Anspruch auf Wiedergutmachung
Rund 40 Jahre im Westen und 20 Jahre den Osten betreffend sind vergangen - warum liegt das Thema jetzt so brennend offen?
Die Kinder in den Heimen haben bei ihren Erziehern Hilfe gesucht. Sie wurden nicht gehört, sie wurden eher genau darum erneut bestraft. Das ist inzwischen aktenkundig.
Der gesellschaftlich-politische Zündstoff Heimerziehung ist in der Bundesrepublik spätestens seit den 70er-Jahren bekannt, und dennoch hatte sich kein Problembewusstsein entwickelte. Das mag ungeduldig klingen, hatte doch die Bundesrepublik in den frühen Jahren mit sich selbst zu tun und jeder Bürger sowieso. Aufbau, mehr, weiter, Reisen, die Welt kennenlernen, schneller. So verbrauchten sich die Jahre.
Mag sein, dass die Verstrickung zwischen den Kirchen und ihren Einrichtungen und den Hilfs- und Gesundheitsorganisationen mit jeweils eigener Beteiligung zu einer strukturellen Verflechtung führte, die eher eine Ruhigstellung des Themas mit sich führte.
Aufdecken und Verändern ist eher unbequem und wurde weggeschoben. Und mit freundlich in sich gekehrtem Blick liegt die Empfehlung in der Luft: Lassen wir doch alles in bewährter Art und Weise laufen und läuten die Glocken... Die Antwort lautet: Nein.
Zivilcourage heißt NICHT wegsehen
Was in den letzten Jahren über Heimerziehung und damit einhergegangene Gewalt und Leid an Kindern, Jugendlichen und Familien ins Licht gehoben wurde, das lässt sich nicht zurückdrehen. Die Fakten sind dokumentiert und nahmen sich Raum, im öffentlichen wie im privaten Leben. Weitere Diskussionen stehen an. Das ist nicht immer einfach zu ertragen, und Betroffene gibt es viele. So sind eher Außenstehende dafür vorgesehen, sich gesicherte Erkenntnisse anzuhören und nicht darüber hinwegzuhören.
Mit dem Protest-Slogan „Nie wieder", einem Appell, den wohl jeder unterschreiben mag, trauten sich 2010 erstmals ehemalige Heimkinder auf die Straße und ... wurden wahrgenommen. Nachrichtensendungen und Berichterstattungen brachten die Betroffenen auf die Bildschirme. Das war eine mutige Aktion, die aus der Verdeckung heraus führte. Eine "Stern"-Titelgeschichte folgte. Die Heimkinder waren nicht mehr anonym. Das war ein guter Anfang.
Doch das Desinteresse unserer Gesellschaft an den ehemaligen Heimkindern ist nicht zu übersehen. „Wir haben keine Lobby", sagen sie über sich selbst, ohne zu resignieren.
Erinnert sei an die erste Pressekonferenz Runder Tisch Sexueller Kindesmissbrauch. Die drei Bundes-Ministerinnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Prof. Dr. Annette Schavan und Dr. Kristina Schröder standen nebeneinander.
Es ging um die Verjährung. Ministerin Schröder trug vehement vor, selbst wenn eine Tat verjährt sei, müsse sich der Täter nicht auf die Verjährung berufen, sondern er möge darauf verzichten. Ja, so waren ihre Worte.
Aber Täter und Institutionen sehen das anders, und das müssen wir zu Kenntnis nehmen.
Hamed Abdel-Samad, Politologe und Autor, Ägypter und Deutscher, berichtete 2011 als Korrespondent über die sich in Kairo in Konfrontation gegenüberstehenden Kräfte. Dramatische Bilder sahen wir alle, und jederzeit kann es wieder eskalieren. Der Tahrir-Platz, so sagt Abdel-Samad, das war ein Blick auf die arabische Kultur. Sein diesbezüglicher Wunsch war der, dass wir Ausländer genau hinschauten, aber die dortige Situation nicht an deutschen Verhältnissen messen und mit Beurteilungen zurückhaltend bleiben würden.
Nun, den Blick auf den Tahrir-Platz nur, weil praktisch neben uns in Schleswig-Holstein, in Bayern, im Saarland, in Hessen, Niedersachsen, Thüringen etc., also in jedem Bundesland, Menschen ihre Kindheit und Jugend in Heimen verbringen mussten.
Im Moor haben sie gearbeitet, haben Torf gestochen. Oder sie schufteten mit dem Hammer im Steinbruch. Immer wieder abgesperrt in Arrestzellen oder belegt mit Sprechverbot. Ein vorgebliches Waisenkind: Mutter und Geschwister lebten unweit entfernt und waren bekannt.
Andere Betroffene beschreiben ihre Angst vor Schlägen, vor Hunger, Einsamkeit, Fluchten und deren Folgen, ihre eigene Aggression sowie die der HeimleiterInnen, DirektorInnen, ErzieherInnen, HelferInnen. Und sexuelle Gewalt, der sie sich nicht entziehen konnten.
Orte und Namen: Wie sie von denjenigen, denen sie ihre Beschwerde im Heim vortrugen, ausgelacht und weggeschickt wurden...
Alles das ist bekannt. Und damit eher mehr als zu ertragen.
Zweifel an den Aussagen?
Die Aussagen bestätigen die Fachliteratur, die Biografien ehemaliger Heimkinder, Filme, Fernsehen, eine Dokumentation vom Leugnen bis zum Rücktritt eines katholischen Bischofs, den Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten für sexuellen Kindesmissbrauch Christine Bergmann vom 24. Mai 2011 - und den Runden Tisch Heimerziehung mit seiner "Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er- und 60er-Jahre".
Beschrieben sind darin die Wege ins Heim und die Durchführung der Heimerziehung mit den Punkten 1.2.1. die Strafen der Heimerziehung, 1.2.1. Sexuelle Gewalt, 1.2.3. Religiöser Zwang, 1.2.4. Einsatz von Medikamenten/Medikamentenversuche, 1.2.5. Arbeit und Arbeitszwang, 1.2.6. Fehlende oder unzureichende schulische und berufliche Förderung, etc. Bestätigt wird das den Betroffenen zugefügte Leid auch mit der Errichtung des Fonds von 100+20, also insgesamt 120 Millionen Euro.
Wendepunkt
Zwar bevorzugen es einige Stellen heute noch, die rein verbalen Entschuldigungen und das Bedauern hochzuhalten, aber das Jahr 2011 wurde für das Thema Heimkinder vielseitig genutzt.
Politiker, Verwaltungsfachleute und Juristen in Bund und Ländern, Kirchen, Diakonie und Caritas, Betroffene Heimkinder und Verbände haben in mehr oder weniger gelungener Zusammenarbeit den Fonds entstehen, aber dabei auch durchblicken lassen, dass es für die Heimkinder keine andere Chance gebe. Die Hilfs- und Ausgleichsleistungen aus den Fonds würden angenommen oder „es gibt eben nichts“.
Nun gibt es aber Betroffene, die sagen: so lassen wir nicht mit uns umgehen, und weisen dieses als erneute Entmündigung zurück: „Bitte, nicht noch einmal!“
Dirk Friedrichs, Sprecher und Mitvorstand im Verein ehemaliger Heimkinder e.V. (VEH) sagt dazu: „Täglich bekommen wir Anrufe, vermehrt von Betroffenen, die bisher nicht mit dem VEH verbunden waren. Es sind Menschen am Telefon, die wissen wollen, warum keine Entschädigung, kein Bargeld gewährt wird und wie das Wort "Entschädigung" einfach weggewischt werden und mit "Hilfe" und "Hilfsbedarf" ersetzt kann. Es gibt Anrufer, die weinen, und das sind keine Einzelfälle.
Wir werden gefragt, was gegen die Umsetzungsbestimmungen des Fonds getan werden kann... Wir Heimkinder haben gesprochen, wir haben geschrieben, wir haben appelliert, wir haben aufgeklärt, über eine Umfrage die Ansicht der Betroffenen hinterfragt und jeden Bundesabgeordneten einzeln das Ergebnis wissen lassen.
Der Fonds ist nun beschlossen; das Ergebnis lässt uns zu Bittstellern werden!“