Der ver.di-Bundesvorstand, vertreten durch Berno Schuckart-Witsch, erteilte der Behauptung von 90 Prozent Tarifbindung bei der Diakonie mit dem Wort „Etikettenschwindel“ eine klare Abfuhr, da das Tarifvertragsgesetz ja gar nicht zur Anwendung kommt. Eine Forderung der EKD-Synode von 2011 in Magdeburg, nämlich belastbare Daten über die Arbeitsentgelte von Diakoniebeschäftigten für eine Studie zu erfassen, sei bis heute nicht erfüllt. Bekannt sei jedoch aus einer diakonieinternen Erhebung, dass 80 Prozent aller Angestellten Frauen sind, 70 Prozent von ihnen im unteren Lohnsektor einzuordnen sind und zu knapp 60 Prozent in befristeten oder Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen stehen. Für die Mitarbeiter der betriebswirtschaftlich orientierten Unternehmen und Konzerne (darunter Konglomerate mit bis zu 17.000 Angestellten) könne die Lösung nur in einem „Tarifvertrag Soziales“ bestehen, wobei eine Tarifbindung von über 50 Prozent angestrebt wird, um ihn für allgemeinverbindlich erklären zu können. Zwar sinke allgemein die Tarifbindung in Deutschland, jedoch taugt dies für Caritas und Diakonie nicht als Gegenargument, da sie ja den Anspruch erheben, dass es ihren Angestellten besser gehe. Wo weltliche Arbeitsverträge abgeschlossen würden, müsse auch weltliches (Arbeits-) Recht gelten.
Ein ehemaliger Diakonieangestellter und jetziger Betriebsrat bei einem weltlichen Sozialträger berichtete, dass sich Kolleginnen und Kollegen der umliegenden kirchlichen Einrichtungen bei ihm die Klinke in die Hand geben und über Defizite im Arbeits- und Gesundheitsschutz klagten, was sich auch in der Bezahlung manifestiere und häufig zu Burnout-Erscheinungen führe. Die „Feudaleinstellung“ der kirchlichen Arbeitgeber mache es unmöglich, auf Augenhöhe angemessene Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Caritas und Diakonie drohe ganz besonders ein Fachkräftemangel, da die Arbeitnehmerinnen und -nehmer zukünftig wohl einfach mit den Füßen abstimmen werden.
Wenn’s ums Ganze geht
Prof. Dr. Jens Schubert, Bereichsleiter Recht und Rechtspolitik bei der ver.di-Bundesverwaltung, nahm sich zunächst den aktuellen Slogan der Bündnisgrünen-Bundestagsfraktion vor: „Uns geht’s ums Ganze“. Das hieße für ihn: Für die Arbeitnehmer zu sein, und nicht gegen die Kirchen. Letztere nutzten das weltliche Arbeitsrecht, warum aber nicht in Gänze? Der daraus resultierende Wettbewerbsvorteil könnte unter europarechtlicher Betrachtung demnächst „interessant werden“. So könne man erwarten, dass die Privatwirtschaft die den Kirchen und ihren Unternehmen eingeräumten Sonderrechte, die über den allgemeinen Tendenzschutz weit hinausgehen, gerichtlich „monieren“ werden.
Streiks seien verfassungsrechtlich ein Grundrecht, und so müsse der Blick von Art. 9 des Grundgesetzes aus auf das kirchliche Arbeitsrecht gerichtet werden; nicht andersherum. Schließlich würden Streiks ja nicht mit dem Ziel geführt, die morgendliche Andacht abzuschaffen, sondern um die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Was die so genannten Loyalitätspflichten der Angestellten angeht, so habe ihm sogar ein nicht näher bezeichneter CDU-Bundestagsabgeordneter am Rande einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung gesagt, „die kirchlichen Arbeitgeber sollten mal lieber ihre Einmischung in den Sex bleibenlassen“.
Einfachere Tätigkeiten, die am Arbeitsmarkt wenig nachgefragt werden, seien in die untersten Lohngruppen eingestellt, vielfach fehlten zudem genaue Stellenbeschreibungen. Die Gewerkschaften werden dies nicht länger dulden. Und wenn das Handeln der kirchlichen Arbeitgeber weiter gegen die eigenen Wertevorstellungen verstoße, würden sie ein Akzeptanzproblem bekommen. Sofern sie das nicht schon hätten.
Prof. Dr. Hans Michael Heinig, Chef des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, warf „bestimmten Interessensgruppen“ vor, die Debatte um das kirchliche Arbeitsrecht für heimliche laizistische Bestrebungen zu missbrauchen. Es müsse zunächst einmal bewiesen werden, dass der kirchliche Dienstgeber mit dem 3. Weg im Arbeitsrecht schlechtere Arbeitsbedingungen durchsetzen kann als mit weltlichem Recht. Dies könne er nicht erkennen. Wenn Nichtchristen zudem in Betriebsräten von Diakonie und Caritas weitgehende Mitbestimmungsrechte bekämen, entstünde ein theologisches Problem: Karitative Arbeit ist Mission und damit Verkündigung. Dies sei wiederum mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht unvereinbar.
Politische Hausaufgaben
Obgleich sich konfessionsfreie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kirchennahen Unternehmen zurecht durch das missionarische Gebaren bedrängt fühlen, müssen kirchliche Arbeitgeber in ihren Personalentscheidungen konsistent bleiben, wollen sie nicht nach aktueller Rechtslage zunehmend bei Kündigungsschutzklagen unterliegen; was im Umkehrschluss bedeutet, dass sich Caritas und Diakonie bei Kündigungen nicht mehr auf Loyalitätspflichtverletzungen berufen können, wenn sie bereits Geschiedene, Wiederverheiratete, Konfessionsfreie oder Andersgläubige beschäftigen. Zu schaffen ist in diesem Zusammenhang ein Verfahrensrecht, das eine alle relevanten, insbesondere auch sozialen Aspekte einbeziehende Abwägung bei Kündigungen regelt. Und selbst EKD-Kirchenrechtler Prof. Dr. Heinig musste zugestehen, dass die Kirche auch ohne den 3. Weg im Arbeitsrecht weiter bestehen werde.
Zwar fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen bei Bündnis 90/Die Grünen, dem § 9 AGG einen Absatz 3 anzufügen, der verkündigungsferne Tätigkeiten aus dem besonderen Tendenzschutz ausnimmt. Doch dies bedeutete in der Praxis eine Flut von Klagen und verstieße zudem gegen das kirchliche Selbstverwaltungsrecht in der vorliegenden höchstrichterlichen Interpretation. Außerdem sind Menschen mit kirchennahen Berufen außerhalb der Glaubensinstitutionen häufig nicht anstellungsfähig. Man denke an den erfolglos gekündigten Organisten.
Was den Kostendruck angeht, der in Form von befristeten und Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen Ausdruck findet, sind die Länder und Kommunen gefragt, ihre Sozial- und Kulturbudgets mit adäquaten Mitteln auszustatten. Dies käme allen freien Trägern zugute.
Volker Beck, erster parlamentarischer Geschäftsführer der Bündnisgrünen-Bundestagsfraktion und einer der Moderatoren des Fachgespräches, brachte zuletzt noch den waghalsigen Vorschlag ins Spiel, der „2. Weg“, also normales, weltliches Arbeitsrecht, solle immer dann ausnahmslos gelten, wo kirchliche Träger staatliche Mittel nach dem Subsidiaritätsprinzip erhalten, also von Kommunen, Ländern, Bund oder Sozialkassen. Doch diese zunächst charmante Idee könnte sich als rechtswidrige Verknüpfung mit sachfremden Kriterien erweisen und in der Diskussion auflösen – man denke an den Vorschlag, Tariftreueklauseln im Vergaberecht zu verankern.
Und was spräche selbst bei Durchsetzung der Idee gegen die Gründung einer Zentralstelle für die Akquise der Geldmittel, wodurch die ins Spiel gebrachte Regelung ausgehebelt würde.
Michael Brade