(hpd) Der Politikwissenschaftler Frank Deppe will eine Darstellung und Einschätzung des politischen Denkens im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts vornehmen. Zwar findet man hier und da beachtenswerte Reflexionen, insgesamt wirkt der Band aber etwas „zusammengestoppelt“ und lässt viele inhaltliche Aspekte vermissen.
Wie kann das politische Denken im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts aus marxistischer Sicht gedeutet werden? Auf diese Frage will der Politikwissenschaftler Frank Deppe, lange Jahre Professor an der Universität Marburg und wichtiger Protagonist der “Abendroth-Schule“, eine Antwort geben. Sein Buch „Politisches Denken im Übergang ins 21. Jahrhundert. Rückfall in die Barbarei oder Geburt einer neuen Weltordnung?“ bildet den vierten und abschließenden Band seiner Betrachtungen zum „Politischen Denken im 20. Jahrhundert“. Die vorherigen Bände hatten sich den Anfängen des 20. Jahrhunderts (Band 1), der Zwischenkriegszeit (Band 2) und dem Kalten Krieg (Band 3/1 und 3/2) gewidmet, wobei jeweils immer bestimmte Theoretiker im Zentrum standen: Dabei ging es um Max Weber, Vilfredo Pareto, Wladimir I. Lenin und Sun Yat-sen ebenso wie um Carl Schmitt, Antonio Gramsci, John Maynard Keynes und Mao Zedong ebenso wie um Hannah Arendt, Wolfgang Abendroth, John Kenneth Galbraith und Ernesto Guevara.
Die sechs Kapitel des letzten Bandes konzentrieren sich demgegenüber mehr auf allgemeine Themen, wobei darin die Darstellung und Kommentierung einzelner Theoretiker eingebaut wird. Zunächst geht es um die neue Weltordnung mit der Erosion der Pax Americana, die neue Kapitalismus-Formation mit den Widersprüchen des Finanzmarktes und das Versagen der Politik angesichts der ökologischen und ökonomischen Krise. Dabei geht Deppe auf die Theorien von Eric Hobsbawm, Jürgen Habermas und Samuel Huntington näher ein. Dem folgen die Kapitel zu Renaissance und Politisierung der Religionen, den Grenzen sozialliberaler Modernisierungsstrategien und den Vorstellungen von einem Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Hier findet man Ausführungen zu Joseph Ratzinger, Anthony Giddens, Jürgen Habermas und Michael Hardt/Antonio Negri. Dabei zieht Deppe auch eine Jahrhundertbilanz für die Entwicklung des Sozialismus bezüglich der politischen Idee in allgemeiner Form wie der politischen Systeme von DDR und Sowjetunion.
Bilanzierend heißt es zur Einschätzung der Theorien aus marxistischer Sicht: „Im politischen Denken reflektieren sich – in letzter Instanz – nicht allein die unterschiedlichen Interessen sozialer Klassen (bzw. von Klassenfraktionen), sondern auch die Widersprüche und Konfliktpotentiale der Kapitalakkumulation, die sich nach innen u.a. in der Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie in den sozialen und politischen Folgen der Großen Krisen (z. B. Massenarbeitslosigkeit), nach außen in den zwischenstaatlichen Konflikten manifestieren, in denen um Positionen in der ‚Weltordnung’ – auf dem Weltmarkt wie in der Weltpolitik – gerungen wird“ (S. 11) Entsprechend dieser Auffassung kritisiert Deppe auch all jene Ansätze, die diesen Kontext nicht berücksichtigen. So heißt es etwa: „Das Konzept der ‚reflexiven Modernisierung’ berücksichtigt zwar die neuen Risiko- und Katastrophenpotentiale kapitalistischer Vergesellschaft, negiert aber den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und dem Verwertungszwang ...“ (S. 121).
Der Band enthält eine Reihe von kritischen Reflexionen, die wie die vorgenannte Kritik an den Auffassungen zur „reflexiven Modernisierung“ Beachtung verdienen. Dies gilt etwa auch für die Erklärung der „Anziehungskraft“ (S. 177) des Islamismus, wobei auf soziale Faktoren verwiesen wird. Allgemein enttäuscht der Band allerdings aus formalen und inhaltlichen Gründen: Insgesamt wirkt das Buch zu fragmentarisch und „zusammengestoppelt“, so als ob Textbausteine nur zusammengeschoben wurden. Darüber hinaus konzentriert es sich keineswegs immer auf das politische Denken, stehen in manchen Kapiteln doch außenpolitische oder ökonomische Gesichtspunkte im Zentrum des Interesses. Ärgerlich sind auch manche Fehler: In das Word Trade Center raste am 11. September 2001 nicht „ein“ (S. 39), sondern zwei Flugzeuge. Die Ausführungen zu einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bleiben blass und unklar. Und mit Diktatur und Verbrechen im „real existierenden Sozialismus“ des 20. Jahrhunderts setzt Deppe sich nicht wirklich auseinander.
Armin Pfahl-Traughber
Frank Deppe, Politisches Denken im Übergang ins 21. Jahrhundert. Rückfall in die Barbarei oder Geburt einer neuen Weltordnung? (Politisches Denken im 20. Jahrhundert. Band 4), Hamburg 2010 (Verlag VSA), 438 S.





