschaft hatten.
Dass viele Menschen an Verstand und Charakter Defizite haben, ist nichts neues.
Trotzdem ist jeder einzelne, der den mafiösen Großkirchen den Rücken zuwendet, ein Gewinn für die offene Gesellschaft, was auch immer seine Motive sind.
David Z am Permanenter Link
"Wie diese angebliche Urgestalt aussieht, lässt sich aktuell nirgends besser erahnen als in den USA, wo sich die... "
Da brauch man gar nicht in die USA wandern. Ersatzreligionen haben wir auch bei uns: Klimaaktivismus, dogmatischer Humanimus, Sozialismus oder Veganisnus zB können in ihrer extremen Form durchaus religiöse Formen annehmen und haben es bereits.
Wie so vieles im Leben ist auch das Abschaffen der Religionen mit Nachteilen verbunden. Wenn ich mir die Entwicklung so anschaue, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob der Tausch wirklich zielführend ist.
wolfgang am Permanenter Link
Wenn Gott so aussieht, wie sein Stellvertreter, ade Christentum.
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, ein Gott zieht mit so einer Krücke durch die Wolken.