BERLIN. (hpd) „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ So schreibt es das Grundgesetz in Artikel 140 durch Einbeziehung des Artikels 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung vor. Doch was sind „ihre Angelegenheiten“?
Regeln zur Weihe der Priester, Pfarrerinnen und Pfarrer, Rabbinerinnen und Rabbiner? Selbstverständlich. Vorschriften zur Aufnahme neuer Mitglieder durch entsprechende Rituale? Ohne Frage. Verhaltensregeln für das Privatleben ihrer Angestellten in Betrieben der Sozialwirtschaft? Da gehen die Meinungen auseinander.
In welche Richtungen streben dabei Religionsgemeinschaften, Mitarbeitervertretungen, der Gesetzgeber? Zur Erhellung einer Reihe von Fragestellungen lud die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen zahlreiche Juristen, Mitarbeitervertreter und die Öffentlichkeit für den 2. November 2012 zu einem Fachgespräch ins Paul-Löbe-Haus nach Berlin. Einen halben Tag lang wurde in drei Abschnitten über individuelles und kollektives Arbeitsrecht sowie „Anforderungen an das kirchliche Arbeitsrecht im 21. Jahrhundert“ diskutiert und argumentiert.
Loyal - oder arbeitslos
Ziel des gern als „Antidiskriminierungsgesetz“ bezeichneten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) ist u.a. Benachteiligungen aus Gründen der Religion oder Weltanschauung zu verhindern oder zu beseitigen. Das klingt gut und gleichzeitig ambitioniert. Doch was wäre ein Gesetz ohne Ausnahmen? Keines, bei dessen Erstellung nicht kirchliche Interessenvertreter Einfluss genommen hätten. Am 2. November stellten sich sodann auch einige von ihnen den kritischen Fragen der kirchlichen Beschäftigten und der interessierten Öffentlichkeit: Prof. Dr. Ansgar Hense, Direktor des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands, Rolf Lodde, Sprecher der Dienstgeberseite der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverbandes, Dr. Jörg Kruttschnitt, Vorstand Wirtschaft und Verwaltung des Diakonischen Werks der EKD, Prof. Dr. Hans Michael Heinig, Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, aber angekündigt als Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und insbesondere Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Göttingen.
Mit großen Anstrengungen ließ die römisch-katholische Kirche argumentieren, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) keineswegs das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen infrage gestellt hätte, sondern erfolgreiche Kündigungsschutzklagen entlassener Organisten, Ärzte oder Erzieherinnen nur Einzelfälle seien und keinen Freifahrtsschein für beliebiges Verhalten der Mitarbeiter darstellten. Und hat die Tätigkeit des Organisten und Chorleiters als Teil der Liturgie nicht auch Verkündigungscharakter? Was, wenn eine stundenweise beschäftigte und konfessionsfreie Putzfrau in einer Kita mit den Eltern ins Gespräch kommen sollte? Caritas ist Mission, ist Verkündigung. Demnach greife auch hier das Recht der Kirchen auf Selbstbestimmung, so Prof. Dr. Hense.
Ist die grundgesetzlich zugesicherte Autonomie in der kirchlichen Selbstverwaltung auch ein weitreichendes Selbstbestimmungsrecht? Das Bundesverfassungsgericht hat dieses erweiterte Verständnis in jahrzehntelanger Rechtsprechung zementiert und die Angelegenheiten der Kirchen über das für alle geltende Arbeitsrecht gestellt. Erst jüngere Entscheidungen des EGMR haben dazu geführt, dass nun eine „offene, alle sowohl auf Kirchen- als auch Arbeitnehmerseite relevanten, insbesondere auch sozialen, Aspekte einbeziehende Abwägung“ an deutschen (Arbeits-) Gerichten stattfindet. Dazu gehöre auf Seiten der Beschäftigten auch, deren betriebliche Position, ihre Beschäftigungsdauer, den Grad sozialer Abhängigkeit, geringe Arbeitsmarktchancen z.B. aufgrund einer „anderweitig nicht sinnvoll verwertbaren Spezialausbildung (z.B. die als Organist)“, das Lebensalters oder ein Beschäftigungsmonopol kirchlicher Arbeitgeber in bestimmten Gegenden zu berücksichtigen. Prof. Dr. Ulrich Hammer, Rechtsgutachter und Mitglied der Humanistischen Union, stellte dies klar und wies außerdem darauf hin, dass eine gesetzliche Definition, was verkündigungsnahe Tätigkeiten nun eigentlich sind, ein unzulässiger Eingriff in das kirchliche Selbstverwaltungsrecht sei. Seine Zusammenfassung: „Im Arbeitsrecht gibt es nunmal Hierarchien, aber vor Gott sind alle gleich. Nun versuchen Sie mal, DAS in Einklang zu bringen!“
Kann denn streiken Sünde sein?
Wer die Begriffe Tarifvertrag, Betriebsrat oder Mitbestimmung kennt, wird derlei Errungenschaften bei kirchlichen Arbeitgebern vergeblich suchen, vom Grundrecht auf Streik (Artikel 9 Grundgesetz) ganz zu schweigen. Stattdessen wird man auf so genannte einvernehmlich erarbeitete Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) und Mitarbeitervertretungen (MAV) ohne Mitbestimmungsrechte stoßen.
Die Diakonie betrachte Streik (Arbeitskampf) als ihren Wertvorstellungen nicht entsprechendes Verhalten, ohnehin seien 90 Prozent ihrer Einrichtungen tarifgebunden, so Dr. Jörg Kruttschnitt. Ja, die AVR-Landschaft sei zersplittert, aber das sei in der nichtkirchlichen Tarifwelt auch nicht anders.
Ein weiterer Vertreter der Diakonie-Dienstgeber im Publikum wies – übrigens von ver.di unbestritten – auf die 550 unterschiedlichen Tarifverträge allein in Niedersachsen hin, von denen pro Jahr ca. 50 neu zu verhandeln wären; echtes Lohndumping fände ohnehin nur bei der „privaten Konkurrenz“ aufgrund des Kostendrucks vonseiten Land und Kommunen statt. Säkulares Recht böte also kein Mehr an Sicherheit und Lohn.
Dass dies ein verzerrtes und weichgespültes Bild sei, kommentierte daraufhin Herr Meese, ehemaliger Mitarbeitervertreter einer diakonischen Einrichtung in Niedersachsen.
Auch der Caritasvertreter Rolf Lodde behauptete, dass Lohndumping schon lange kein Thema mehr sei, musste jedoch einräumen, dass die Arbeiten durch sehr viele nur in Teilzeit oder geringfügig Beschäftigte ausgeübt werden. Doch die AVR-Entgelte seien ca. 20 Prozent höher als vergleichbare ver.di-Tarifverträge, und ein „schwarzes Schaf“ wäre ohnehin nur ein solcher katholischer Träger, der mit ver.di einen Tarifvertrag abschließe. Somit wären die Caritas-AVRs am ehesten geeignet, um für allgemeinverbindlich erklärt zu werden; in einem ersten Schritt wären so genannte Mindestarbeitsbedingen denkbar. (Ein Schelm, wer nun vermutet, dass die Caritas der CDU diese Idee nahegebracht hat!)
Heftiger Protest gegen die Darstellungen der Arbeitgeberseite regte sich bei den Mitarbeitervertretern.
Daniel Wenk aus der Arbeitsrechtlichen Kommission des Ev. Kirche Baden und Mitglied des Gesamtausschusses der MitarbeiterInnen, machte deutlich, dass die AVRs in den oberen Entgeltgruppen zwar nahe am Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) seien, in den unteren Gruppen jedoch bis zu 600 Euro unter den tarifrechtlichen Abschlüssen zurück blieben. Entgeltverhandlungen auf Augenhöhe fänden nicht statt. Öffnungsklauseln in den Satzungen der Diakonischen Werke eröffneten die Möglichkeit, mitarbeiterfreundliche Verhandlungsergebnisse auszuschalten, indem die z.B. die Bundes-AVR angewendet wird. Ferner könne es durch Ausgründungen und der kaum durchschaubaren Verflechtungen der Diakonischen Werke sogar vorkommen, dass innerhalb ein und derselben Stadt einzelne Einrichtungen einen Konkurrenzvorteil haben. Allein in Baden kämen acht verschiedene AVRs zur Anwendung, für reguläre Tätigkeiten würden Hilfskräfte beschäftigt und entsprechend gering vergütet.