Kritik an Al Qaida-„Experten“

(hpd) Christina Hellmich, Dozentin für Internationale Beziehungen an der University of Reading, kritisiert in ihrem Buch „al Qaida. Vom globalen Netzwerk zum Franchise-Terrorismus“ die Deutungen der terroristischen Organisation durch „Experten“ in Medien und Wissenschaft.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 äußerten sich zahlreiche Terrorismus-Experten in Buchpublikationen und Medieninterviews über Al Qaida, wodurch ein bestimmtes Bild dieser Organisation im öffentlichen Bewusstsein der westlichen Welt entstand. Doch wie realistisch ist dieses Bild wirklich? Handelt es sich bei den einschlägigen Beschreibungen um gut belegte Auffassungen? Wie steht es um die tatsächliche Sachkompetenz der jeweiligen „Experten“? Diesen Fragen ging man bislang kaum nach. Sie bilden die inhaltliche Linie eines Buchs von Christina Hellmich, die als Dozentin für Internationale Beziehungen an der University of Reading in Großbritannien lehrt. In „al-Qaida. Vom globalen Netzwerk zum Franchise-Terrorismus” berichtet sie zunächst von nicht wenigen Pseudo-Experten und Scharlatanen in der Zunft, welche sich unter Berufung auf spezielle Kenntnisse durch Kontakte zu Nachrichtendiensten bei Forschungsinstituten, Medien und Politik als Sachkenner zum Thema „Al Qaida“ präsentierten.

Hellmich geht es somit einerseits um eine kritische Auseinandersetzung auch mit den Deutungen von weniger skandalträchtigen Autoren von Büchern über den islamistischen Terrorismus und andererseits um eine weniger moralisierende und mehr verstehende Analyse über Akzeptanz und Wirkung von Osama bin Laden und Al Qaida. Die Erörterung setzt ein bei der Frage nach der organisatorischen Struktur der Organisation: Handelt es sich um eine Bezeichnung für eine einheitliche Gruppe mit straffer Hierarchie oder für diverse regionale Zellen mit autonomen Handlungsweisen? Wirklich überzeugend könne man, so die Autorin, darauf aber gar keine Antwort geben. Es mangele an eindeutigen Argumenten und Belegen sowohl für die eine wie die andere Deutung. Sie spricht von einem „Wissensproblem“ (S. 55). Danach setzt sich Hellmich kritisch mit den Auffassungen auseinander, welche die Anhänger von Al Qaida als Fanatiker oder Verrückte ansehen. Diese Interpretation ignoriere das komplexe „Zusammenspiel von Religion und Politik in der islamischen Tradition“ (S. 75).

Überhaupt müsse man sich darüber klar sein, dass „Bin Ladens Programm (wenn auch nicht unbedingt seine gewaltsamen Mittel) breite Zustimmung ... bei Muslimen auf der ganzen Welt“ (S. 76) fänden. Dies hänge mit dem inhaltlichen Kontext seiner Aufrufe zu den breiteren gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der islamischen Welt zusammen: „So simpel diese Botschaft auch sein mag – es ist genau diese Art von Idealismus, die das wachsende Bewusstsein der Solidarität unter Muslimen in ihrem Innersten aufgreift ...“ (S. 102).

Und danach widmet sich Hellmich der Frage, inwieweit die Auffassungen von einem Wiedererstarken von Al Qaida - etwa mit Hinweis auf die Entwicklungen im Irak - angemessen sind. Hier zeige sich vielmehr, dass die Organisation „in ihrer Gesamtheit geschwächt“ sei „durch interne Streitigkeit sowie Angriffe von anderen radikalen islamischen Gruppierungen, die genauso gut ihre Verbündeten hätten sein können“ (S. 113). Dies alles habe zu einem Rückgang an Unterstützung vor Ort geführt.

Entgegen des Titels handelt es sich bei dem Buch somit nicht primär um eine Arbeit über die organisatorische Entwicklung von Al Qaida. Vielmehr steht die kritische Auseinandersetzung mit zentralen Deutungsmustern von „Experten“ im Mittelpunkt der Erörterung. Hierbei macht Hellmich deutlich, dass deren behauptete Fachkompetenz mit kritischem Blick betrachtet werden muss. In der Tat verweisen sie mitunter auf geheime Zugänge, womit wohl der Informationsaustausch mit Nachrichtendiensten gemeint ist. Ob sie von dort tatsächlich und zutreffende Angaben erhielten, lässt sich meist nicht überprüfen. Auch wenn man nicht alle Einschätzungen von Hellmich teilen muss, so veranschaulicht sie doch die Unsicherheit und Widersprüchlichkeit vieler Einschätzungen von angeblichen Autoritären. Darüber hinaus fordert die Autorin zutreffend dazu auf, bei der Analyse terroristischer Beweggründe nicht bei moralischen Abwertungen stehen zu bleiben. Vielmehr bedarf es auch einer kritischen Analyse der Radikalisierungsprozesse einzelner Aktivisten aus der Binnenperspektive.

Armin Pfahl-Traughber
 

Christina Hellmich, al-Qaida. Vom globalen Netzwerk zum Franchise-Terrorismus. Aus dem Englischen von Claudia Kotte, Darmstadt 2012 (Primus-Verlag), 191 S., 19,90 €.