Eine merkwürdige Begründung des Bundesjustizministeriums
Eine eigentliche Begründung für die vorgesehene Regelung teilt das Bundesjustizministerium nicht mit. Lediglich die im August plötzlich aufgetauchte Stellungnahmen der Amerikanischen Akademie der Kinderärzte wird zur Legitimation der Auffassung herangezogen, dass Eltern die „Beschneidung ihres Sohnes aus unterschiedlichen Gründen für kindeswohldienlich halten können.“ Offenbar ist es der hektischen Hals-über-Kopf-Aktion des Bundesjustizministeriums geschuldet, dass nicht einmal, um wenigstens den Anschein ordnungsgemäßer Gesetzesvorbereitung zu wahren, eine vordergründige Auseinandersetzung mit dieser Stellungnahme und umfangreichen Studien, die zu einem anderen Ergebnis gelangen, versucht worden ist. Der Ärztezeitung vom 26.09.2012 ist zu entnehmen, dass mittlerweile weltweit dreißig Verbände von Kinderärzten der US-amerikanischen Stellungnahme widersprechen und darauf hinweisen, dass sie durch Forschungsergebnisse nicht belegt ist. (siehe hierzu http://pro-kinderrechte.de/faq/#Nachtrag3) Wirtschaftliche Interessen scheinen bei dieser Eil-Veröffentlichung offenbar auch eine Rolle zu spielen. Das Ministerium ist sich aber nicht zu schade, sich auf diese Art „Gefälligkeitsgutachten“ zu berufen. Ein erbärmliches Niveau hat die Vorbereitung auf das „Gefälligkeitsgesetz“ zugunsten von Knabenbeschneidungen.
Die vorgesehene Regelung im Überblick:
Zusammengefasst ergibt sich aus dem vorgelegten Entwurf folgendes:
- Zulässigkeit von Knabenbeschneidungen allein aufgrund elterlicher Veranlassung aus jeglichem von den Eltern gewünschten Grund – ohne jede Einschränkung und ohne irgendeine Kontrolle.
- Wird die Beschneidung „nach den Regeln der ärztlichen Kunst“ durchgeführt, entspricht sie grundsätzlich dem Kindeswohl. Nur in extremen Ausnahmefällen (Knaben sind „Bluter“ o.ä.) spielt das Kindeswohl noch eine besondere Rolle – somit nur, wenn die Gefahr schwerster gesundheitlicher Folgen oder gar Lebensgefahr gegeben ist – sog. „Zeugen Jehovas Einschränkung“.
- Ein praktisch relevantes und berücksichtigungsfestes Vetorecht des betroffenen Knaben ist nicht vorgesehen.
- Die gegenüber den Eltern von den Beschneidern vorzunehmende Aufklärung ist weder hinsichtlich der Art und Weise der Aufklärung noch hinsichtlich ihres Umfangs geregelt. Die Beschneider entscheiden hierzu eigenmächtig.
- Bei der Beschneidung von Knaben bis zum Alter von sechs Monaten, die Juden gegenüber Muslimen (unter Beachtung der jeweiligen Beschneidungspraktiken) privilegiert, ist nicht einmal der Vorgabe des Deutschen Ethikrats bezüglich einer wirksamen Schmerzbehandlung Rechnung getragen.
- “Mädchenbeschneidungen“ in jeder Form sind weiter verboten und strafbar.
- Die Betroffenen haben keinen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld (auch nicht bei lebenslangen beeinträchtigenden Folgen), da die Vorhautamputation legalisiert wird.
- Die zivilisatorische Errungenschaft des Verbots elterlicher Gewaltanwendung gegen den Körper ihres Sohnes wird eingeschränkt – sie gilt nicht bei Knabenbeschneidungen. Denn über den in der Beschneidung selbst liegenden Gewaltakt hinaus dürfen Eltern diese Maßnahme auch mit Gewalt durchsetzen und Gegenwehr des Knaben durch körperlichen wirkenden Zwang (auch wenn dieser mit Schmerzen verbunden ist) unterbinden oder durch Dritte unterbinden lassen.
Keine Schlampigkeit also bei der Umsetzung der Vorgaben der Religionsvertreter. Sorgfältig werden ihre Vorgaben berücksichtigt.
Keine Einbeziehung von Kinderschutzverbänden und Kindermedizinern
Allerdings: nicht einmal schlampig, sondern überhaupt nicht sind die Belange der Knaben berücksichtigt worden. Weder ist im Papier des Bundesjustizministeriums auch nur die geringste Andeutung zu den Menschenrechten - die des betroffenen Knaben auf körperliche Unversehrtheit, auf Selbstbestimmung und auf Religionsfreiheit - enthalten, noch waren Kinderschutzverbände, Elternverbände und Kindermediziner zu Anhörungen eingeladen. Diese Organisationen dürfen nun – wie eingangs ausgeführt – innerhalb einiger weniger Tage zum einem bereits fertigen Ergebnis noch Stellung nehmen.
Das gesamte Vorgehen der Bundesregierung ist auf eilfertige Umsetzung der Forderungen der jüdischen und muslimischen Religionsvertreter ausgerichtet. Die Zielvorgaben wurden nur mit ihnen erarbeitet; der Form halber dürfen diejenigen, für die der lebendige Knabe und seine Lebensgestaltung im Vordergrund steht, innerhalb von nur wenigen Tagen noch Stellung nehmen. Dies kann man nur als Farce bezeichnen.
Religionsauffassungen (von Minderheiten) wichtiger als Menschenrechte?
Schlimmer aber noch ist: Sämtliche im BGB zugunsten Minderjähriger geregelten Schutzrechte spielen bei der Knabenbeschneidung keine Rolle und sind hierbei unbeachtlich. In der Stellungnahme aus dem Bundesjustizministerium sind Grundrechte, Menschenrechte überhaupt nicht erwähnt. Folgerichtig ist dies, denn die Menschenrechte der Knaben auf körperliche Unversehrtheit, auf Selbstbestimmung und auch auf Religionsfreiheit werden außer Kraft gesetzt zu Gunsten des elterlichen Erziehungsrechts, das in dieser von Religionsfunktionären betriebenen Angelegenheit wieder absolute uneingeschränkte Geltung erhalten wird. Eine Geltung, die bislang in Deutschland als überwunden galt. Die Religionsvertreter setzen ihre religiösen Vorstellungen über das elterliche Erziehungsrecht um.
In das Recht des Deutschlands des 21. Jahrhundert sollen „Scharia-Elemente“ und „Tora-Elemente“ hineingearbeitet werden. Religiöses Recht statt Menschenrechte, ist die Parole der Beschneidungsbefürworter – auch wenn sie dies (noch) nicht öffentlich zu sagen wagen. Aber die Verlautbarungen des israelischen Jewish People Policy Institute (JPPI) lassen da nichts Gutes erwarten – sehen sie in der europäischen Betonung der Menschenrechte letztlich auch nur ein antisemitisches Manöver und relativieren so die allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte. So bleibt zu befürchten, dass von Seiten religiöser Kräfte weitere Angriffe gegen Menschenrechte gestartet werden.
Im Eiltempo wird seitens der Bundesregierung und des Bundestags vorgegangen. Möglichst bald soll ein ärgerliches Problem, das das Tagesgeschäft stört, vom Tisch - auch um den Preis der Verletzung von Menschenrechten. Wann wollen die Bundestagsabgeordneten und die Regierungsmitglieder eigentlich einmal wissen, was sie regeln wollen? Bislang war dies nach der Einschätzung des vormaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, nicht der Fall.
Sicher ist: Über die Knabenbeschneidungen wird weiter öffentlich diskutiert werden, das Thema ist längst nicht erledigt. Das alles ist jetzt erst der Anfang, ein Beginn, der schon in andere europäische Länder ausstrahlt.
Muss eine säkulare Gesellschaft sich dem Diktat von Religionsfunktionären beugen?
Auf die Tagesordnung, in die öffentliche Diskussion, gehört aber auch dies: Dürfen in Deutschland religiöse Minderheiten diktieren, was Menschenrechte sind und wie sie angewendet werden, mal mehr, mal weniger, so wie es der jeweilige Gott angeblich anordnet?
Eines braucht hierzulande gewiss niemand: einen selbsternannten „Wächterrat“, der Parlament und Regierung mitteilt, was erlaubt ist und was nicht.
Walter Otte