BERLIN. (hpd) Seit gut 11 Monaten ist von Schulgebeten in öffentlichen Schulen nichts mehr zu vernehmen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte geurteilt, dass das Grundrecht der Glaubensfreiheit auch die freie Wahl des Ortes umfasse, an den der jeweilige Gläubige ein Gebet verrichten wolle - sofern in einer Schule der Schulfrieden dadurch nicht gestört wird.
Nach einem mehrjährigen Verwaltungsprozess durch mehrere Instanzen hatte Ende November letzten Jahres das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 30.11.2011 – BverwG 6 C 20.10) entschieden, dass die Glaubensfreiheit eines Schülers (aus Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG) ihn zwar grundsätzlich berechtige, während des Besuchs der Schule außerhalb der Unterrichtszeit ein Gebet zu verrichten, dass aber diese Berechtigung ihre Schranke in der Wahrung des Schulfriedens finde. Den Schulfrieden sah das Gericht (ebenso wie das zuvor erkennende Berliner OVG) als erheblich gestört an. In erster Instanz hingegen hatte das Berliner Verwaltungsgericht dem Schüler Recht gegeben. Eine (im letzten Jahr erwartete) Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist nicht eingelegt worden, so dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Problematik nicht ansteht.
In der Kritik stand das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts einerseits von säkularer Seite, da befürchtet wird, dass mit der grundsätzlichen Zulässigkeit von Schulgebeten religiösen Kräften das Eindringen in den Schulbetrieb erleichtert werde, andererseits von muslimischer Seite, die wie der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) vor einem „Herausdrängen der Religion aus dem öffentlichen Raum“ warnte.
Religiöse Pflichtgebete in Schulen?
Mit dem Revisionsurteil aus dem November 2011 wurde ein Verbot der Schulleiterin eines Berliner Gymnasiums aus dem Jahr 2007 rechtskräftig bestätigt. Die Schulleiterin hatte seinerzeit einem Schüler untersagt, in der Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden zusammen mit anderen Mitschülern in einem Flur des Schulgebäudes Gebete nach islamischen Ritus zu vollziehen. Dem Schüler (bzw. seinem Vater und Religionsfunktionären) ging es darum, das rituelle Pflichtgebet, „as-salat“, jedenfalls zur Mittagszeit außerhalb des Schulunterrichts in einer Pause im Schulgebäude zu verrichten. Zweifel daran, dass das Beten in der Schule tatsächlich dem Wunsch des Schülers entsprach, waren immer wieder laut geworden; vermutet wurde, dass er lediglich von seinem stark religiösen Vater und Religionsfunktionären vorgeschoben wurde, zumal - wie das OVG Berlin festgestellt hatte – der Schüler einen ihm für einige Monate zur Verfügung gestellten Raum nur äußerst selten zum Beten genutzt hatte, obwohl das Beten von ihm als eine religiöse täglich zu verrichtende Pflicht bezeichnet worden war. Bereits diese Tatsache hätte das Bundesverwaltungsgericht zum Anlass nehmen können, die Klage des Schülers abzuweisen; allerdings hat es sich die Gelegenheit, grundsätzliche Ausführungen in der Sache selbst zu machen, wohl nicht nehmen lassen wollen.
Das Bundesverwaltungsgericht urteilte, dass das Grundrecht der Glaubensfreiheit auch die freie Wahl des Ortes umfasse, an den der jeweilige Gläubige ein Gebet verrichten wolle; insoweit sei in der Schule – und zwar außerhalb der Unterrichtszeiten - Gelegenheit hierzu zu geben, da ein Schüler in die Schulorganisation und den Unterrichtsablauf eingebunden sei und deshalb die Schule - auch während der Pausenzeiten – nicht ohne weiteres verlassen könne.
Der Schulfrieden muss gewahrt bleiben
Auch wenn die Entscheidung sich nur auf einen konkreten Einzelfall bezieht, hat sie doch darüber hinausgehende Bedeutung. Eine Diskussion der Grundsatzaussagen des Gerichts zur Ausübung von religiösen Ritualen in öffentlichen Schulen soll hier nicht erfolgen, sondern auf die Bedeutung des Schulfriedens, wie sie vom Bundesverwaltungsgericht erörtert worden ist, und den es zu wahren gilt, eingegangen werden.
Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu im Urteil (unter II. 2. b) dd)) folgendes ausgeführt: „Die Glaubensfreiheit des Klägers und seine daraus herleitbare Berechtigung, auch in der Schule sein Gebet zu verrichten, finden ihre Schranke aber in dem Gebot, den Schulfrieden zu wahren.“
Zur konkreten Situation an dem vom Schüler besuchten Gymnasium hat es unter Bezugnahme auf die vom Berliner OVG getroffenen Feststellungen festgehalten: „Nach diesen Feststellungen ist an dem D.-Gymnasium unter den Schülern eine Vielzahl von Religionen und Glaubensrichtungen vertreten. Aufgrund dieser heterogenen Zusammensetzung der Schülerschaft sind unter den Schülern teilweise sehr heftige Konflikte ausgetragen worden, die von Vorwürfen gegen Mitschüler ausgingen, diese seien nicht den Verhaltensregeln gefolgt, die sich aus einer bestimmten Auslegung des Korans ergäben, wie beispielsweise dem Gebot, ein Kopftuch zu tragen, Fastenvorschriften einzuhalten, Gebete abzuhalten, kein Schweinefleisch zu verzehren, „unsittliches Verhalten“ und „unsittliche Kleidung“ sowie persönliche Kontakte zu „unreinen“ Mitschülern zu vermeiden. Aus derartigen Anlässen sei es etwa zu Mobbing, Beleidigung, insbesondere mit antisemitischer Zielrichtung, Bedrohung und sexistischen Diskriminierungen gekommen. Hierauf aufbauend hat das Oberverwaltungsgericht den Schluss gezogen, die ohnehin bestehende Konfliktlage würde sich verschärfen, wenn die Ausübung religiöser Riten auf dem Schulgelände gestattet wäre und deutlich an Präsenz gewönne.“
Das OVG Berlin hatte noch umfassendere Ausführungen zum Mobbing-Verhalten der religiösen Schüler gemacht, die die anderen Schüler und insbesondere Schülerinnen beleidigten (auch mit antisemitischer Zielrichtung), bedrohten und sexistisch diskriminierten, ein Mädchen, das während der Fastenzeit einen Müsliriegel aß, als „minderwertige Muslimin“ beschimpften, Schülerinnen, die als Alevitinnen kein Kopftuch trugen, anpöbelten und dazu aufforderten, den Kontakt zu geschminkten Schülerinnen abzubrechen. Schüler mit Migrationshintergrund bezeichneten solche ohne einen solchen Hintergrund als zu weich, als Personen, die man unterdrücken müsse, andere wurden als „Schweinefleischfresser“ und „Scheiß-Christen“ bezeichnet und jüdische Schüler wagten schon gar nicht, ihre Religionszugehörigkeit bekannt werden zu lassen.
Diese Situation hat das Bundesverwaltungsgericht (ebenso wie das OVG) dahingehend gewertet, dass durch die Verrichtung des Gebets auf dem Schulflur eine bereits bestehende Gefahr für den Schulfrieden weiter verschärft würde. Unzulässig wäre es zwar, wenn eine Schulverwaltung ohne Rücksicht auf eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens vorbeugend die Verrichtung von Gebeten und die Vornahme vergleichbarer kultischer Handlungen in der Schule unterbinden würde. Denn eine rein abstrakte Eignung der Gebete und kultischen Handlungen, den Schulfrieden zu gefährden, reiche für eine Untersagung angesichts der Bedeutung des Grundrechts auf Glaubensfreiheit nicht aus.
Zwar ist nach den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts die Schule durchaus gehalten, religiös motivierten Konflikten mit erzieherischen Mitteln zu begegnen, möglichst eine gütliche Regelung zu treffen, doch sind hier nicht allzu strenge Anforderungen anzulegen, da „der übergeordnete Zweck der staatlichen Veranstaltung Schule … im Interesse des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule, für alle Schüler einen geordneten Unterrichtsablauf sicherzustellen“ beachtet werden müsse. Diesem eigentlichen Zweck der Schule seien alle Schüler verpflichtet; der Einzelne müsse um dieses Zweckes willen in einer solchen Lage auch auf ein an sich erlaubtes Verhalten verzichten, ohne das es darauf ankomme, ob ihm der Vorwurf gemacht werden könne, gerade er störe schuldhaft den Schulfrieden.
Folgen für die Schulpraxis: Wollen Schüler religiöse Zeremonien (Gebete u. ä.) in einer öffentlichen Schule veranstalten, so ist dies zwar nicht grundsätzlich unzulässig, doch findet dieses Vorhaben seine Grenze in einer konkret bevorstehenden Gefährdung des Schulfriedens. Welcher Religionszugehörigkeit die betreffenden Schüler sind, ist dabei unerheblich, so dass es sich um Muslime, Christen oder Angehörige anderer religiöser Richtungen handeln kann.
Bestehen in der Schule bereits solche Konflikte, wie sie vom Bundesverwaltungsgericht genannt worden sind, begründet jede geplante Durchführung von schulöffentlich abgehaltenen Gebeten die konkrete Gefahr der Verschärfung dieser Konflikte; die Abhaltung der Gebete ist somit wegen Gefährdung des Schulfriedens zu untersagen. Es ist erfahrungsgemäß davon auszugehen, dass die vom Gericht genannten herabsetzenden Verhaltensweisen von Schülern untereinander jedenfalls an Schulen mit multikultureller Schülerzusammensetzung (mit verschiedenen Religionen und Glaubensrichtungen) in Ballungsgebieten mehr oder weniger massiv vorhanden sind, so dass stets Schulgebete zu untersagen sind.
Darauf, ob die Schüler, die schulöffentlich beten wollen, in irgendeinem Zusammenhang mit den bereits vorhandenen Störungen stehen, kommt es nicht an. Die objektive konkrete Eignung zur Störung des Schulfriedens reicht für eine Untersagung aus; auf subjektive Absichten und Verhaltensweisen des die Gebetsmöglichkeit begehrenden Schülers kommt es nicht an. Dies hatte das Berliner Verwaltungsgericht noch anders gesehen, doch sind die Ausführungen des Berliner OVG und des Bundesverwaltungsgerichts hierzu eindeutig.
Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu ausgeführt: „Das Oberverwaltungsgericht ist dabei zwar nicht ausdrücklich auf den Hinweis des Klägers eingegangen, die geschilderten Konflikte mit religiösem Hintergrund wiesen keinen Bezug zu dem von ihm geübten Gebet auf, er - der Kläger - sei an diesen Konflikten nicht beteiligt gewesen, habe im Gegenteil auf der Schule viele christliche Freunde, die seine streng religiöse Haltung sogar gut fänden. Indes kam es auf diese Umstände nicht entscheidungserheblich an. Das Oberverwaltungsgericht hat der Sache nach festgestellt, dass an dem D.-Gymnasium aufgrund der heterogenen religiösen Zusammensetzung der Schülerschaft ein Klima herrscht, in dem sich an religiösem Verhalten ebenso wie an offener Distanz zu religiösen Geboten aus durchaus geringem Anlass Konflikte entzünden. Von daher kam es nicht darauf an, ob schon bisher die Verrichtung ritueller Gebete in der Schule zu solchen Konflikten geführt hatte. Denn die offene Verrichtung eines rituellen Gebets konnte nach der Würdigung des Oberverwaltungsgerichts in diesem Klima wiederum die Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Einstellungen zum Glauben und ihren Geboten aufbrechen lassen, weil es zum Mitmachen auffordert und geeignet ist, zwischen strengen und weniger strengen Anhängern einer Religion zu scheiden. Ob der Kläger in einer solchen Absicht gehandelt hat oder gar Auseinandersetzungen schüren wollte, war für das Oberverwaltungsgericht unerheblich, weil es aus seiner Sicht nur darauf ankam, dass in dem herrschenden Klima an der Schule die Verrichtung eines rituellen Gebets objektiv geeignet war, weiteren Unfrieden zu stiften.“
Eine Beeinträchtigung des Schulfriedens ist auch dann zu beachten, wenn sich aufgrund der Durchführung des Gebetes Auseinandersetzungen unter den Schülern ergeben, etwa weil betende Schüler oder ihre Gesinnungsgenossen im Umfeld der Gebete andere Schüler und insbesondere Schülerinnen wegen ihres Verhaltens oder ihrer Kleidung versuchen zu maßregeln oder sonst Zeichen einer ehrverletzenden Herablassung gegenüber „nichtgläubigen“ Schülern zeigen.
Sollte es aufgrund des religiös-aufgeheizten Klimas in einer Schule gar zu Missfallenskundgebungen und Widerstandshandlungen der anderen nicht am Beten beteiligten Schüler kommen, die eine Beendigung des Betens fordern, müsste die Schulverwaltung aufgrund der vom Bundesverwaltungsgericht aufgezeigten Grundsätze diesem Begehren letztlich nachkommen.
Fazit: Schulgebete können – und müssen - untersagt werden
Die vom OVG Berlin und vom Bundesverwaltungsgericht aufgezeigten Verhaltensweisen der den religiösen Kreisen angehörenden Schüler zeigen, dass jedenfalls Toleranz und eine Orientierung auf ein friedliches und gleichberechtigtes Miteinander mit den anderen Schülern nicht zum Weltbild und nicht zum Umgangsstil dieser Personen gehören. Das Verlangen nach Einräumung von Gebetsmöglichkeiten in der Schule und ein Klima des Hasses gegenüber Andersdenkenden werden stets miteinander zusammenhängen, so dass dem religiösen Begehren Einhalt geboten werden kann.
Es zeigt sich bei genauer Betrachtung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts, dass auch nach dieser Entscheidung durchaus gute Möglichkeiten bestehen, öffentliche Gebetsvorstellungen von Schülern in öffentlichen Schulen zu unterbinden. Vorhanden sein muss nur der Wille von Schulleitern und Lehrern, religiöse Spektakel und religiöse Propaganda in der Schule zu unterbinden.
Beten einerseits und Verteufelung des Andersdenkenden andererseits gehen – wie schon so oft in der Weltgeschichte – Hand in Hand. Für die diesem Geist entspringenden Verhaltensweisen darf in einer Gesellschaft, die sich zu den unveräußerlichen Menschenrechten bekennt, niemandem Gelegenheit gegeben werden. Auch nicht aus falsch verstandener „Toleranz“.
Walter Otte