BERLIN. (hpd) „Selbstbestimmtes Lernen“, „Freiräume für Neugier und Kreativität“, „das Kind Entdecker sein lassen“, „ individuellen Entwicklungsweg ermöglichen“, „Partizipation und Verantwortung“. Die Liste ist endlos. Und im Alltag? Ein Blick nach Berlin und drei Schulbesuche.
Teil 1 / Teil 2 : Schulalltag
Ich habe drei unterschiedliche freie Schulen besucht, um einen Eindruck vom Schulalltag zu gewinnen.
Besucheranfrage: Ich werde zu der Schulversammlung am Dienstag um 12 Uhr gebeten, um mein Anliegen vorzutragen. Die Schule befindet sich im 1. Stock.
Manche Räume sind karg eingerichtet, manche wie die Bibliothek sind gemütlich. So wollen es die Schüler.
30 Kinder gehen hier zur Schule, die seit 2007 existiert. Sieben Mitarbeiter gibt es. Die Teilnahme an der Schulversammlung ist freiwillig. An diesem Dienstag sind 4-5 vom Team und ein bis zwei Kinder da. Ein Kind schreibt die Rednerliste, ein Mitarbeiter protokolliert Anträge und Beschlüsse, eine Mitarbeiterin leitet die Versammlung. Letztere wurden von der Schulversammlung gewählt.
Hier und da gibt es Diskussionen um die Tagesordnung. (Die neu gewählte Leitung der Schulversammlung muss sich erst wieder einfinden.)
Betroffene werden gegebenenfalls hineingeholt. Mein Antrag wird unter gewissen Voraussetzungen bewilligt. Zuviel schlechte Erfahrung wurde bisher mit kurzzeitigen Besuchen gemacht. Oft berge es die Gefahr, einen zu einseitigen Eindruck zu gewinnen. Daher eben unter dem Vorbehalt des Gegenlesens vor der Veröffentlichung.
Mittwoch, kurz vor zehn. Eine Gruppe versammelt sich, sie wollen zu einem Photoprojekt vor den Reichstag gehen. Daraus soll ein Kalender entstehen. Die Erlöse sollen die geplante Amerika Reise mitfinanzieren, einem internationalen Sudbury Treffen.
Gleichzeitig findet das Justizkomitee statt. Eine Mitarbeiterin hat heute den Vorsitz im Justizkomitee. Ein weiterer Mitarbeiter protokolliert. Die Besetzung beider Positionen, ob Schüler oder Mitarbeiter, wird von der Schulversammlung gewählt. Zwei Schüler, "die Beisitzer" können Einspruch erheben, holen die Zeugen herein, stellen Fragen und widersprechen gegebenenfalls den Strafsätzen. Jede(r) ist hier mal für 2 Wochen Dienst an der Reihe. Alle vier haben das gleiche Stimmenrecht. Anzeigen werden durchgearbeitet. Die meisten werden vertagt, da es an Zeugen fehlt, die gerade unterwegs sind. Das Justizkomitee ist für die Bearbeitung von Fällen zuständig, bei denen gegen die von der Schulversammlung beschlossenen Regeln verstoßen wurde. Im Zweifel für den Angeklagten, wie im Rechtsstaat.
Ein kleineres Mädchen hat einen größeren Jungen angezeigt, weil er sie anscheinend beschimpft hat.
Die Zeugen haben nichts mitgekriegt. Das Mädchen kann sich nicht genau an den Vorfall erinnern Die Anzeige wird fallen gelassen mangels Beweisen. Sie hat mehrere Anzeigen geschrieben, erscheint also öfter. Doch jedes Mal das gleiche, entweder fallen gelassen oder vertagt, mangels Zeugen oder mangels Beweisen. Heute ist kein guter Tag, um die Anzeigen zu bearbeiten, da die meisten für das Photoprojekt unterwegs sind.
Dann wird ein 11-jähriger Junge hereingerufen. Er wird von der Instanz des Justizkomitees angezeigt, weil er eine Auflage nicht eingehalten hat.
Ihm wird es zu viel, bricht in Tränen aus, bekommt eine Pause. Ein weiteres Mädchen wird angeklagt, sie habe ihre gemeinnützige Arbeit nicht erledigt. Sie muss es nachholen.
Der Junge wird noch einmal hereingeholt. Es wird eine Lösung gefunden.
Justizkomitee wird beendet für heute. Jeden Morgen findet es statt.
Die Kinder, die geblieben sind, verteilen sich in den Räumen. Zwei spielen Ladenverkauf, einige sind in der Bibliothek, ein ehemaliger Schüler ist auf Besuch und ein paar sind im Toberaum, ein paar spielen Nintendo. Das Team sitzt am großen Tisch, man unterhält sich. Es ist Mittagspause.
Hier und da setzt sich ein Kind dazu. Einem Jungen scheint es langweilig zu sein. Das sei Teil der Entwicklung und Teil der „Entgiftungsphase“: Der Wechsel vom Regelschulsystem, von Vorgaben zu Eigeninitiative. Ankommen, Grenzen austesten, eigene Impulse spüren und damit etwas anfangen können. Diese Umstellung braucht Zeit und ist nicht immer bei jedem erfolgreich, im schlechtesten Fall wegen zu vielen Regelverstößen und manch' fehlender Einsicht nicht tragbar für die Schulgemeinschaft . Die Freiheit des einzelnen höre eben da auf, wo die Freiheit der anderen bedroht werde.
Es sei eine Herausforderung für die Mitarbeiter, sich zurückzuhalten, auf den Impuls vom Kind aus zu warten.
Es gibt Lernverabredungen, auch in Kleingruppen, zum Biologie lernen, einen Spanischkurs, Japanisch und auch Mathe. Es gibt einen Tag, an dem man zum schwimmen gehen kann. Lesen, schreiben und rechnen lernen die wenigsten jedoch in Verabredungen, sondern beim Gang zum Bäcker oder beim Computerspiel. Auch freies Malen fördere die bewusste Stiftführung. Spielzeit ist eine wichtige Lernzeit.
Selbstbestimmtes Lernen? Woher kommt der Impuls aus dem Kind?
Bedarf es nicht einer gewissen Stärke, seinem Impuls zu folgen, seine Interessen durchzusetzen, seine Anklage zu verteidigen? Besitzt die automatisch jedes Kind? Braucht der ein oder andere nicht Anregungen oder Unterstützung aus dem Umfeld?
Drei Stunden sind wenig für solch eine Schule, um einen Einblick zu gewinnen. Doch die Frage bleibt: Kann diese Form von Freiheit jedem Kind gerecht werden?