Wie jedes Jahr im Januar erschienen vor kurzem die neuen Jahresstatistiken der römisch-katholischen Kirche in Österreich. Die meisten österreichischen Medien berichteten darüber. In vielen Fällen wurde der relativ gut recherchierte Bericht der Austria Presse Agentur übernommen, der auch wichtigen Kontext enthielt, zum Beispiel die Tatsache, dass die Konfessionsfreien die zweitgrößte Gruppe in Österreich sind.
Viele Medien übernahmen die positiv formulierte Schlagzeile direkt von Kathpress: "Katholische Kirche verzeichnet Rekord ... bei Austritten."
Die wichtigste Information ist eindeutig die Anzahl der Austritte, die (nach vorläufigen, üblicherweise später noch nach oben korrigierten Zahlen) 90.808 beträgt. Dies ist höher als der bisherige Rekord von circa 86.000 im Jahr 2010, als weltweit und auch in Österreich das volle Ausmaß des katholischen Kindesmissbrauchs bekannt wurde.
Wichtig hierbei ist auch, dass die Basis seither viel kleiner wurde, dieser absolute Rekordwert also relativ (als Anteil der ehemaligen Mitglieder) gesehen mit 1,88 Prozent noch viel höher ist als damals (1,55 Prozent). Die Anzahl der Katholiken ging im Jahresvergleich aber noch stärker zurück. Der Grund dafür ist, dass jedes Jahr mehr katholische Menschen sterben als neue getauft werden. Insgesamt verlor die Kirche in einem Jahr also – nach vorläufigen Zahlen – 94.539 Mitglieder, fast zwei Prozent des Vorjahresstandes.
Das folgende Diagramm zeigt die Austrittsrate (Prozentsatz der Ausgetretenen bezogen auf den Mitgliederstand im Jahr davor) und die Abgangsrate, die sich aus Austritten, Eintritten (durch Taufe oder Wiederaufnahme), Todesfällen und Bewegung zwischen Österreich und dem Ausland zusammensetzt. Bis 2018 ist der Balken der Austritte höher, abgesehen von diesen kamen also mehr neue Mitglieder dazu als abgingen. Seit 2019 gibt es aber zusätzlich zu den Austritten noch einen weiteren Mitgliederverlust durch weniger Neuzugänge als Abgänge.
Bei der Datenbekanntgabe der katholischen Kirche bereits Mitte Januar ist zu beachten, dass sie nur zwei Kennzahlen, nämlich die Gesamtzahl der Katholiken und die Austritte fürs Vorjahr (heuer also für 2022) liefert. Alle anderen Zahlen beziehen sich auf 2021. Die hier dargestellten Änderungen beziehen sich also auf 2020 bis 2021, die ersten beiden Jahre der Corona-Pandemie. Es wäre wahrscheinlich sinnvoller, einige Wochen auf die endgültigen Zahlen des Vorjahres zu warten und dafür konsistente, verständlichere und aktuellere Statistiken zu liefern, aber das scheint für die katholische Kirche keine Priorität zu haben.
Nachgeholte Rituale
Während die Anzahl der Todesfälle wenig variiert, gab es einen großen Anstieg im Jahresvergleich bei den Taufen: Im ersten Corona-Jahr 2020 fanden mit den Lockdowns nur 32.521 Taufen statt, diese Zahl stieg – auch durch nachgeholte Taufen – 2021 auf 45.541. Doch selbst mit diesem Einmaleffekt ist die Zahl niedriger als in allen Jahren bis 2018. Der Trend, dass nicht einmal mehr die Hälfte der Neugeborenen getauft wird, hat sich bereits 2019 abgezeichnet und gilt weiterhin.
Den Nachhol-Effekt gab es auch bei Erstkommunionen (für Kinder ab 8 Jahren) und Firmungen (ab 14 Jahren, also im gesetzlich "religionsmündigen" Alter). Aber auch hier ist keine Trendwende abzusehen, die Rückgänge im Jahr 2020 werden mit ihnen nicht einmal vollständig kompensiert.
Die Anzahl der kirchlichen Trauungen erholt sich noch schwächer. Diese Zahl ist schon 2019, also vor der Pandemie, auf unter 10.000 gefallen. 2020 fanden pandemiebedingt nur mehr 3.595 und 2021, sicherlich auch noch von Corona beeinflusst, 6.674 kirchliche Trauungen statt, was immer noch stark unter dem Wert von 2019 liegt.
Mehr Einnahmen von weniger Mitgliedern
Die Einnahmen der katholischen Kirche stiegen zwischen 2020 und 2021 an. Der Großteil stammt aus dem Kirchenbeitrag, dieser stieg trotz der auch im Jahr 2021 hohen Austrittszahlen um 15 Millionen Euro auf 499 Millionen Euro. Das ist ein Wachstum um 3,1 Prozent. Der Grund ist klar: Es treten eher junge Leute mit niedrigem Einkommen aus, während die Beiträge von älteren, gut verdienenden derzeit noch wachsen. Dies wird sich erst ändern, wenn größere Gruppen in Pension gehen und damit ihre Beiträge reduziert werden.
Die staatliche Finanzierung (die die Kirche fälschlicherweise als "Wiedergutmachung" bezeichnet) ist um 7,5 Prozent auf 59,5 Millionen Euro angewachsen. Hier gab es Ende 2020 einen Parlamentsbeschluss für die Erhöhung der Zahlungen.
Anzahl der Priester fällt stärker als die der Mitglieder
Ein weiterer kritischer Faktor für die katholische Kirche ist die Anzahl der Priester. Sie ist von 2020 auf 2021 um 2,9 Prozent gefallen, in fünf Jahren um 12,6 Prozent. Dies bezeichnet die Kirche als "relativ stabile Situation"; die Atheisten Österreich kamen im Vorjahr zu anderen Ergebnissen. Da die Kirche die große Mehrheit der Bevölkerung (alle Frauen und alle verheirateten Männer) bei der Berufswahl diskriminiert, ist ihr Nachwuchs in diesem Bereich stark gefährdet. Wegen der Altersverteilung im Klerus wird diese Zahl in den nächsten Jahren noch stärker fallen. Aus Image-Gründen werden noch praktisch alle Pfarren irgendwie am Leben erhalten, aber das steigert den Druck auf die Priester immer weiter und verschlechtert ihre Arbeitsbedingungen.
Gründe für die vielen Austritte
Die Vertreter der katholischen Kirche äußerten Vermutungen wie "Corona" und "Distanz zur Kirche". Das Eintreten der Kirche für Corona-Impfungen war schon im Vorjahr die "Erklärung" für die damals zweithöchsten jemals gemeldeten Austrittszahlen. Die "Distanz zur Kirche" ist wiederum das Ergebnis verschiedener Prozesse, nicht ihre Ursache.
In Online-Diskussionen oder Interviews in der Abend-Nachrichtensendung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks äußerten Menschen ganz andere Gründe: Eine Frau erklärte, dass sie und mehrere in ihrer Umgebung ausgetreten seien, nachdem Papst Franziskus einen Schwangerschaftsabbruch mit dem Anheuern eines Auftragsmörders verglichen hatte, andere nannten die zustimmenden Reaktionen des Papstes und anderer Kirchenvertreter auf die Abschaffung des generellen Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in den USA. Weitere Gründe waren natürlich der Kindesmissbrauchs-Skandal (gleich im Januar 2022 erschienen ja die Ergebnisse der München-Freising-Missbrauchsstudie) und die fortgesetzte Diskriminierung von Frauen und selbstgewählten Lebens- und Partnerschaftsentwürfen. Natürlich spielen die Kirchenbeiträge für Leistungen, die die meisten Menschen gar nicht in Anspruch nehmen, auch eine Rolle.
In den nächsten Jahren wird die 50-Prozent-Marke erreicht
Solange die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Kirchenvertreter und der Wirklichkeit so groß ist, werden die Austrittszahlen auch hoch bleiben. Ob wir noch Rekorde bei den absoluten Austrittszahlen sehen werden, ist wegen der schrumpfenden Basis unsicher, aber bei Fortbestand dieser Trends gut möglich. Bei den relativen Austrittszahlen, also dem Anteil der Mitglieder, die pro Jahr austreten, ist ein deutliches, sich weiter verstärkendes Wachstum sichtbar.
Bisher war die seriöseste Vorhersage, dass 2025 das Jahr sein wird, in dem die Katholiken nach Zählung der Kirche nicht mehr die Bevölkerungsmehrheit in Österreich stellen. Wenn die Entwicklung aber so wie in den letzten Jahren weitergeht, kann es bereits 2024 soweit sein. Dann noch zwei bis drei Jahre und auch die Summe der römisch-katholischen und evangelischen Kirchenmitglieder wird zusammen unter 50 Prozent fallen, so wie das in Deutschland bereits 2022 geschehen ist.
Religion in modernen Demokratien auf dem Weg aufs Abstellgleis
In ganz Europa, aber auch in Nordamerika, fällt die Anzahl der Anhänger der großen christlichen Kirchen schnell, vor allem in den Altersgruppen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In Österreich glauben nur 30 Prozent der als christlich eingestuften Jugendlichen an "Gott oder etwas Göttliches" (Jugendstudie 2020). Diese demographischen Fakten deuten darauf hin, dass die Religion zumindest in modernen Demokratien auf ein Abstellgleis zusteuert und zunehmend das Hobby von älteren Menschen wird. Wann diese Entwicklung auf den Rest der Welt, der weniger Zugang zu Bildung und freiem Meinungsaustausch hat, übergreift, ist wohl eine der spannendsten Fragen der nächsten Jahre.
Aus einigen deutschen Regionen wurden ebenfalls bereits Austrittszahlen für 2022 gemeldet. Auch in Deutschland scheinen demnach die Austritte im Vorjahr Rekorde zu brechen, auch wenn die Gesamtzahlen erst später im Laufe des Jahres veröffentlicht werden.
3 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ein unaufhaltsamer Trent in Richtung Aufklärung, jetzt muss eigentlich nur noch die finanzielle Bezuschussung der Kirchen beendet werden, dann kann endlich Vernunft und
wolfgang am Permanenter Link
Die Kirchenaustritte steigen. Daran sind die Kirchen aber selber schuld.
1. Wer glaubt noch an den Weihnachtsmann?
2. Die Missbrauchsskandale sprechen eine eigene Sprache.
4. Sex ist keine Sünde.
5. Dumme Dogmen werden ignoriert.
6. Toleranz nur gegenüber Toleranten!
7. Glauben und Wissen unterscheiden sich erheblich. Man kann nicht alles wissen, aber
man muss auch nicht alles glauben.
8. Warum muss ein Großkonzern noch von Menschen mit kleinem Geldbeutel
unterstützt werden.
9. Ohne christliche Lehre lebt es sich genauso gut.
10. Kein Gott straft oder heilt. Es bleibt ein Kreuz mit dem Kreuz. Aaaammmmeeenn!
Wolfgang am Permanenter Link
Übrigens schönes Foto zum Artikel. Man sieht, der Kirche steht das Wasser bis zum Hals!