Neonazis in Bewegung

(hpd) Der Sammelband enthält eine Fülle von Abhandlungen zu einer Strömung im Rechtsextremismus, die sich in Agieren, Habitus, Kleidung an den linksextremistischen Autonomen orientiert. Die einzelnen Autoren liefern wichtige Informationen zu diesem relativ neuen Phänomen, beschränken ihre Erkenntnisse aber durch eine Verweigerung gegenüber vergleichender Betrachtungen.

Seit einigen Jahren irritiert eine neue Strömung im Neonazismus die Öffentlichkeit: Diese Rechtsextremisten lassen sich in Demonstrationskultur, Gewaltorientierung, Habitus, Kleidung und Musikvorlieben kaum von linksextremistischen Autonomen unterscheiden. Lediglich im ideologischen Selbstverständnis kann man grundlegende Unterschiede ausmachen. Über dieses Phänomen erscheint mit „Autonome Nationalisten. Neonazismus in Bewegung“ ein Sammelband, der von den beiden Sozialwissenschaftlern Alexander Häusler und Jan Schedler herausgegeben wurde. Es handelt sich um die erste breiter angelegte wissenschaftliche Publikation zum Thema, beschränkten sich frühere Abhandlungen doch auf die Aufsatzform. In den Worten von Häusler/Schedler erhebt das Werk den Anspruch, „dieses Forschungsdesiderat mittels einer dezidierten Beschreibung und Analyse der AN sowie einer breit angelegten sozialwissenschaftlichen und sozialhistorischen Kontextualisierung der Entwicklungsprozesse im neonazistischen Lager“ (S. 12) zu beheben.

Die 21 Texte des Sammelbandes stammen von Journalisten und Sozialwissenschaftlern und gliedern sich in vier größere Kapitel: Zunächst geht es um die Entwicklung des Neonazismus in den letzten beiden Jahrzehnten und die Genese einer rechtsextremistischen Jugendkultur. Danach widmen sich die Autoren den Inszenierungspraxen, Lebenswelten, Selbstbildern und Weltanschauungen der „Autonomen Nationalisten“ und deren Verhältnis zur NPD und den neonazistischen Kameradschaften. Gesonderte Aufmerksamkeit findet auch die regionale Entwicklung, bezogen auf Anfänge und Stagnation der Berliner Szene, aber auch im Brennpunkt Nordrhein-Westfalen sowie in Ost- und Süddeutschland, sowie in Tschechien. Und schließlich werden historische Bezüge wie der Gewaltkult der SA, die Ästhetik und Propaganda des italienischen Faschismus und die Aneignungspraktiken heutiger Neonazis behandelt. Gesonderte Beiträge widmen sich den „Autonomen Nationalisten“ im Spiegel der Bewegungs- und Extremismusforschung.

Die AN können, so formulieren die Herausgeber aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Bewegungsforschung, „als eine ästhetisch-stilistische und strategisch-aktionistische Neuerung im deutschen Neonazismus bezeichnet werden, die dessen Inszenierungspraxen insgesamt modernisiert hat. In Abgrenzung von den tradierten Ausdrucksformen der eigenen Szene orientieren sie sich in Kleidung und Symbolik bis ins Detail an den linksradikalen Autonomen, spielen mit deren Codes, adaptieren in ihren Stilgrenzen selektiv allerdings nur jene Elemente, die ihrem Selbstverständnis von einer rebellischen, militanten aber eben auch neonazistischen Jugendbewegung entsprechen. Die AN können daher als Modernisierungsfaktor bezeichnet werden, durch den sich der etablierte Szenestil verändert hat. Die Übernahme und Adaption ikonografischer Formen der linksradikalen Autonomen, die Enteignung linker Codes und Handlungsrituale und deren extrem rechte Kodierung hat die Attraktivität der neonazistischen Szene für Jugendliche vergrößert“ (S. 320).

Der Sammelband beeindruckt zunächst durch den hohen Informationsgehalt, findet man doch sonst nirgendwo so geballt Angaben und Daten zum Thema. Mitunter geraten dadurch aber analytische Aspekte aus dem Blick, was bei den Darstellungen zur regionalen Entwicklung gleichwohl verzeihlich ist. Interessante Forschungsansätze bringen einzelne Beiträge wie etwa der zu den Inszenierungspraxen der AN mit einem szeneethnografischen Zugang. Häufig hätte man sich aber noch eine klarere Herausarbeitung der Besonderheiten gewünscht, wofür sich ein nicht nur kursorischer, sondern systematischer Vergleich mit den „traditionellen“ Neonazis anbieten würde. In der Abhandlung zu den AN aus Sicht der Extremismusforschung werden leider eher Ressentiments gegen einen anderen wissenschaftlichen Ansatz gepflegt. Der Vergleich mit den linksextremistischen Autonomen, der ja nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden fragt, hätte durchaus erkenntnisfördernd wirken können. So beschränken anderslautende Ansätze leider den möglichen Wissensgewinn.

Armin Pfahl-Traughber

 

Jan Schedler/Alexander Häusler (Hrsg.), Autonome Nationalisten. Neonazismus in Bewegung, Wiesbaden 2011 (Verlag für Sozialwissenschaften), 328 S., 34,95 €