In der "Cancel Culture" sieht der Philosoph Julian Nida-Rümelin auch Gefahren für die Demokratie, sein Buch heißt denn auch: "Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken". Darin entwickelt der Autor auch einen Maßstab dafür, was noch geduldet und was strafrechtlich relevant sein sollte.
Mittlerweile gibt es viele Bücher über "Cancel Culture", womit eine Ablehnung unerwünschter Meinungen bis eben zur Streichung gemeint ist. Die darin vorgetragenen Auffassungen entsprechen meist der politischen Orientierung: Während linke Haltungen etwa skeptische Meinungen zu Minderheiten verdammen, sehen rechte in so etwas eine neue Form der Zensur. Mittlerweile haben sich dazu in der Debatte die Fronten so verhärtet, dass von einem auf Faktenbasis gründenden Meinungsaustausch kaum noch gesprochen werden kann.
Ein neues Buch, "'Cancel Culture'. Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken" will da neue Wege gehen. Geschrieben hat es Julian Nida-Rümelin, der Philosophie an unterschiedlichen Universitäten lehrte. Bekannt wurde er als Gründungsrektor der Humanistischen Hochschule Berlin und Kulturstaatsminister in der ersten rot-grünen Regierung. Sein Buch behandelt erfreulicherweise die erwähnten Querelen nur am Rande, geht es ihm doch um die Betrachtung der Existenz einer jahrtausendealten Praxis der gemeinten Streichungen unliebsamer Vorstellungen.
Dafür finden sich im Anhang zahlreiche Beispiele, welche drei Eskalationsstufen zugeordnet werden können: erstens der Behinderung von Meinungen oder deren Unterbindung, zweitens der Ausgrenzung oder Marginalisierung von Meinungen und drittens die gegenüber Andersdenkenden erfolgende aktive Beeinträchtigung bis gegebenenfalls zur Tötung. Das Gemeinte wird demnach von Nida-Rümelin nicht nur differenziert, sondern auch typologisiert, womit er sich bereits von den erwähnten Streitschriften zum Thema wohltuend unterscheidet. Überhaupt geht es dem Autor darum, Argumente und Begriffe zu klären, um den Diskurs auf eine rationale Grundlage zu stellen. Dazu greift Nida-Rümelin philosophiegeschichtlich weit zurück, was ein Platon gewidmetes Unterkapitel veranschaulicht. Wie angekündigt wird so eine der "Cancel Culture" eigene lange Tradition sichtbar, aber ohne einen rahmensprengenden Anspruch auf Vollständigkeit. Danach geht es um Aristoteles, Kant und Locke folgen nach einem großen Sprung. Auf die Gegenwart wie etwa das linksintellektuelle Spektrum bezogene kleine Spitzen fehlen dabei nicht.
Danach geht es um die demokratietheoretischen Aspekte der "Cancel Culture", hat sie doch Auswirkungen auf die gesellschaftliche Verfasstheit. Denn für eine deliberative Demokratieauffassung, die auch (aber nicht in Anlehnung an Jürgen Habermas) von Nida Rümelin vertreten wird, führt so etwas notwendigerweise zur Verwerfung. Er arbeitet dann am Ende seiner Erörterungen dazu zwei Regeln heraus:
"1. Rechtswidrige Aktivitäten, zum Beispiel Beleidigungen, Aufstachelung zum Völkerhass, Leugnung des Holocausts, Anstiftung zu Straftaten wie Terrorakten, müssen, auch wenn sie in den digitalen Kommunikationsräumen stattfinden, verfolgt und geahndet werden.
2. Alles andere müssen wir aushalten, beziehungsweise allem anderen müssen wir diskursiv und nicht durch Deplatforming oder andere Praktiken der Cancel Culture begegnen" (S. 126 f.).
Dem folgt ein Plädoyer für Toleranz, wofür aber auch die vorgenannten Grenzen für die Praxis genannt sind. Dabei wird erneut die duldende Dimension gegenüber dem eigentlich Negierten deutlich, denn für eine offene Debatte bedarf es derartiger realer Voraussetzungen.
Der Band endet mit Betrachtungen zur politischen Urteilskraft, die aber nur in einem Klima angstfreier Kontroversen entstehen könne. Als Motto gilt: "Wer glaubt, die besseren Argumente zu haben, sollte ihrer Wirkung vertrauen und nicht zu nicht diskursiven Mitteln greifen" (S. 154). Nimmt man diese Botschaft zur Kenntnis, so muss die gegenwärtige Diskussionskultur gelegentlich mit Erschütterung kommentiert werden. Umso wichtiger ist es an die vorgenannte Grundhaltung zu erinnern. Mit leichter Hand plädiert Nida-Rümelin für eine solche Praxis. Dabei nimmt er seine Leser mit auf eine philosophische Reise und weckt wohlmöglich durch seine anschauliche Schreibe einen Wissenshunger. Er bleibt bei all dem auf der philosophischen Ebene stehen, was man ihm angesichts seines Hintergrundes nicht vorwerfen kann. Denn derartige Diskussionen sind durch Emotionalisierung und Polarisierung eher destruktiv denn konstruktiv. Dass damit für Aufklärung und Demokratie jeweils Gefahrenpotentiale entstehen, kann man schwerlich von der Hand weisen, worauf Nida-Rümelin mit großem Recht aufmerksam macht.
Julian Nida-Rümelin: "Cancel Culture". Ende der Aufklärung? Eine Plädoyer für eigenständiges Denken, Piper, München 2023, 192 Seiten, 24 Euro
16 Kommentare
Kommentare
Roland Fakler am Permanenter Link
Ich frage mich, warum Beleidigungen, Aufstachelung zum Ungläubigenhass, Aufruf zum Dschihadterror in angeblich „heiligen“ Büchern ganz unberührt bleiben von der Cancel Culture?
Klaus Weidenbach am Permanenter Link
Es liegt vielleicht an der inzwischen unter politischen (christlichen) Meinungsmachern weit verbreiteten Auffassung, dass Kritik an der arabischen Religion "rassistisch" sei, obwohl die meisten dieses "
David Z am Permanenter Link
Gute Frage.
Die Erweiterung der Fragestellung hilft uns womöglich bei der Beantwortung der Ursprungsfrage, grade vor der Erkenntnis, dass das Linksgruene Spektrum eher zum Werkzeug des Canceln neigt als die politische Gegenseite (dazu wurde kürzlich ein Studie veröffentlicht)
wolfgang am Permanenter Link
Toleranz ja aber nicht gegenüber Intoleranten.
Wilhelm Busch
Roland Fakler am Permanenter Link
Was ist verletzender, jemanden einen „Neger“ zu nennen oder Ungläubige in die ewige Hölle zu wünschen, wie das im Alten Testament, im Neuen und im Koran geschieht?
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Jemanden mit schwarzer Hautfarbe "Neger" zu nennen ist primitiv, jemanden der nicht an
einen von Menschen erfundenen "Gott" glaubt, mit der Todesstrafe zu drohen ist m. E.
Rene Goeckel am Permanenter Link
Vorsicht! Meine Frau meint immer, mein Humor sei "primitiv".
wolfgang am Permanenter Link
Meine Frau sagt auch, ich dürfte Gott nicht lästern, der wird dich eines Tages dafür strafen!
Also doch kein "lieber Gott?"
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Sie wird das ja wohl wissen Rene (Spaß)
Holgen am Permanenter Link
Seltsame Frage. Wieso sollte man eine Rangliste von dem erstellen, was falsch ist? Wird das eine dann besser, wenn das andere als schlechter bewertet wird?
Lars Temme am Permanenter Link
Bei den zwei Regeln fehlen Kriterien, was als rechtswidrige Aktivität gelten sollte.
Ohne Kriterien für eine Rechtswidrigkeit werden sich Cancel Culture-Befürworter bemühen, einfach die von ihnen unerwünschten Meinungen für rechtswidrig erklären zu lassen. Tendenzen in diese Richtung gibt es schon. Ein anschauliches Beispiel ist die Onlinemeldestelle für Antifeminismus der Amadeu-Antonio-Stiftung.
Darüberhinaus haben wir das Problem, dass unser Rechtssystem mit zweierlei Maß agiert. Während eine Befürwortung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Strafverfolgung nach sich zieht, wurde meines Wissens noch niemand für die Befürwortung des Angriffskrieges auf den Irak durch die Amerikaner und ihre Verbündeten 2003 belangt, auch nicht für die Befürwortung unseres Angriffskrieges gegen Serbien 1999, von der Vorbereitung und Durchführung dieses Angriffskrieges mal ganz abgesehen. Umso wichtiger ist es, klare und auch verbindliche Kriterien festzulegen, was rechtswidrig sein soll.
Eine Leitplanke sollte dabei sein: Verbrechen ohne Opfer gibt es nicht und daher müssen solche Taten straffrei sein, wie z.B. die genannte Holocaustleugnung oder auch Gotteslästerung.
Roland Fakler am Permanenter Link
Die Tatsache, dass in den „heiligen“ Büchern die Menschen in Gottgläubige und Ungläubige eingeteilt werden, war Voraussetzung für die Verfolgung und Vernichtung der wertlosen Ungläubigen im Judentum, im Christentum un
Constantin Huber am Permanenter Link
Das ist eine ganz schön heikle und unterkomplexe Weltsicht.
"Er arbeitet dann am Ende seiner Erörterungen dazu zwei Regeln heraus:
"1. Rechtswidrige Aktivitäten, zum Beispiel Beleidigungen, Aufstachelung zum Völkerhass, Leugnung des Holocausts, Anstiftung zu Straftaten wie Terrorakten, müssen, auch wenn sie in den digitalen Kommunikationsräumen stattfinden, verfolgt und geahndet werden.
2. Alles andere müssen wir aushalten, beziehungsweise allem anderen müssen wir diskursiv und nicht durch Deplatforming oder andere Praktiken der Cancel Culture begegnen" (S. 126 f.)."
Dabei zeigen uns doch Studien etwa zum Twitterban von Trump, dass Deplatforming einen sehr hohen Nutzen haben kann, indem die Verbreitung von Desinformation nachweislich enorm zurückgeht.
Schade, dass weder der Autor, noch Armin Pfahl-Traugher diese Studien zu kennen scheinen und hier derart unreflektiert demokratiefeindliche Handlungen relativieren.
Das vorgeschlagene Konzept ist nicht liberal & progressiv, sondern libertär & ignorant – mit fatalen Folgen.
https://www.volksverpetzer.de/analyse/kenfm-trump-cancel-culture/
Lars Temme am Permanenter Link
Extremisten und Demokratiefeinde sind diejenigen, die die freie Meinungsäußerung beschneiden wollen. Selbst, wenn sie, wie in Ihrem Fall, sich dessen gar nicht bewusst sind, Herr Huber.
Lügner und Lügen wird es immer geben. Eine aufgeklärte Gesellschaft mit einer gesunden Diskussionskultur wird damit klarkommen. Der Erfolg eines Klabautermanns wie Donald Trump gründet nicht auf Falschinformationen, sondern auf der bereits weitgehend kaputten politischen Kultur in den USA. Das Experiment, ob man auch einen Rückgang an Falschinformationen (wenn es den überhaupt gab, mehr dazu weiter unten) gemessen hätte, wenn Trumps Gegner von Twitter ausgeschlossen worden wären, wurde nicht durchgeführt, sollte aber zum Nachdenken anregen. Was wir aber über Trumps Gegner wissen, ist, dass sie die Verbreitung eines New York Post-Artikels, dessen Kernaussagen, wie wir heute wissen, korrekt waren und der Joe Biden im Wahlkampfendspurt massiv hätte schaden können, auf Twitter und Facebook unterdrückt haben.
Ich will hier aber nicht Donald Trump verteidigen, der Mann ist auch furchtbar. Ich will auf zweierlei hinaus: Zum einen, wie gerade schon gesagt, dass Meinungsfreiheit und das, was man als ihren Missbrauch bezeichnen kann, nicht die Ursache für Trumps Erfolg ist/war. Wenn ein Multimilliardär sich im Wahlkampf erfolgreich als bessere Alternative zu einer mit Wall Street-Verbindungen ausgestatteten "crooked Hillary" positionieren kann, liegt ganz was anderes im Argen als die Meinungsfreiheit, dann ist der politische Gegner offensichtlich ein ebenso großes Problem wie Trump, und in den Augen der Wähler sogar ein noch größeres.
Zum anderen zeigt die Episode mit dem New York Post-Artikel, dass "Deplatforming" offensichtlich hemmungslos ausgenutzt wird, wenn man es kann. Ob dabei Wahrheit oder Unwahrheit ihrer Verbreitungsmöglichkeiten beraubt werden, interessiert die Deplatformer nicht die Bohne. Deplatforming wird ebenso ausgenutzt werden wie Meinungsfreiheit und entspricht damit dem sprichwörtlichen Ausschütten des Kindes mit dem Bade.
Zu guter Letzt noch der Hinweis, dass viele Falschinformierer sich ihrer Falschinformationen noch nicht einmal bewusst sind. Sie, Herr Huber, gehören auch dazu (und das nicht nur mutmaßlich wegen des Folgenden, ich habe an anderer Stelle schon Entsprechendes von Ihnen gelesen). Sie schreiben von Studien, Plural, "etwa zum Twitterban von Trump, dass Deplatforming einen sehr hohen Nutzen haben kann, indem die Verbreitung von Desinformation nachweislich enorm zurückgeht". Ich verstehe das so, dass es zum Twitterbann von Trump mindestens zwei Studien gibt, die diesen Effekt belegen. Würden Sie diese Studien bitte einmal benennen und am Besten verlinken? Ich war nämlich neugierig und habe versucht, sie ausfindig zu machen. Es ist mir nicht gelungen. Das, was dem am nächsten kommt, ist ein Washington Post-Artikel (https://www.washingtonpost.com/technology/2021/01/16/misinformation-trump-twitter/), der sich wiederum auf Zignal Labs beruft (eine Firma, die laut eigenem Internetauftritt unter anderem mit dem Rüstungskonzern BAE Systems zusammenarbeitet - ja, ich wittere hier moralische Verkommenheit aufgrund einer "Kontaktschuld"). Zignal Labs will aber nur herausgefunden haben, dass Gespräche über Wahlbetrug um 73% (ich komme auf 72%, liegt wahrscheinlich an gerundeten Ausgangswerten) zurückgegangen seien ("conversations about election fraud dropped from 2.5 million mentions to 688,000 mentions across several social media sites in the week after Trump was banned from Twitter"). Ob in diesen Gesprächen Falschinformationen verbreitet wurden, oder gar in welchem Umfang, weiß auch Zignal Labs anscheinend nicht. Ich konnte die Original"studie" jedenfalls nicht finden, die einen enormen Rückgang an Falschinformationen belegen würde. Zignal Labs scheint mir aufgrund seiner Ausrichtung und Methodik zu einer solchen Forschungsarbeit auch gar nicht in der Lage zu sein, die kratzen mit ihren statistischen Methoden wohl eher an der Oberfläche.
Aber vielleicht kennen Sie die Originaluntersuchung von Zignal Labs ja und können mich eines Besseren belehren. Sie haben sich ja weit aus dem Fenster gelehnt, sogar von mehreren Studien gesprochen und zwei Autorenkollegen kritisiert, das die derartige Studien nicht kennen. Na dann, Butter bei die Fische: Erleuchten Sie mich und den Rest der Leserschaft. Vielleicht haben Sie ja doch Recht? Unter anderem deshalb spreche ich Sie darauf an - anstatt ihre Cancelung zu verlangen. Denken Sie mal darüber nach.
malte am Permanenter Link
Wie kommst du darauf, dass Pfahl-Traughber und Nida-Rümelin die Studien nicht kennen?
Dass eine Maßnahme einen "Nutzen" hat, ist allein noch kein Grund, sie auch zu befürworten. Es hätte sicherlich auch einen gewissen Nutzen, wenn man alle Städte bis in den letzten Winkel mit Überwachungskameras zupflastern würde oder sämtliche digitale Kommunikation anlasslos auf Kinderpornographie scannt. Ich befürworte beides trotzdem nicht.
Ich habe lange Zeit das Community-Management für zwei große Facebook-Seiten gemacht. Dabei wurde ziemlich genau so vorgegangen, wie in den zwei Regeln formuliert. Beleidigungen, Drohungen, Rassismus usw. wurden gelöscht und im Wiederholungsfall auch die Urheber gesperrt, alles andere - egal, wie dumm oder falsch - blieb stehen.
Meinungsfreiheit beinhaltet immer auch die Freiheit, Unsinn zu erzählen. Die ganze Debatte um "Fake News" konzentriert sich immer nur auf die Plattformen und nicht auf die Konsumenten. Dabei müsste man genau da ansetzen. Die Menschen müssen lernen, Informationen aus dem Netz zu hinterfragen, einen Bullshit-Detektor entwickeln. Genau da gibt es Defizite. Gerade kürzlich erst hat eine Studie festgestellt, dass die Generationen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, Desinformation sogar noch schlechter erkennen können als ältere Menschen.
Constantin Huber am Permanenter Link
Als Ideal ist das unten im Zitat Angefügte sicherlich ein ehrbares Ziel.
Das hehre Ziel, dass irgendwann einzig das stärkere Argument überwiegt, wird ja sicher nicht dadurch erreicht, dass rationale Diskurse an noch mehr Stellen als ohnehin bereits torpediert bis hin zu verunmöglicht werden.
[""Wer glaubt, die besseren Argumente zu haben, sollte ihrer Wirkung vertrauen und nicht zu nicht diskursiven Mitteln greifen" (S. 154)"]