(hpd) Besonders in den letzten 10 Jahren hat sich die Selbsthilfe zunehmend in einer landes- und bundesweiten institutionalisierten
Verbandsstruktur organisiert. Profil- und Aufgabenspektrum haben sich zunehmend erweitert, denn sie ist aktiv beteiligt bei der Frage der Versorgung und der Kooperation mit professionellen Strukturen. Eine Tagung der Theodor Springmann Stiftung widmete sich deshalb 2007 dem Thema: „Korrupt oder Korrekt: Wie bleibt die Selbsthilfe unabhängig?“ Nun liegen die Beiträge in gedruckter Form vor.
Internationale Verbraucherorganisationen kritisieren das skrupellose Marketing der Pharmaunternehmen. Die 20 größten Unternehmen geben weltweit jährlich mehr als 60 Mrd. US$ für die Vermarktung ihrer Produkte aus. Wie viel davon in die direkte Beeinflussung von Ärzten und Patienten fließt, ist intransparent. Patientenvertreter und Selbsthilfe sollen zukünftig an der Gestaltung unseres Gesundheitswesens beteiligt werden. Damit werden sie auch Zielgruppe der Einflussnahme von Gesundheitsunternehmen und anderen politischen Kräften.
Der schlagzeilenträchtige Vorwurf, die Selbsthilfe sei pharmagesteuert, lässt sich hingegen nicht belegen.
Einfluss auf die Selbsthilfe
In gesundheitspolitischen Debatten, auch im Wahlkampf 2005, immer dann, wenn um die zukünftige Gestaltung des Gesundheitswesens gestritten wird, wenn es um die Verteilung der Mittel im System geht und um demokratische Patientenbeteiligung, häufen sich die Presseartikel zu "pharmagesteuerten Patienten". Eine Welle von gleich klingenden Presseartikeln erzeugte zuletzt die Präsentation des Werkstattberichtes "Einfluss des pharmazeutisch-industriellen Komplexes auf die Selbsthilfe" von Dr. Kirsten Schubert, Universität Bremen. Eine wesentliche Forderung dieser Arbeit, dass die unabhängige Finanzierung der Selbsthilfe und der Patientenbeteiligung besser und demokratischer gesichert werden müsse, fand den Weg nicht in die Schlagzeilen. Eine andere Öffentlichkeit zu schaffen, Fragen diesseits des Kanons zu stellen, war das Anliegen der Tagung. Die Debatte um die vermeintliche Korrumpierbarkeit der Selbsthilfe sollte um den Blick auf die pharmapolitischen Kräftespiele und ihre Akteure erweitert werden. Die Patientenorganisationen wirken darin nicht ebenbürtig mit.
Zur selbst gestellten Aufgabe der Selbsthilfe, durch gegenseitige Hilfe die Krankheit zu bewältigen oder mit ihr leben zu lernen, gesellen sich weitere Bedürfnisse von Rat und Hilfe suchenden Menschen. Es fehlt an patientengerechter Information über Diagnose und Therapien, Identifizierung und Verhinderung von Fehlversorgung, Sozialberatung und anderem. Auch weil öffentliche Institutionen und ärztliche Selbstverwaltung hinter ihren gesetzlichen Aufgaben zurückbleiben, sind Patienten auf eine eigene Interessenvertretung angewiesen.
Patientenbeteiligung
Die Patientenbeteiligung in den Gremien des Gesundheitswesens eröffnet der Selbsthilfe neue Formen der Mitbestimmung, z. B. in den Gremien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Diese gewollte Teilhabe förderte eine landes- und bundesweite institutionalisierte Verbandsstruktur. Die zusätzlichen Aufgaben erfordern professionelle Strukturen. Es braucht eine Finanzierung von Selbsthilfe und Patientenbeteiligung, es geht um "wer darf zahlen", "wer muss das Geld aufbringen", "von wem darf man Geld nehmen", und "wer darf welche Aktivitäten finanzieren".
Die politisch Verantwortlichen delegieren die Beschaffung der Mittel für öffentliche Aufgaben in private Initiative. Vertreter gesetzlicher Krankenkassen befürchten, dass die stärkere Beteiligung von Patientenvertretern an wichtigen Entscheidungen sie für eine verstärkte Einflussnahme der Pharmaindustrie und Ärzteschaft interessant werden lässt. Sie wollen das kontrollieren. Selbsthilfe entsteht jedoch aus persönlichem Engagement und freiwilliger Arbeit und ist ihrem Sinne nach Freiraum. Die Kassen sollten die Unabhängigkeit und Entscheidungsfähigkeit der Selbsthilfe stärken.
Selbsthilfe
In den Beiträgen der Selbsthilfe- und der Verbraucherseite von Ursula Helms, Geschäftsführerin der NAKOS, Gudrun Kemper, Breast Cancer Action Germany, Christoph Kranich, Leiter der Fachabteilung Gesundheit und Patientenschutz der Verbraucherzentrale Hamburg und Nippert, Geschäftsführerin der DMSG, Landesverband Berlin, werden die verschiedenen Spielarten der nicht immer vereinbaren Anforderungen deutlich. Auch zeigen sie, wie sich Selbsthilfeinitiativen vor Vereinnahmung schützen können und liefern differenzierte Antworten auf die Frage, wann patientenunterstützende Arbeit auf Sponsoring durch Gesundheitsunternehmen verzichten muss. Eine wichtige Forderung ist die Transparenz nach innen für die Mitglieder der Patientenorganisationen, damit ihre demokratische Teilhabe und Willensbildung gesichert wird.
Chancen und Risiken von Sponsoringverträgen
Eine notwendige gesellschaftliche Forderung ist die nach einem unabhängig verwalteten und demokratisch legitimierten Förderpool, der die Geldmittel für die Selbsthilfe bereitstellt und in den sich auch Industriespenden einbinden ließen. Auch in Schuberts Werkstattbericht zeigt sich das Problem: Vorteilsnahme und persönliche Bereicherung von Entscheidungsträgern findet nicht öffentlich sichtbar statt und ist mit wissenschaftlichen Methoden schwierig zu belegen. Umso nötiger ist es für die Glaubwürdigkeit einer Organisation als unabhängige Patientenlobby, dass ihre Finanzierung transparent ist und unabwendbare Abhängigkeiten für alle die es angeht, sichtbar werden.
Kodizes zum Umgang mit Sponsorengeldern können Missbrauch und Misstrauen nicht völlig ausschließen. Jedoch dürften die Organisationen der Patienten und der Selbsthilfe die Unschuldsvermutung ebenso für sich beanspruchen wie die Standesorganisationen der Ärztinnen und andere sich selbst kontrollierende Anbieter.
Patientenbezogene Werbung
Wie der Beitrag von Müller-Oerlinghausen AkdÄ zeigt, zielt das massive Lobbying der Industrie auf die Abschaffung des Werbeverbotes für Arzneimittel. Er sieht das Problem in der Arzneimitteldesinformation, der Ärzteschaft und Nichtärzte gleichermaßen ausgesetzt sind. Eines ihrer Instrumente ist die Fortbildung der Ärzte, die immer noch hauptsächlich von der Pharmaindustrie durchgeführt wird. Das widerspricht auch den ausdrücklichen Interessen von Patienten, wie Umfragen zeigen: Patienten und Angehörige wollen von der Pharmaindustrie und anderen Gesundheitsunternehmen unabhängige Information.
Das Medium bestimmt den Grad der Einflussnahme häufig stärker, als die eingesetzte Geldsumme. Von der Gesundheitsindustrie bezahlte ärztliche Experten als verdeckte Werber, therapiebezogene Broschüren oder für Journalisten verdaulich aufbereitete Materialien zu Medizinprodukten sind in der patientenbezogenen Werbung wirksamer als ein Infoblatt mit Adressen unabhängiger Beratungsstellen, auf dem die Logos der (Pharma) Sponsoren prangen. An der flotten Übernahme der HPV-Impfung in nationale Impfprogramme zeigt sich, mit welchen Interventionen die betreffenden Unternehmen die Markteinführung unterstützen. Der Impfstoff, dessen Brauchbarkeit für die Prävention von Gebärmutterhalskrebs und anderen Genitaltumoren stark umstritten ist, kostet die Krankenkassen in Deutschland pro Jahr voraussichtlich eine halbe Milliarde Euro. Die erfolgreichen Kampagnen der Hersteller richteten sich in Deutschland nahezu ausschließlich auf ärztliche Gutachter und Journalisten, die dann den entsprechenden öffentlichen Druck erzeugten.
Anwendungsbeobachtung
Die andere Seite ärztlicher Zusammenarbeit mit der pharmazeutischen Industrie zeigt Haas vom Jüdischen Krankenhaus in Berlin am Beispiel der Anwendungsbeobachtung. Sie entwickelt perspektivisch, wie sie sich als brauchbares Instrument zur besseren individuellen Versorgung mit Arzneimitteln einsetzen ließe. Die oft berechtigten Einwände gegen AWB würden durch strikte Qualitätssicherung und Veröffentlichungspflichten zu beheben sein.
Im Referat Schröders vom wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen werden die immensen Geldbeträge und Gewinnspannen anschaulich, um die es im Arzneimittelmarkt geht. Sichtbar wird, warum es sich für die pharmazeutische Industrie lohnt, weltweit mehrstellige Milliardenbeträge nur für Marketing und Werbung auszugeben und aufwändiges Lobbying bei Politikern und Krankenkassenvertretern zu betreiben. Die Perspektive einer hochwertigen Versorgung zu günstigeren Preisen würde erfordern, Krankenkassen gesetzlich und politisch so auszustatten, dass sie als ebenbürtige Vertragspartner gegenüber der Gesundheitsindustrie auftreten können.
Unter dem Primat, wenn behandelt werden kann, wird auch bezahlt, schien bisher Rationierung etwas, das einem zustieß, wenn man keine Fürsprecher hatte. Der Vortrag Kuglers, Gesundheitswissenschaftler an der Universität Dresden, beschreibt den grundlegenden Wandel im deutschen Gesundheitssystem hin zu gesundheitsökonomisch basierten Entscheidungsprozessen, die zunehmend die Evidenz medizinischer Leistungen abfragen. Die tatsächlich erreichte Lebensqualität der Patienten und die Tauglichkeit der Versorgung sind dabei entscheidende Kennzahlen für die Beurteilung der Evidenz. Eine wichtige Zukunftsaufgabe der Selbsthilfeorganisationen ist deshalb die Beteiligung in den Beratungsgremien für Bewertungen von Diagnostik und Therapie.
Laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes "muss dafür Sorge getragen werden, dass die Leistungsfähigkeit der Selbsthilfeunterstützung in Deutschland erhalten" bleibt. Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit in der kritischen Begleitung medizinischer Entwicklung sind eine wesentliche Leistung, die von der Selbsthilfe für unsere Gesellschaft erbracht wird. Die sollten wir uns erhalten.
Evelyne Hohmann
Dokumentation der Fachtagung: Korrupt oder korrekt. Wie bleibt die Selbsthilfe unabhängig? März 2008, Berlin
Hrsg. Theodor Springmann Stiftung, 8,50 Euro incl. Versandkosten
ISBN 978-3-00-023318-0
Bezug oder telefonisch Bestellung: +49 30 44024079