Der Humanistische Verband Österreich (HVÖ) veröffentlichte am 25. Januar einen Offenen Brief an den Österreichischen Rundfunk (ORF). Dieser hat einmal mehr nur anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften zu einem Gedankenaustausch eingeladen. Nicht berücksichtigt wurden jedoch Konfessionsfreie. Der hpd veröffentlicht den Offenen Brief im Wortlaut.
Sehr geehrter Herr Generaldirektor Weißmann,
laut der APA Presseaussendung vom 12. Januar 2024 haben Sie die Spitzen der 16 gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften in Österreich zu einem Gedankenaustausch in den ORF-Mediencampus eingeladen. Dabei haben Sie die Bedeutung unabhängiger Religionsberichterstattung und deren Beitrag zu Verständigung und Zusammenhalt in der österreichischen Gesellschaft besonders hervorgehoben.
In der Aussendung heißt es weiter: "Demokratie braucht … öffentliche Diskurse und starke Stimmen, die sich zu Wort melden. Sie tun das immer wieder und ermutigen mit Ihrer Arbeit viele Menschen, sich an verschiedenen Diskursen zu beteiligen. Diese Stimmen braucht unsere Gesellschaft und die brauchen auch wir im ORF, um ein ORF für alle sein zu können."
Das Diskursprinzip von Habermas besagt, dass Normen nur dann gültig seien, wenn sie "die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden oder finden könnten". Alle Betroffenen sind in diesem Zusammenhang auch und vor allem die vielen Nicht-Religiösen in unserem Land, die unter den proaktiven normativen Aktivitäten von religiösen Gruppierungen leiden. Beispiele sind die Sterbe-Assistenz, die wieder aufkeimende Abtreibungsdebatte und der Ethikunterricht, der Kindern von religiösen Eltern vorenthalten wird, aber auch eine ganze Reihe anderer Themen, die wir gerne substantiieren.
Wenn Sie nun in der APA-Meldung betonen, dass Glaube und Religion im Leben vieler Menschen in Österreich eine wichtige Rolle spielen und daher im ORF einen großen Stellenwert einnehmen, dann vergessen Sie bitte nicht, dass die am stärksten wachsenden Gruppen die der Nicht-Religiösen, der Konfessionsfreien und der säkular Denkenden sind.
In wenigen Monaten wird der Katholizismus keine Mehrheit mehr in diesem Land haben, in Wien stellen die Konfessionsfreien bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung, in Österreich knapp über 31 Prozent, das ist mehr als das Zehnfache als die Zahlen der Evangelischen Kirche, und bis zum Fünfhundertfachen jener "starken Stimmen", die Sie zu sich eingeladen haben.
Konfessionsfreie wollen niemanden von ihren Ansichten überzeugen, das heißt aber nicht, dass sie keine Interessen haben. Anders als die Religiösen haben sie in unserem Gemeinwesen keinen Schutz, keine wirksame Vertretung, die bei solchen Ereignissen eingeladen wird, und nicht nur keine starke, sondern gar keine Stimme, meist ausgeschlossen vom Diskurs, und das widerspricht Ihrem Leitsatz "ORF – für alle".
Weder sind die Konfessionsfreien in den entsprechenden Gremien vertreten, noch sind sie im Programm ihrer gesellschaftlichen Bedeutung entsprechend berücksichtigt, weil die Religionsabteilung sich nur für Religionen und nicht für Religionskritik und Nicht-Religiöse zuständig fühlt, und ruft man als säkularer Humanist im ORF an, so wird man auf die Religionsabteilung verwiesen.
Doch Säkulare und Konfessionsfreie sind bei den Events nicht eingeladen, bei denen es sich um die "Abbildung des Querschnitts der Bevölkerung" dreht. Wenn Sie nur alle Religionen einladen, so laden Sie damit gleichzeitig fast ein Drittel der Bevölkerung aus.
Das kann auf Dauer nicht in Ihrem Interesse sein. Sie sind laut Gesetz verpflichtet, den ORF so zu führen, dass dem Bevölkerungsquerschnitt Rechnung getragen wird und nicht nur die Religionen und Religionsgemeinschaften einzuladen, wie dies seit geraumer Zeit nicht nur im ORF Usus geworden ist.
Wir verweisen dazu an Einladungen zu den Enqueten Ethikunterricht und Sterbehilfe, bei beiden waren zunächst keine Vertreter der Konfessionsfreien eingeladen, obwohl es im ersten Fall genau um deren Interessen ging und im zweiten Fall sie mitverantwortlich dafür waren, am 11.12.20 das alte Gesetz beim VfGh zu Fall zu bringen und den Weg für das seit dem 01.01.22 geltende Sterbeverfügungsgesetz zu ebnen, welches die rechtlichen Voraussetzungen für den assistierten Suizid regelt.
Ebenso sollten wir, wie in anderen Ländern bereits praktiziert, im Publikumsrat und in vergleichbaren Gremien vertreten sein, und hier sind wir nicht allein: der Humanistische Verband Österreich ist Teil der Humanists International mit weltweit über 170 Mitgliedsverbänden.
Der ORF hat zweifelsfrei einen gesellschaftspolitischen Auftrag für alle Menschen, die hier leben, bitte kommen Sie diesem Auftrag auch für die rund 31 % starke und schnell wachsende Gruppe der Konfessionsfreien in Österreich nach.
Über Ihr Gesprächsangebot in der Generaldirektion für unsere Anliegen und Vorschläge werden wir uns sehr freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Andreas Gradert
Präsident Humanistischer Verband Österreich
Präsidium giordano bruno stiftung Austria
Präsidium Atheisten Österreich
Mag. Balázs Bárány
Präsident-STV Humanistischer Verband Österreich
Dustin Krinzer
Obmann Atheisten Österreich
DI Reinhard Schler
Präsident Humanistischer Verband Oberösterreich (AHA – Allianz für Humanisten und Atheisten Oberösterreich)
Peter Teyml
IG Säkulare Tirol
Dr. Rupert Biedrawa
Präsident Ökologisch-Humanistische Gesellschaft Salzburg
Erstveröffentlichung auf der Website des HVÖ.
4 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Na da bin ich mal gespannt wie das Spielchen in Österreich weitergeht, ob der ORF weiterhin Religionsfreie Bürger ignoriert oder endlich in der Lage ist, die Realität zu erkennen.
Roland Fakler am Permanenter Link
Unter Märchenerzählern sind Leute, die auf die Realität verweisen, nicht gern gesehene Spielverderber.
A.S. am Permanenter Link
Und wieder sieht man, wo die Front verläuft:
Die vereinten Religionen stimmen sich ab und bekämpfen gemeinsam die Aufklärung.
Streminger Gerhard am Permanenter Link
Wenn man wirklich >starke Stimmen< hören will, möge man dem Chor der Aufklärung lauschen.