Der Fall Edmund Dillinger

Dokumentierter Missbrauch über fünf Jahrzehnte

Edmund Dillinger war Ehrendomherr im Bistum Trier. Er verstarb im vergangenen Herbst. Sein Neffe fand im Haus eindeutige Belege für die Beteiligung seines Onkels an sexuellem Missbrauch. Innerhalb der Kirche war das offenbar bekannt – mit Folgen, die Fragen offen lassen.

Vergangene Woche veröffentlichte die Rhein-Zeitung ein Video, in dem der Neffe des verstorbenen katholischen Priesters Edmund Dillinger ausführlich zu Wort kommt, der den an Demenz erkrankten Mann seit über elf Jahren betreut hatte. Er zeigt den Journalisten das völlig verwahrloste und unaufgeräumte Haus des Geistlichen, in dem dieser zuletzt zurückgezogen gelebt hatte, bis er im Alter von 87 Jahren im November verstarb. Buße habe sein Onkel dort getan, so Steffen Dillinger. Seit knapp zehn Jahren habe dieser offenbar keine öffentlichen Messen mehr zelebrieren dürfen. Den Grund dafür habe man ihm als nächstem Angehörigen trotz Nachfrage nie genannt. Eine Mutmaßung habe er zwar gehabt, seitdem er den Ehrendomherren im Jahr 2012 zu einem Personalgespräch ins Generalvikariat begleitet hatte, aber damit habe man ihn bis heute allein gelassen. Damals ging es um Vorwürfe rund um eine Wallfahrt im Jahr 1971, die Personalakte seines priesterlichen Onkels habe den Neffen sehr beeindruckt, "die war sehr umfangreich". Infolge gemeldeter Vorkommnisse auf der Wallfahrt sei der verstorbene Dillinger von Rheinland-Pfalz nach Nordrhein-Westfalen versetzt worden. Edmund Dillinger habe allerdings bis zuletzt alles abgestritten, laut ihm habe es sich um unhaltbare Vorwürfe gehandelt. Und dennoch habe man seinen Onkel "wie eine heiße Kartoffel" fallen gelassen, so der Neffe Dillinger.

Nach dem Tod des Geistlichen habe er dann Gewissheit erlangt – indem er nämlich, auf der Suche nach persönlichen Unterlagen, am Tag nach dem Todestag auf rund 700 Diafilme stieß, auf denen unter anderem nackte Minderjährige abgebildet sind. Auch pornografisches Material findet sich darunter, "mit wirklich unfassbar vielen Opfern" (Steffen Dillinger). Die Dimension habe ihn sprachlos gemacht. Intuitiv habe er alles, was er zu diesem Zeitpunkt vorgefunden hatte, an einen sicheren Ort verbracht; "zum Glück", erzählt Neffe Dillinger, denn schon am nächsten Tag habe es den ersten Einbruch gegeben. "Zu meinem großen Unverständnis hat eine Bruderschaft sein Sterbedatum direkt veröffentlicht, unmittelbar, ohne das mit mir abzustimmen. Und es liegt natürlich nahe, wenn sowas im Internet veröffentlicht ist, dass dann auch natürlich Signale gegeben werden für Einbrüche und dergleichen. Natürlich (…) lagerten in diesem Haus in einem relativ großen Umfang (…) delikate Dokumente."

Nach diesem Vorfall gab es dann auch noch Schwierigkeiten bei der Beerdigung. Zunächst sei völlig unklar gewesen, ob der verstorbene Geistliche überhaupt von einem Priester beerdigt werde, "das Bistum hat sich bis zum heutigen Tag da komplett rausgehalten". Ein Pfarrer aus der Nachbargemeinde habe sich dann bereiterklärt. "Das hat mich also schon auch sehr sehr stark irritiert (…). Zunächst muss ich ja davon ausgehen, dass die Dinge, die ich bis dahin ja auch wusste, dass ich der Einzige bin, der das weiß. Und das ist jetzt halt die große Frage: Wer wusste dann wann was?" Steffen Dillinger wird nun in die Aufarbeitung einbezogen. Es sei für ihn "unheimlich wichtig, dass das Ganze auch in die Öffentlichkeit getragen wird".

In der Öffentlichkeit wollte die Kirche das Thema nie haben. Doch dort ist es angekommen und mit jedem veröffentlichten Missbrauchsgutachten verdeutlicht sich das Bild der systematischen Vertuschung solcher Fälle von sexueller Gewalt gegen Minderjährige, die über Jahrzehnte innerhalb der Kirche stattfand. Einer, der sich dieses Problems annehmen wollte, war Bischof Stephan Ackermann von Trier, langjähriger Missbrauchsbeauftrager der Deutschen Bischofskonferenz. Ausgerechnet in seinem Bistum war der nun verstorbene Dillinger tätig. Es ist nicht das erste Mal, dass Ackermann selbst in die Kritik gerät: Bereits Ende des vergangenen Sommers hatte die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Verantwortungsbereich des Bistums Trier einen ersten Zwischenbericht vorgestellt und dabei schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen erhoben.

Laut einer Pressemitteilung des Vereins MissBiT – Missbrauchsopfer im Bistum Trier zeige "die Offenlegung des Falles Edmund Dillinger durch den Zufallsfund seines Neffen Steffen Dillinger (…), was die wissenschaftlichen Studien zur sexualisierten Gewalt neben dem bekanntgewordenen Hellfeld mit dem 'Dunkelfeld' meinen: Die bekannten Taten sind nur die Spitze des Eisbergs, die Zahl der Taten ist wesentlich höher". Schon durch den Bruchteil der veröffentlichten Fotos werde deutlich, was diese Form der Gewalt sei: "Unerbittlicher Zugriff auf wehrlose Kinderkörper, Dominanz erwachsener Sexualität gegenüber kindlicher und jugendlicher Verletzbarkeit. Die Gewalt kommt ganz nah und lässt sich nicht mehr auf Distanz halten oder verdrängen." Dass man Edmund Dillinger jahrelang gemieden habe, verdeutliche, "dass man sehr wohl um seine Straftaten wusste. Niemand hat sich ihm in den Weg gestellt. Hier zeigt sich das bekannte Muster: Täter schützen, um die Institution zu schützen."

"Über was reden wir da?", fragt Steffen Dillinger am Ende des Videos. "Über dokumentierten Missbrauch über fünf Jahrzehnte."


Hinweis der Redaktion: Der letzte Absatz wurde am 21.04.2023 um 13:15 Uhr ergänzt.

Unterstützen Sie uns bei Steady!