Aus meiner Sicht gibt es also für uns keinen weiteren Grund, sich noch mehr zu vernetzen – mit dem Netz und im Netz. Denn es mag zwar zu einem Kontinuum der gegenseitigen Aufklärung und des Wissen geworden sein, aber es hat trotzdem Grenzen.
Und eine dieser Grenzen besteht aus dem Unterschied zwischen den Rollen, die wir als seine Benutzer und als Handelnde, die Wirklichkeit außerhalb des Netzes verändernden Akteure, einnehmen. Insofern ist es zwar ein guter Prozess, dass im Netz so viele mehrere Zehntausend große Communities, die sich der von Lina Ben Mhenni und Stephane Hessel vorgeschlagenen Veränderungen verschrieben haben, entstanden sind und noch immer entstehen.
Doch ich wundere mich, wie wenige Veränderungen sie tatsächlich zeigen. Zu oft führen sie mir Dinge vor Augen, die zwar einst Teil einer Veränderung waren, aber jetzt nichts mehr verändern. Alte Wahrheiten, die keiner Veränderung helfen. Halbe Wahrheiten, die niemand braucht. Und Absurdes, das zwecklos die Lebenszeit frisst.
Zu oft kommt mir die Netzgesellschaft wie ein Kollektiv von Individuen vor, die sich im Internet wie in einer „Unimatrix Zero“ versammeln: Ein von der wirklichen Welt getrennter Ort, an dem die Individuen aus ihrer Rolle, die sie in den – alten, fesselnden – Kollektiven außerhalb des digitalen Kosmos besitzen, herausschlüpfen, um sich zu versammeln und die gemeinsamen Visionen vom Kommen deiner besseren Welt erhoffen, verteilen, liken – ohne viele gute Gründe für das Hoffen zu haben.
Und auf unserem Planeten wird heute täglich milliardenfach geteilt, geliked, diskutiert und dabei auch der Glaube gestärkt, es werde sich etwas verändern. Doch schafft diese Freiheit im Netz, mit seinen unzähligen alten und neuen, schönen und schrecklichen Wahrheiten, auch wirklich die nötige Veränderung und die Veränderung, die wir selbst wollen? Wir sind längst vernetzt, doch mobilisiert es uns das noch oder betäubt es den Wunsch und den Willen, sich zu mobilisieren?
Vielleicht dürfen wir nicht vergessen, uns einmal wieder zu fragen, ob das Netz für uns noch Medium ist oder schon einen eigenen Zweck darstellt. Uns, die wir an der Wahrheit und der Veränderung ernsthaft interessiert sind, ist solch eine Transformation schon einmal durch die Lappen gegangen.
Die Folgen davon, dass ein anderes Medium, das Geld, in den vergangenen Jahrzehnten von einem Tauschmedium unbemerkt zum eigenen Zweck geworden ist, werden uns heute eindringlich vor Augen geführt. Die Despoten in westlichen Nationen sind deshalb weniger regierende Politiker als diejenigen, die von dieser unbemerkten Wandlung des Geldes vom Medium des Tauschmittels zum Selbstzweck profitieren konnten. Denn über die Legitimität des Besitzes von Kapital wird auch – oder vor allem – in westlichen Nationen nicht so demokratisch abgestimmt wie über die Legitimität des Besitzes von Mandat und politischer Macht. Die Folgen kennen wir alle. Es ist zum riesigen Problem für die Menschheit geworden. Und es kann zum Problem für das Netz werden, wie Wikileaks zeigt.
Stellen wir uns deshalb nicht nur beim Geld diese Frage. Ist das Netz nun noch Medium oder schon ein eigener Zweck, von dem geglaubt wird, die bloße Teilnahme als Benutzer verändere etwas? Nehmen wir teil am Netz, weil wir es zur Veränderung zum Besseren benötigen oder nehmen wir daran teil, weil sich die Teilnahme am Netz wie die Teilnahme an einer Veränderung anfühlt? Helfen uns die riesigen Netzwerke noch wirklich, nützliche Wahrheiten zur Veränderung zu finden, oder betäuben sie unseren Elan und unser Hoffen – wie die Tempel den Gläubigen helfen, sich im Gebet und im Hoffen zu betäuben?
Ich glaube, diese Frage sollten wir, die eine weitere Entwicklung jeder Kultur von Aufklärung und Humanismus für wichtig halten, uns wieder einmal ernsthaft stellen. Deshalb meine ich: Entnetzt euch, wenn es zur Veränderung beitragen kann! Entnetzt euch, wenn euch das Netz keine nützlichen Wahrheiten mehr liefert, die ihr zur Veränderung braucht! Entnetzt euch, wenn euch die Wahrheiten im Netz nicht länger empören!
Und engagiert euch! Engagiert euch auch außerhalb des Netzes, damit mehr Menschen in Zukunft nicht mehr nur das Netz haben, um den Frieden zu sichern oder Kriege zu verhindern. Oder um bessere Ideen, Mitmenschlichkeit und die Wahrheit zu verbreiten! Engangiert euch, weil die Macht der Doofen heute nur außerhalb des Netzes dominiert und nur dort überwunden werden kann. Entnetzt und engagiert euch, um statt nur ein weiterer Benutzer wieder öfter ein handelnder Mensch zu sein!
Arik Platzek