Kaena: Die Prophezeiung

Bei Kaena handelt es sich um einen französischen Animationsfilm, der Science-Fiction- und Fantasyelemente miteinander verbindet. Im März 2006 ist er hierzulande auf DVD erschienen.

Er wurde in den Medien kaum beachtet und in den USA verissen - völlig zu Unrecht. Die Kritiker rügten die knappe Kleidung der weiblichen Hauptfigur, stockende Animationen und eine zusammenhanglose Handlung. Ein hingeschludertes Machwerk von ein paar Spielefreaks soll Kaena sein. Und genau so muss dieser Film auf den durchschnittlichen Kinogänger gewirkt haben, der zunehmend oberflächliche Hollywoodproduktionen gewöhnt ist.

 

Hintergrund

Wer optimistisch und mit wachem Verstand an den Film heranging, und das sollte auch ein amerikanischer Kritiker eigentlich tun, der kam schnell zu einem anderen Ergebnis. Einige Vorurteile lassen sich leicht widerlegen, zum Beispiel wurde ganze sieben Jahre lang an diesem Werk gearbeitet, wie im Making-of überzeugend geschildert wird. Die kreativen Köpfe hinter diesem Film sind allesamt Amateure im Filmgeschäft und hatten nicht die Mittel zur Verfügung, die ein Animationsfilm aus den Vereinigten Staaten heutzutage verschlingt, wie etwa Shrek oder Ice Age. Daher mussten sie mit Software arbeiten, die sonst von Computerspiele-Programmierern für Zwischensequenzen verwendet wird. Jeder, der sich ein bisschen mit der Materie auskennt, erkennt schnell, welch großartige Leistung Kaena vor diesem Hintergrund darstellt.

Technisch kommt der Film nämlich Hollywoodproduktionen dieser Zeit - der Film kam 2003 in die Kinos - beachtlich nahe, ja übertrifft sie gar in der Kreativität, mit der bestimmte Effekte erzeugt wurden. Auch zu loben ist der reichlich genutzte Raumklang, den die DVD bietet. Es ist wahr, dass es in manchen Szenen zu Slowdowns kommt, aufgrund derer das Geschehen kurz langsamer abläuft, als es soll. Dies ist jedoch zu verkraften, denn trotz auch der hierarchielosen Arbeitsweise des Teams wirkt Kaena wie aus einem Guss.

Was die Kleidung der Hauptfigur betrifft - knapp ist sie zweifellos. Tatsächlich läuft Kaena die Hälfte des Films mehr oder minder in Unterwäsche durch die Gegend. Dies soll gewiss auch ein Lockmittel für männliche Filmfans sein, aber noch eine andere Interpretation drängt sich auf: Kaena repräsentiert in diesem Film die emanzipierte, aufgeklärte Frau und steht somit im krassen Gegensatz zu ihrem konservativen und religiösen Volk. Hier kommen wir zu der Handlung und die ist für einen Unterhaltungsfilm alles andere als anspruchslos.
Tatsächlich wird man den Film beim ersten Ansehen kaum in Gänze verstehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass er unlogisch ist, sondern dass in fast jedem Satz, der gesprochen wird, handlungsrelevante Informationen stecken, die man sich merken muss. Im Folgenden gehe ich detailliert auf die komplexe Story ein, wer sich also nichts verraten lassen will, der sollte zum Fazit springen.

 

Handlungsüberblick

Der Film erzählt eine fantastische Version davon, wie die Menschen auf die Erde gekommen sind. Axis ist der zentrale Handlungsort des Films. Diese Welt besteht aus hölzernen Wurzeln, die vom Erdenmond herabhängen und sich zur Erde neigen. Etwa in der Mitte von Axis hält sich die Schwerkraft von Erde und Mond die Waage, Kaenas Volk lebt knapp darunter. Am Anfang des Films sieht man, wie ein außerirdisches Raumschiff der Vecaner mit den Mond kollidiert und ihn unbewohnbar macht. Einige Überreste des Schiffes werden vom einzigen überlebenden Vecaner, Opaz, im neu entstandenen Axis in Betrieb gehalten. Dies gelingt ihm nur mit Hilfe intelligenter Würmer, die etwa so groß sind wie Katzen. Kaenas Volk ernährt sich auch von solchen Würmern, allerdings von einer weniger weit entwickelten Art, die sich nur mittels Würmersprache untereinander verständigen können, im Gegensatz zu Opaz Würmern, von denen sich einer, Gommi, sogar den Menschen überlegen sieht.

Bei den Ureinwohnern des Mondes, die schließlich auf Axis geflüchtet sind, handelt es sich um Seleniten genannte Wesen, die von Kaenas Volk als Götter verehrt werden. Eine zentrale Rolle fällt einer blau leuchtenden Kugel namens Vecanoi zu, welche sich im oberen Bereich von Axis bei den Seleniten befindet. Bei Vecanoi handelt es sich um eine Art Supercomputer, der das gesamte Wissen der Vecaner speichert. Er hat sowohl Axis als auch die Menschen erschaffen. Scheinbar entzieht er Axis jedoch ein "Saft" genanntes Baumharz, das die Seleniten zum Überleben brauchen, weshalb sie versuchen, Vecanoi zu zerstören. Kaenas Volk wird von den Seleniten als Sklaven gehalten, sie bauen für ihre Götter den Saft ab. Die Menschen sind sich jedoch nicht bewusst, dass sie nur die Sklaven falscher Götter sind, denn der Hohepriester, Kaenas Ziehvater, fordert vom Volk bedingungslosen Glauben bis zur Selbstaufopferung. Er sei schließlich der Einzige, zu dem die Götter sprechen, woraus er seine Autorität ableitet. Als Gegenleistung beschützen die Götter ihr Volk angeblich vor den Monstern, die in Axis ihr Unwesen treiben. Tatsächlich sind es die Seleniten, welche die Monster kontrollieren, um Kaenas Volk Angst einzujagen.

In der gewaltigen Themenvielfalt des Films ist sogar Platz, um den allseits heraufbeschworenen "Generationenkonflikt" zu kommentieren. So gibt es den Charakter Ilpo, einen alten Mann, der einsam in seiner Hütte lebt. Das Volk hält ihn für verrückt, nur die junge Kaena glaubt das nicht und besucht ihn regelmäßig. Es stellt sich heraus, dass er vom Anblick des Raumschiffs traumatisiert ist, das er auf seinen Erkundungsreisen entdeckt hat.

Diese Erkundungsreisen unternimmt auch Kaena. Ihr Forschungsdrang ist ihr wichtiger als das Einsammeln von Opfern für Götter, die es ihrer Meinung nach ohnehin nicht gibt. Sie glaubt stattdessen an eine Utopie, an eine bessere Welt für alle Menschen. Als sie bezichtigt wird, den Hohepriester angegriffen zu haben, flieht Kaena und erreicht schließlich Opaz Raumschiff. Sie erzählt ihm von ihren Träumen, die ihr eine blaue Kugel zeigen. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Träumen um Visionen, die Kaena die ganze Zeit über antreiben und von Vecanoi ausgelöst werden. Zusammen mit Opaz und seinen Würmern, sozusagen die komischen Figuren des Films, fliegen sie Vecanoi entgegen, denn Opaz will jenen Supercomputer in sein Raumschiff zurückbringen. Inzwischen hat der Hohepriester das Volk in den "Brunnen der Götter" - eine Parallele zum Offenbarungszelt des alten Testaments - geführt, wo sie aufgrund der Schwerkraftumkehr nach oben schweben. Sie stellen fest, dass sich dort oben nicht das versprochene Jenseits befindet und dass es sich bei ihren Göttern um Monster handelt, die aus Saft bestehen.

Opaz erreicht schließlich Vecanoi, der Computer erkennt ihn jedoch nicht. Da er Vecanoi nicht abschalten kann, wird Opaz von der Königin der Seleniten ermordet. Als er im Sterben liegt, erklärt er noch Kaena, dass sie Vecanois Außerwählte sei und somit die Einzige, welche die Seleniten aufhalten kann. Es folgt eine verwirrende Szene, die Folgendes bedeutet: Die Seleniten haben eine recht sonderbare Art, sich fortzupflanzen, welche an verschiedene Insekten erinnert: Die Königin saugt alle weiblichen Artgenossen auf, bis sie mit dem einzigen Männchen verschmilzt und dadurch mit zahlreichen Nachkommen schwanger wird, die sie von Innen auffressen. Vor der Vereinigung erklärt das letzte Männchen Kaena, dass es viel lieber mit einem jungen Mädchen wie ihr verschmelzen würde als mit der hässlichen, alten Königin und bedauert, dass ihre beiden Arten inkompatibel sind. Das Männchen verschmilzt also mit der Königin und Kaena tötet sie und somit die Seleniten mit einem Messerstich in den Kopf.

Vecanoi überträgt seine Macht auf Kaena und schaltet sich ab. Die Wurzelwelt verbindet sich mit der Erde. Die Menschen verlassen Axis und betreten die Erde. Gerade mal ein paar Minuten ohne Führer, fragen sie schon wieder, wer sie jetzt leiten soll. In diesem Moment taucht Kaena auf. Vecanoi hat sie zu einem höheren Wesen gemacht. Sie verfügt nun über das Wissen der Vecaner und kann zum Beispiel die Wurzeln von Axis unter sich wachsen lassen. Beim Anblick dieses scheinbaren Wunders fallen die Menschen schon wieder auf die Knie, diesmal vor Kaena, die sie noch vor kurzer Zeit für "unrein" gehalten haben - eine weitere deutliche Anspielung auf die christliche Religion. Aber nicht mit Kaena: Sie sagt ihrem Mitmenschen, dass sie aufstehen sollen und erklärt ihnen, dass ihr Wissen jedem gehört. Das, was Kaena ihrem Volk an Wissen anbiete, sei nur ein Bruchteil dessen, wozu es fähig sei. Endlich sind die Menschen frei, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.

 

Fazit

Kaena ist ein unglaublich komplexes Werk für einen Unterhaltungsfilm, mit dem das alte Europa inhaltlich gegenüber der US-Konkurrenz gewaltig auftrumpft. Man könnte durchaus argumentieren, dass die Handlung für 90 Minuten einfach zu viel bietet und den Zuschauer überlastet. Andererseits hat man dadurch einen guten Grund mehr, sich die DVD zu kaufen und den Film öfter anzusehen. Das würde auch die Produktion der Fortsetzungen vereinfachen, welche die Macher gerne drehen würden. Eine Kaufempfehlung gibt es allein schon wegen dem ungewöhnlichen Grundgedanken des Films: Eine Skeptikerin ist auserwählt, ihren fundamental-religiösen Mitmenschen den Weg nach Utopia zu weisen.

Andreas Müller