Realitätsbezug in der politischen Philosophie

(hpd) Der in Cambridge lehrende Philosoph Raymond Geuss wendet sich gegen die Fixierung an Idealen und Moral und die Ignoranz gegenüber Interessen und Macht in der politischen Theorie. Demgegenüber plädiert er überzeugend für eine stärker realistisch ausgerichtete Perspektive, wenngleich er merkwürdige „Referenzklassiker“ dafür benennt und es an einem inhaltlich entwickelten Gegen-Modell mangelt.

 

Liest man klassische oder moderne Texte aus dem Bereich der politischen Philosophie vermisst man nicht selten die formale und inhaltliche Verkopplung mit der gesellschaftlichen Realität. Der Hinweis, dafür sei die politische Philosophie oder politische Theorie eben eine politische Philosophie oder politische Theorie, vermag damit einhergehende Einwände aber auch wieder nur theoretisch zur Seite zu schieben. Es mangelt hier in der Tat häufig an dem nötigen Realismus, welcher sich ja nun nicht auf der Ebene eines Parteiprogramms bewegen müsste. Darauf will der in Cambridge (Großbritannien) lehrende Philosoph Raymond Geuss in seiner Abhandlung „Kritik der politischen Philosophie. Eine Streitschrift“ aufmerksam machen. Bereits zu Beginn beklagt er bei den akademischen Vertretern dieser Disziplin ebenso wie bei den von ihnen geprägten Politikern einen stark „kantischen“ Einschlag, der sich in einem „hochgradig moralisierenden Ton“ (S. 11) artikuliere. Mit dem Slogan „Politik ist angewandte Ethik“ nehme man aber eine falsche Perspektive ein.

Demgegenüber will der Autor gegen die Auffassung „Ethik hat Vorrang“ einen fruchtbareren theoretischen Zugriff formulieren: „Erstens muss die politische Philosophie realistisch sein“ (S. 22). Sie dürfe nicht davon ausgehen, wie Menschen handeln sollten, sondern wie sie handelten. „Zweitens ... muss die politische Philosophie erkennen, dass es in der Politik in erster Linie ums Handeln ... geht, nicht um bloße Überzeugungen ...“ (S. 26). Handelnde richteten sich nicht immer primär nach ihren Auffassungen, spielten mitunter doch andere Aspekte eine viel größere Rolle. „Meine dritte These besagt, dass die Politik immer historisch verortet ist“ (S. 28). Sie habe es mit Menschen zu tun, die im Wandel der Zeit befindlichen institutionellen Kontexten aufeinander einwirkten. „Die vierte These ... besagt, dass die Politik größere Ähnlichkeit mit der Ausübung eines Handwerk oder einer Kunst als mit der traditionellen ‚Theorieanwendung’ hat“ (S. 31). Politik verlange den Einsatz von Kompetenzen, die nicht so leicht durch einfaches Reden vermittelbar seien.

Der Haupttext von Geuss’ „Kritik der politischen Philosophie“ gliedert sich dann in zwei große Teile, einmal bezogen auf seine Rechtfertigung des „Realismus“, einmal bezogen auf seine Kritik am „Verfehlten Realismus“. Hinsichtlich des von ihm geteilten Ansatzes heißt es: „Im Mittelpunkt steht die Untersuchung von historisch verkörperten Formen kollektiven Handelns der Menschen, wobei die besondere Aufmerksamkeit darauf liegt, in welch vielfältiger Weise die Menschen ihr Handeln strukturieren und organisieren können, um unerträgliche Formen der Unordnung zu begrenzen und zu beherrschen“ (S. 37). Bei dieser Perspektive knüpft der Autor an so verschiedene Denker wie Wladimir I. Lenin, Friedrich Nietzsche und Max Weber an. Bei seiner Kritik des „verfehlten Realismus“ arbeitet Geuss sich insbesondere an Robert Notzick und John Rawls mit ihren Theorien der Rechte und der Gerechtigkeit ab. Letzterer unterstellt er u.a. eine ideologische Ausrichtung, weil sie die Aufmerksamkeit für den Einfluss der Macht auf unsere Weltsicht ablenke.

Geuss’ Forderung nach mehr Realismus für die politische Theorie fordert nicht die Orientierung an Ethik und Moral gegenüber der Perspektive zu Interessen und Macht aufzugeben. Man dürfe eben nicht in Abstraktionen und Idealen verharren, sondern müsse stärker Handeln und Kontexte einbeziehen. Hier kann dem Autor vorbehaltlos zugestimmt werden, blenden doch nicht wenige Repräsentanten der politischen Theorie derartige Gesichtspunkte aus. Dies macht ihre Ausführungen nicht nur inhaltlich schwerer zugänglich, sondern auch weniger realistisch. Ob mit Lenin und Nietzsche ausgerechnet die relevanten „Bezugsklassiker“ einer neuen Perspektive gewählt wurden, kann demgegenüber aber sehr wohl kritisiert werden. Darüber hinaus präsentiert Geuss kein wirkliches Gegen-Modell zu seiner Kritik, begründet deren Fehlen gegen Ende des Textes aber auf geschickte Art und Weise. Man darf mitunter eben nur kritisch sein. Sein reflexionswürdiges Plädoyer für mehr Realismus in der politischen Theorie bleibt gleichwohl beachtenswert.

Armin Pfahl-Traughber

Raymond Geuss, Kritik der politischen Philosophie. Eine Streitschrift. Aus dem Englischen von Karin Wördemann, Hamburg 2011 (Hamburger Edition), 143 S., 12 €.