Kolumne

Wie viel Politik darf Fußball?

BERLIN. (hpd) Der Auftakt der Bundesligasaison am Wochenende zieht Hunderttausende in die Stadien der Republik und noch viele mehr vor die heimischen TV-Geräte. Hpd-Gesellschaftskolumnist und Fußballfanatiker Carsten Pilger setzt sich mit dem Mantra vieler Fankurven auseinander: „Fußball ist unpolitisch.“

Als Fußballfan sitze ich oft zwischen den Stühlen. Es gibt da meine Freunde, die mit Fußball absolut nichts am Hut haben. Die Fußball womöglich weiterhin noch für den rein körperlichen Akt des stumpfen Ballnachrennens halten. Für einen Weg, die Massen zu beruhigen und kleine patriarchalische Inseln zu schaffen, auf denen Männer unter Alkoholeinfluss noch ungestört Männer unter Alkoholeinfluss sein dürfen. Proletensport halt.

Dann gibt es die Freunde, die wie ich Fußballfan sind. Die wissen, dass das Klischee manchmal die Wahrheit ist, aber eben auch nicht mehr, als nur ein Teil der Wahrheit. Dass Fußball nicht nur der Sport und nicht nur seine negativen Begleiterscheinungen hat, sondern Menschen verbindet, Menschen kreativ werden lässt und sie zu gesellschaftlichen Engagement anregt. Sei es über Ultra-Gruppierungen, die sich in ihrer Stadt für Obdachlose und Flüchtlinge engagieren, Subkultur schaffen und progressives Denken in die Kurve bringen, indem sie Aufklärungsarbeit leisten. Warum manches „Fußballvokabular“ der 80er und 90er Jahre stumpf rassistisch oder sexistisch ist.

Nun gibt es ein festes Ritual im Fußball, das wohl die unpopulärste Debatte darstellt: Weisen Fangruppen auf Misstände hin, etwa dass bei schwarzen Spielern wieder aus dem Block Affenlaute kamen, heißt es: Aufhören! Fußball ist doch unpolitisch! Hier ist jeder willkommen, außer die Politik, ob von Links oder Rechts! Doch stimmt das? Ist Fußball wirklich die politikfreie Zone, in der für 90 Minuten jeder seine gesellschaftliche Rolle ablegt und erst beim Verlassen des Stadions wieder annimmt?

Mitnichten. Es gibt die Beispiele, die eher zum Schmunzeln anregen: Als der Bundesligist FC Homburg Ende der 80er auf der Brust für einen Kondomhersteller warb, wollte dies die DFB-Spitze verhindern – ohne Erfolg. Ein Vorgang, der viel über das Weltbild der DFB-Funktionäre aussagt.

Und es gibt die bitteren Beispiele. Als 1977 die deutsche Studentin Elisabeth Käsemann von der argentinischen Junta entführt, gefoltert und später ermordet wurde, sahen weder das Auswärtige Amt, noch der Deutsche Fußball-Bund Grund zur Intervention – obwohl die Fußballnationalmannschaft im Vorfeld der Fußball-WM in der Militärdiktatur zum Freundschaftsspiel antrat. Wo der Sport zum Retten eines Menschenlebens hätte dienen können, hat er sich lieber der Propaganda hingegeben.

Das Gegenteil ist die Realität: Fußball ist diplomatische und wirtschaftliche Macht. Sprich: Politik. Es tut gut, sich mit positiven Figuren aus dem beliebtesten Sport der Welt zu umgeben. Es ist kaum ein Zufall, dass die Weltmeisterschaft 2018 in Russland und die darauf folgende 2022 in Katar stattfindet. Und dass Fußball-Offizielle sich auffallend selten über Russlands Vorgehen in der Ukraine oder die Toten auf Baustellen für Fußballstadien im Katar äußern.

Zurück zum Spruch „Fußball ist unpolitisch“. In der Kurve ist das eine Verteidigung gegen den Versuch, gesellschaftliche, progressive Prozesse, die in anderen Teilbereichen der Gesellschaften vollzogen oder bereits fortgeschritten sind, aus dem Stadion herauszuhalten. Es ist die Ausrede des  Fußballfans, der eben diesem Wandel auch in anderen Gesellschaftsbereichen kritisch gegenübersteht – dies aber nicht unbedingt immer zugeben will. Vereinen und Verbänden liefert diese inoffizielle Mehrheitsmeinung eine passende Ausrede, um gesellschaftliches Engagement gegen Testspiele in Saudi-Arabien und Trainingslager im Katar auszutauschen.

Dabei kann Progressivität nur dann funktionieren, wenn es von beiden Richtungen kommt: Wenn von den Fans und von den Vereinen die gesellschaftliche Tragweite des Sports erkannt wird. Das gab es etwa 1993, als die Bundesliga-Vereine für einen Spieltag mit dem Slogan „Mein Freund ist Ausländer“ auf dem Trikot aufliefen, um sich gegen Fremdenfeindlichkeit zu positionieren. 2015 scheint eine starke Positionierung nicht mehr in den Zeitgeist einer Fußballliga zu passen, der das eigene, möglichst glatte Image wichtiger ist als eine Haltung. Fußball ist politisch, am besten verkauft sich derzeit aber der unpolitische Fußball. Gerade in der aktuellen Flüchtlingsdebatte stünde mehr Politik den Vereinen gut zu Gesicht.