Immer wieder steht eine Gesellschaft vor der Frage: Nehmen wir Rücksicht auf "religiöse Gefühle" oder bestehen wir auf Meinungs- oder Kunstfreiheit? Beispielhaft für so ein Dilemma sind ein Fall aus Großbritannien, wo pro religiöse Gefühle entschieden wurde und ein Streitfall aus Indien, wo man der Kunstfreiheit den Vorzug gab.
Woher kommen "religiöse Gefühle" überhaupt, welche neurobiologische Erklärung gibt es für sie? Der Professor für Neuroethik von der kanadischen Universität Ottawa, Georg Northoff, erzählt von einem Phänomen aus seiner Praxis: Man habe beobachten können, dass Menschen bei plötzlichen Hirnschäden, bei Psychosen oder Epilepsie unvermittelt religiöse Gefühle entwickelten. Die Betroffenen glaubten dann auf einmal an ein höheres Wesen und erlebten sich als transzendent und vereint mit der Welt.
Wo religiöse Gefühle im Hirn ausgelöst werden
Religiöse Gefühle seien ein Zusammenspiel vom Gehirn mit der Umwelt, betont Northoff. Im europäischen Kulturraum haben Forscher etwa beobachten können, dass sich schizophrene Patienten als Jesus erlebten. Im asiatischen Raum glaubten Patienten, sie seien Buddha. In bildgebenden Studien haben Forscher:innen untersucht, welche Gehirnregionen von Nonnen aktiviert sind, wenn sie biblische Texte lesen. Das Ergebnis: Aktiv waren die vorderen Stirnhirnregionen – möglicherweise werden hier religiöse Gefühle erzeugt.
Ob diese schützenswert seien, wurde die ehemalige Bundestagsabgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vom Magazin Chrismon gefragt. "Ja, schon", lautete ihre Antwort. "Aber weniger als der Staat ist jeder Einzelne gefordert." Die Juristin sagte: "Würde man den Schutz 'religiöser Gefühle' zum staatlichen Ziel erheben, so liefen Politik und Gesellschaft Gefahr, ihre eigene Handlungsfreiheit erheblich zu beschränken." Ein staatlicher oder gesellschaftlicher Schutz von religiösen Gefühlen würde "den Feinden unserer offenen Gesellschaft in die Hände spielen".
Christ:innen gegen nicht-binäre Sänger:in
Ein gesellschaftlicher Akteur in Großbritannien, die Advertising Standards Authority (ASA), gibt "religiösen Gefühlen" den Vorzug: Ein Poster von Demi Lovato, auf dem die nicht-binäre Sänger:in ein Outfit im Bondage-Stil trägt und auf einem kruzifixförmigen Bett liegt, wurde kürzlich verboten. Die ASA ist das Pendant zum Deutschen Werberat. Die Stelle bekam Beschwerden über das Werbeposter für das neue Album von Lovato namens "Holy Fvck". Die Plattenfirma versuchte noch, mit der Freiheit der Kunst zu argumentieren. Das half nichts. Die Werbeplakate wurden vier Tage nach Erscheinen wieder abgehängt.
Hinduist:innen gegen kanadische Filmemacherin
Gegen "religiöse Gefühle" und für die freie Meinungsäußerung hat sich das oberste Gericht in Indien entschieden. Auch hier ging es um ein Plakat: Die in Kanada lebende Regisseurin Leena Manimekalai hatte ihren neuen Film "Kaali" beworben. Auf dem Poster: Die hinduistische Göttin Kali, die eine Zigarette raucht. Nachdem die Regisseurin im letzten Sommer das Bild auf Twitter gepostet hatte, hagelte es Beschwerden von Hinduist:innen – sowohl in Indien als auch von der hinduistischen Gemeinde in Kanada. Schließlich landete die Sache in Delhi vor Gericht. Nach neun offiziellen Rechtsbeschwerden entschied der Oberste Gerichtshof von Indien im Januar: Manimekalai habe nicht die Absicht gehabt, religiöse Gefühle zu verletzen. "Das Ziel des Films war es, die Göttin in einem umfassenden Sinne darzustellen", so der Oberste Richter.
Wirklich das Opium des Volkes
Als Karl Marx den Satz "Religion ist das Opium des Volkes" fallen ließ, habe er nicht gewusst, wie recht er damit hat. Denn der alte Gesellschaftskritiker kann die neurobiologischen Zusammenhänge nicht gekannt haben, schreibt Borwin Bandelow in seinem Buch "Wer hat Angst vorm bösen Mann?". Der Psychiater Bandelow beschreibt Studien über das menschliche Gehirn: "Religiöse Verzückung ist auch von der Euphorie, die durch opiathaltige Rauschdrogen ausgelöst wird, nicht weit entfernt." Menschen, die schon mal in religiöser Ekstase waren – der stärksten Form von "religiösen Gefühlen", hätten bei Befragungen ein Gefühl von Losgelöstsein beschrieben. Junkies beschrieben ihren Heroinschuss ganz ähnlich, weiß der Psychiater.
21 Kommentare
Kommentare
Roland Fakler am Permanenter Link
Wenn Leute um mich herum und in öffentlich rechtlichen Medien dauernd von nichtexistierenden Geistern schwärmen und sie für real halten, fühle ich mich in meinen atheistischen Gefühlen verletzt.
Oliver am Permanenter Link
Und wieder ein Artikel aus der Reihe "wer glaubt, ist krank": Ich finde es eher "krank", was sich beim hpd als "Humanismus" ausgibt. Wozu soll so ein "Humanismus" gut sein?
"Outfit im Bonsage-Stil": wie sieht "Bonsage" aus? Ich kenn nur "Bondage".
Zweiflerin am Permanenter Link
<<wie sieht "Bonsage" aus? Ich kenn nur "Bondage">>
Kennen Sie schon Google? Damit können Sie es herausfinden! :-D ->https://letmegooglethat.com/
Oliver am Permanenter Link
@ Zweiflerin Da Sie so schlau sind, geben Sie mir bitte einen passenden link zu "Bonsage". Merci!
SG aus E am Permanenter Link
... dann suchen Sie eben Bilder zu: "Demi Lovato" "Holy Fvck" ...
Laut BBC ging es bei der Entscheidung gegen diese Plakate auf öffentlichen Plätzen auch um Kinderschutz. Man kann allerdings fragen, was so ein Verbot in Zeiten des Smartphones noch bewirken kann.
Zu den Fragen dieser Miniserie des 'hpd', ob man Religionen beleidigen und religiöse Gefühle verletzen dürfen soll, hier meine bescheidene Meinung: Dürfen soll man es schon – aber nicht unbedingt tun.
Die Grenzen der Meinungsfreiheit werden hier gesetzt a) von der guten Erziehung und b) von der Menschenwürde. Beides sind zwar schwammige Begriffe, aber man sollte sich klarmachen, was Beleidigen und Verletzen bedeuten. Beleidigung ist immer ein Herabsetzen des Gegenübers und Verletzungen gibt es nicht nur körperliche.
Wer darauf besteht, andere beleidigen und verletzen zu dürfen, erhebt sich über diese anderen. Das widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Gerade, wenn es um Muslime (1) geht, muss man schon ein ganz gehöriger Alltagsrassist sein, um das gut zu finden.
—
(1) https://hpd.de/artikel/blasphemie-muss-etwas-ganz-normalem-werden-21114#comments
David Z am Permanenter Link
Den Fall mit Demi Lovato finde ich interessant, weil es hier um Gefühle in zweierlei Hinsicht geht.
Auf der einen Seite christliche Gefühle und auf der anderen Seite "non-binäre" Gefühle (Demi bezeichnet sich als "non-binär"). Hätte sich Demi beklagt, wenn Plakate, die die eigenartige Vorstellung von "non-binären" Geschlechtern kritisch hinterfragt hätten, abgehängt worden wären? Ich wette, nein.
A.S. am Permanenter Link
Lieber Oliver, "Humanismus" stellt den Menschen in den Mittelpunkt allen Handelns. Bei den Religionen dreht sich alles um Gott und seine Verkünder, die Menschen sind Nebensache.
Die Menschen sind für die religiösen Führer, die Hirten, nur dummes Vieh, das gemolken, geschoren und bei Bedarf umgebracht wird.
Nächstenliebe ist bei den Hirten doch nur ein Lippenbekenntnis, wie man an der Empathie für die Missbrauchsopfer sehen kann.
Das einzige, was der Kirche heilig ist, ist die Kirche selbst. Spirituell verbrämter Egoismus.
Oliver am Permanenter Link
@ A.S. Wenn ich Ihre Beschreibung ernst nehme, dann gehört der hpd nicht zum "Humanismus".
A.S. am Permanenter Link
@Oliver: Inwiefern?
Christian Nentwig am Permanenter Link
Ganz einfach: Tippen Sie Bonsage in Google Suchen ein, kriegen Sie sofort die richtige Antwort.
Oliver am Permanenter Link
@ Christian Nentwig „Bonsage“ ist ein Portmanteau aus „Bonsai“ und „Bondage" ...
(oh, schade, die Redaktion hat den Fehler im Artikel korrigiert)
Inseljunge am Permanenter Link
"Rücksicht auf 'religiöse Gefühle' "
Das ist unter anderem eine Frage der Gegenseitigkeit.
Wenn es Rücksicht auf nicht-religiöse Gefühle gegeben
hätte und gäbe, könnte man dem Anspruch Verständnis
entgegenbringen. Wo es aber darum geht, religiösen
Unsinn und religiöse Herrschsucht gegen berechtigte
Kritik und Abwehr zu schützen, verdienen die nur als
Bemäntelung dienenden "Gefühle" keine Rücksicht.
David Z am Permanenter Link
Sehe ich ähnlich. Jeder normale Mensch versucht, bewusstes Verletzten der Gefühle seiner Mitmenschen zu vermeiden.
Wenn es aber um Machtansprüche geht, und das ist bei Religion im grossen Kontext sicher gegeben, sieht die Sache schon anders aus.
Übrigens scheint mir das in anderen Kontexten, wo Gefühle eine Rolle spielen, ganz ähnlich zu sein. Beispiel: Ob sich ein Mann als Frau betrachtet, so lebt und so kleidet, ist für viele Menschen eigenartig, aber nicht problematisch. Problematisch wird es erst, wenn Ansprüche angemeldet werden, wie eine erzwungene Anrede, eigene Gesetze, das Betreten von Frauenumkleidekabinen oder das Teilnehmen an Frauensportwettbewerben. Dann erhält die Sache eine Machtkomponente - und die gesunde, normal übliche Rücksichtnahme wird schwierig. So wie bei der Religion.
A.S. am Permanenter Link
Es ist weniger das Volk, dass nach einem Rausch begehrt, sondern die Obrigkeit, die das Volk mit schönen Träumen abspeist.
David Z am Permanenter Link
Warum sollte man jemanden ignorieren, der "religiösen Gefühle" vorbringt, aber einen anderen nicht ignorieren, wenn er beklagt, dass Indianerkostüme und Rasta-Locken "Gefühle" verletzen oder er gla
Die Sache mit dem Gefühl ist nicht einfach wie es scheint.
Oliver am Permanenter Link
@ David Z Sind Sie Jamaikaner? Oder haben Sie sich einfach nur verlaufen? Was haben hier "Rasta-Locken" verloren?
David Z am Permanenter Link
Ich versuche es in einfacher Sprache, vielleicht erschliesst sich Ihnen der Zusammemhang:
1. Religion => Gefühle
2. Kulturelle Aneignung => Gefühle
Oliver am Permanenter Link
@ David Z Wußte ich es doch, Sie sind Jamaikaner: Rastafari-People! Auf nach Äthiopien!
David Z am Permanenter Link
Nee, da bleibe ich lieber hier in Jamaika. Bin ja Jamaikaner. Nach Äthopien gehe ich nur mit gültigen Einreisepapieren und dann auch nur für die Dauer meiner Aufenthaltsgenehmigung. Alles andere wäre illegal.
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Ein staatlicher Schutz vor der Verletzung "religiöser Gefühle" entlarvt schon von der Begrifflichkeit her, dass er seine religiös-weltanschauliche Ausrichtung aufgibt.
Den öffentlichen Frieden zu gewährleisten, ist stets staatliche Aufgabe. Muss er das mit einem blasphemischen "Auslöser" verknüpfen und sich letztlich damit gegen sein Neutralitätsgebot zum Anwalt von Individualinteressen machen?
Was für eine windelweiche Heuchelei. Ich habe eine Menge Gefühle, die ständig verletzt werden. In einem sich als säkular verstehenden Staat, der auf den Rechten des Individuums beruht, kann es aber keine "Vergemeinschaftung" von verletzten Gefühlen geben, ganz gleich ob es sich dabei um religiös konnotierte handelt oder z.B. um die ständige Verletzung meiner Gefühle durch mangelnden Anstand, Faktenleugnung, öffentliche Huldigung an nichtexistierende Entitäten oder dergleichen.
Viel wichtiger wäre es, wenn die Rechtswissenschaft sich einmal Gedanken darüber machen würde, ob und wie es erreicht werden könnte, nicht nur falsche Tatsachenbehauptungen ad personam zu pönalisieren, sondern auch die sogenannten Fake News, wenn diese denn geeignet wären, durch öffentliche Verbreitung den öffentlichen Frieden zu beeinträchtigen. Darüber hat Anwalt Jun schon einmal laut nachgedacht und auch Boris Pistorius als MP in Niedersachsen vor längerer Zeit schon einmal.
wolfgang am Permanenter Link
Meinungssfreiheit und Relgionsfreiheit bedeutet, frei seine Meinung äußern zu dürfen und auch frei von irgendwelchen Religionen zu sein.