Rezension

Alan Musgrave: Weltliche Predigten

Alan Musgraves Sammlung von 15 Vorträgen ("Secular Sermons. Essays on Science and Philosophy", 2009) liegt bereits seit 2011 in deutscher Übersetzung vor: "Weltliche Predigten. Essays über Wissenschaft und Philosophie", die (entdeckt bei einer Recherche über den Autor) auszugsweise in Google Books zu finden ist. Dort stolperte Hans Trutnau, der Chemiker ist, in Abschnitten bzgl. der Entdeckung des Sauerstoffs über eine Übersetzer-Anmerkung, der er nachgehen musste. Er bekam vom Autor aus Dunedin, Neuseeland, das Original (und z.T. eine Klärung der schwer vermittelbaren Anmerkung) zugesandt und die Übersetzung vom Verlag Mohr Siebeck als Rezensionsexemplar. Hat es sich gelohnt? Ja – und nein.

Vorgeschichte

Der Stolperstein in Google Books bezieht sich auf einen in der Übersetzung konstatierten Volumenunterschied zwischen Blei und Bleikalk (-oxid) und lautet dort (S. 108):
"Ein Pfund Blei ergibt mehr [Volumen – A.d.Ü.] als ein Pfund Bleikalk (Bleioxid)."
Der Hammer! Was hat da 'Volumen' zu bedeuten, wo es bzgl. der sog. Phlogiston-Theorie um die Verbrennung (Oxidation) von Metallen ging?

Eine Nachfrage beim Autor ("Lead yields more what than lead oxide? Volume? How does the section read in the original?") erntete Verwirrung und die sinngemäße Antwort: "Why what? Why volume? It regards to the weight! I hope that there is no other such incorrect translation."

Statt einer nachgefragten Kopie des betreffenden Abschnitts sandte mir Alan Musgrave gleich das ganze Originalbuch und Mohr Siebeck auf Anfrage die Übersetzung ("Zur Rezension in: Humanistischer Pressedienst"). Die Bücher Seite an Seite gelegt zeitigten glasklar:

Der Sinn folgt aus der Textstelle mit dem Satz davor, die im Original lautet: "Now quite early in the piece this theory came up against a difficulty: the experimental fact was that metallic calxes [oxides; d. Verf.] weigh more than the metals from which they are prepared. A pound of lead may form more than a pound of lead calx (lead oxide)." (Der erste Satz ist ansonsten treffend übersetzt, woraus die Übersetzung des Folgesatzes noch fragewürdiger erscheint.)

Die einzig sinnvolle Übersetzung dieses 'Hammer'-Satzes sollte lauten:

"Ein Pfund Blei ergibt über ein Pfund Bleikalk (Bleioxid)."

Selbst wenn Volumen hier irgendeinen Sinn machen sollte, bleibt dieser im Dunkeln; denn Blei hat eine höhere Dichte als jedes mir bekannte Bleioxid – mithin hat eine bestimmte Masse Blei ein kleineres Volumen als die gleiche Masse jedes dieser Bleioxide. Aber sei's drum, Volumen hat hier im Zusammenhang ganz offensichtlich überhaupt nichts verloren.

Nun konnte es frohen Mutes ans durcharbeitende Lesen gehen…

Inhalt

Der Titel des Buches ergab sich daraus, dass das erste Kapitel von einer Kirchenkanzel (!) in Dunedin (dem Ort der University of Otago, an der Alan Musgrave lehrt/e), NZ, 'gepredigt' wurde. Die 'Predigten' sind 6 bis über 30 Seiten lang, bis auf die letzte (die nur vorbereitet, aber nicht vorgetragen wurde) gehalten zwischen 1971 und 2007 an diversen Orten.

Philosophische Abhandlungen können lang werden, sind es bekanntermaßen auch häufig. Aber – denn diese Rezension ist ja keine solche:

Daher mache ich es kurz – mit einem (kurz kommentierten) Inhaltsverzeichnis, jeweils in DE und aus dem Original entnommen in EN (die Jahreszahlen, falls angegeben, beziehen sich auf das Jahr des Vortrags) sowie Seite/Page; gefolgt von Bewertung und Fazit:

Vorwort (J.J.C. Smart) VII
Foreword
½ Seite auf den Punkt.
7
Zum Geleit (A. Musgrave) IX
Preface 9

1. Kann man durch einen willentlichen Entschluss zum Glauben kommen? (1991)

1

Can I Decide What to Believe? (1991)

Keine einfache Antwort: "Man kann unmöglich etwas glauben, indem man sich einfach dazu entschließt oder dafür entscheidet, es zu glauben, oder indem man es glauben will." (S. 7) Ich komme ganz am Ende auf dieses 1. Kapitel zurück.

11

2. Wandelsterne und fallende Steine (1973)

9

Wandering Stars and Falling Stones (1973)

Aristoteles gilt als einer der größten antiken Denker, ist es vielleicht z.T. auch immer noch (Musgrave kommt ganz am Ende des Buches, S. 240 ff, auf Aristoteles' unendlichen Regress wissenschaftlicher Erklärungen zurück). Aber idealisierte theoretische Vorstellungen über Himmelssphären (Mittelpunkt Erde, perfekte, weil 'vollkommene' Kreisbahnen bis hin zu späteren Epizyklen, Deferenten und Äquanten) und über irdische Sphären (Erde, Wasser, Luft und Feuer) sowie irdische Physik (bzgl. Bewegung und Geschwindigkeit) hielten sich zwar ca. 2000 Jahre, wurden aber in der wissenschaftlichen Revolution ("das vielleicht bedeutsamste Ereignis in unserer Geistesgeschichte", S. 10) durch Kopernikus, Galilei, Kepler, Newton und Nachfolger so gut wie vollständig über Bord geworfen – meist unter erbittertem Widerstand des Klerus'. Aus Geozentrik wurde schließlich Heliozentrik und mehr. Und schön, dass der 'Kopernikus der Antike' (Aristarch) am Ende Erwähnung findet (S. 30).

Die Kapitel 2. bis 6. sind für mich persönlich mit am wichtigsten.

17

3. Geht die Wissenschaft rational vor? (1971)

41

Is Science a Rational Enterprise? (1971)

Sie könnte es vielleicht und erhebt den Anspruch, macht es aber beileibe nicht immer (ausgiebiges Bsp.: Induktivismus). Und bes. Michael Polanyi, auch Thomas S. Kuhn u.a. meinen, "dass es sich bei der Wissenschaft um eine weitere organisierte Religion handelt. Ich bin anderer Meinung" (S. 54). Ich (d. Verf.) ebenso – zumindest gibt es in der Wissenschaft keine übernatürlichen Wunder, die in Religionen hingegen ein beliebtes Spielzeug sind. Aber wie auch wissenschaftliche Hypothesen/Theorien selbst sind auch Falsifikationen fallibel, mithin nicht zwingend. Es ist m.E. auffallend, wie vielen Mitmenschen (Philosophen u.a.) diese Einsicht abgeht. Musgrave schließt mit: "Wissenschaft ist nicht deshalb ein rationales Unternehmen, weil sie über eine Methode zum Beweis ihrer Theorien verfügt oder zu deren zwingender Widerlegung. Sie ist rational, weil ihre kritischen Methoden immer bessere Theorien hervorbringen, die uns immer umfangreicher darüber in Kenntnis setzen, wie die Welt beschaffen ist" (S. 64).

41

4. Vom Entdecken (ohne Jahr)

65

On Discovery

Nichts macht m.E. Fortschritt und Umwälzungen (Revolutionen) in der Wissenschaft deutlicher als die Entdeckung von Neuigkeiten. Musgrave macht dies an der Entdeckungsgeschichte der Planeten Uranus und Neptun sowie des Sauerstoffs deutlich. Und wer hat jetzt den Sauerstoff entdeckt (gar, dass er ein Element ist): Scheele, Priestley oder Lavoisier? Das kann nicht ohne die Historie beantwortet werden; und die dröselt Musgrave mustergültig und außerordentlich detailreich auf (Robert Mertons competition for recognition hilft da nur wenig weiter). In der wissenschaftlichen Ausbildung geht nach meiner Erfahrung solche Umbruch-Historie häufig komplett unter; aber wir sollten sie "zur Kenntnis nehmen und angemessen herausstellen" (S. 87).

59

5. Ideen und Experimente in der Wissenschaft (1978)

88

Ideas and Experiments in Science (1978)

Kurzum – ohne Ideen und (wohldurchdachte) Experimente gäbe es überhaupt keine Wissenschaft; schon die beiden eingangs dieser 'Predigt' geschickt erläuterten Experimente (zur Luftdruckmessung und gravitativen Lichtablenkung) bezeugen dies eindrücklich! Aber dies kann auch zu Auswüchsen führen, z.B. in der Art experimentellen Unterrichts, in der vorgefassten Art der Abfassung wissenschaftlicher Beiträge oder in der köstlich dargestellten "Schirmologie" (umbrellaology) von John Somerville…

77

6. Brauchen wir Alternativen zu nicht widerlegten Theorien? (ohne Jahr)

100

Why Invent Alternatives to Unrefuted Theories? (1985)

Benötigen wir solche Alternativen? Nicht unbedingt oder immer; aber sie können befruchtend wirken, speziell, wenn sie auf ungelöste Probleme etablierter Theorien aufmerksam machen – und insbesondere, wenn sie solche Probleme besser lösen und einfachere, evtl. sogar umfassendere Erklärungen bieten. Der Sturz der lange erfolgreichen Phlogiston-Theorie der Verbrennung (ganz ohne 'Volumen', s.o. Vorgeschichte) durch Lavoisiers Alternative ist ein Paradebeispiel. – Eine anspruchsvolle 'Predigt'!

87

7. Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftliche Ausbildung (1982)

114

Philosophy of Science, History of Science, and Science Education (1982)

Wissenschaftsvermittlung – Musgrave von Paul Feyerabend (mit dem er deutlich ins Gericht geht) und seinen "Märchen" sowie Karl Popper zu Thomas S. Kuhn (dem er großenteils beipflichtet), wobei er zu seinem (erwartbaren) Standpunkt kommt: "Wissenschaft sollte mit Blick auf die Geschichte vermittelt werden, damit deutlich wird, was das Großartige an ihr ist" (S. 125); etwas auf Neuseeland bezogen, weil auf einer dortigen Fachtagung vorgetragen. Er kommt darauf am Ende seiner nächsten 'Predigt' zurück.

97

8. Realismus und Surrealismus in Sachen Wissenschaft (2007)

129

Realism and Surrealism about Science (2007)

Von "Junge-Erde-Kreationisten" und der flachen Erde des Großmuftis von Saudi-Arabien über Galilei vs. Bellarmine und Papst Urban VIII. zu jüngeren Surrealisten wie Berkeley (17. Jh.), Gosse (19. Jh.) und zu 'moderneren' Vertretern (Duhem, van Fraassen) – und Musgrave gegen jeden (theologischen bzw. weltlichen) Surrealismus, wonach 'Gott' die Dinge so einrichtete (bzw. die Phänomene so wirkten), als ob die Geologie (die Biologie …, gar die Radiokohlenstoffdatierung) wahr wäre. Aber wie gegen solche Surrealismen angehen? Mit dem Erklärvermögen der Wissenschaft und dessen Weiterentwicklung über die Zeit. Abhilfe ist einfach (aus dem Ende des Originalkapitels zitiert): "science teaching should be suffused with liberal doses of the history and philosophy of science as well."

109

9. Die Logik des Diagnostizierens (1983)

144

Diagnostic Logic (1983)

Nicht nur für Dentisten: Über Möglichkeiten und Grenzen der eliminativen Induktion Francis Bacons und Poppers Kritik an Kaliforniens führendem Allergologen.

121

10. Sextus Empiricus: Skeptizismus und Psychologie (1982)

152

Sextus Empiricus: Scepticism and Psychology (1982)

Skeptizismus, tickende Zeitbomben gegen Dogmatismus, (Kants gemolkener Bock…), Fideismus, Empirismus, naiver Realismus, Idea-ismus und kritischer Realismus sowie eine Kritik an Bischof Berkeley und B. Russell bzgl. Bewusstseinsakte und Wahrnehmung. Musgrave (verblüffend): "Wir blicken dauernd in die Vergangenheit" – und (m.E. als eine der Kernaussagen) immer ohne Wahrheitskriterium; bekannt schon seit Sextus Empiricus.

127

11. Poppers kritischer Realismus (2001)

166

Popper's Critical Realism (2001)

Nochmals naiver Realismus nebst Ideaismus, kritischer Realismus, kurz etwas Solipsismus, Kants Idealismus, Konstruktivismus, Anti-Realismus vs. Skeptizismus sowie schließlich Skeptizismus und kritischer Rationalismus. Und: Gewissheits- vs. Rationalitäts- Skeptizismus sowie zurückzuweisendes Rechtfertigungsprinzip. – Etwas prall viel auf einen Schlag und eine thematisch lange Geschichte, von Musgrave aber sauber durchdekliniert. Wir haben die Wahl. Haben wir? Ich nicht mehr; ich habe mich schon länger entschieden.

139

12. Einsteins Einfluss auf die Philosophie (1979)

181

Einstein's Influence on Philosophy (1979)

Einsteins Kritik Newtons, euklidische und riemannsche Geometrie; Einstein, Einstein über alles (?) sowie sein/e riemannscher Raum, Metaphysik und Pantheismus. Ganz am Ende mit etwas viel Glaube aufgeladen – was die Aussage "Glaube ohne Arbeit ist keine Wissenschaft" bedeuten soll, erschließt sich mir auch im Original nicht.

151

13. Russell über die Mathematik – ein Brückenkopf gegen die Skeptiker? (1972)

200

Russell on Mathematics – A Bridgehead Against the Sceptic? (1972)

Über Russell, die Mathematik, Logik und seine Antinomie bzgl. N, der Menge aller normalen Mengen sowie seine und Whiteheads Principia Mathematica, die auch ich nicht gelesen habe (und wahrscheinlich auch nicht verstehen würde – ich würde den "Rest meines Lebens mit dem Starren" auf bedruckte (!) Papierbögen verbringen). An den Folgen werden noch heute manche Zähne ausgebissen. Musgraves Quintessenz: Wir sollten nicht versuchen, die Skeptiker "zu besiegen, sondern uns mit ihnen zusammenzutun" (S. 212).

167

14. Ist die Evolutionstheorie wissenschaftlich? (1984)

214

Is Evolutionary Theory Scientific? (1984)

Ein widersprüchlicher, unsinniger Nature-Artikel. Die Bestangepassten: "die Überlebenden sind die Überlebenden" (S. 223) – eine Tautologie? Wo Popper recht hatte und wo haarsträubend unrecht – das snooker ball Beispiel (S. 233) ist köstlich! Seitdem hat sich in der Theorienbildung viel getan – die Evolutionstheorie ist prüfbar, z.B. durch wissenschaftliche Forschungsprogramme i.S.v. Imre Lakatos. Kreationistisches ›Intelligent Design‹ beruht auf Verneinung, auf Unmöglichkeitsbehauptungen, die zu widerlegen, "es nur einer Möglichkeitsbehauptung" (S. 235 f) bedarf. Und: Dawkins liegt falsch mit seinem Argument des kambrischen Säugetierschädels (S. 236). Das wissenschaftliche Spiel ist noch im Gange – Musgrave kann sich m.E. solche Urteile erlauben; er ist (s.u.) Fachmann in der Wissenschaftstheorie der Evolutionsbiologie.

Zu deren Stand mein Tipp: Zrzavý, J. et al. (2. Aufl. 2013): Evolution. Ein Lese-Lehrbuch (nicht von der einzigen 1*-Rezension beim Buchgroßhändler verwirren/fehlleiten lassen!).

179

15. Liefern theologische Ansichten Erklärungen? (1993)

237

Are Theological Notions Explanatory? (1993)

Kurze Quintessenz: Nein, das liefern sie nicht (es ist das mit 6 Seiten kürzeste Kapitel…). Und: "… wir täten gut daran, in erkenntnistheoretischer Hinsicht anzuerkennen, dass der Regress der Erklärung eine Tugend ist, kein Teufelswerk, und dass das Matrjoschka-Modell [der Russischen Holzpuppen, d. Verf.] wirklich zutreffen könnte" (S. 242). Das wirft ein interessantes Schlaglicht auf Alberts 'Münchhausen-Trilemma', aber das hier weiter auszuführen, führte jetzt wirklich zu weit!

197

Literaturverzeichnis

243
References 203

Register der Personen und Sachen

251
Index 211

Bewertung

Musgrave wendet sich mit seinen 'Predigten' an eine breite (non-specialist) Leserschaft. Das ist kühn! Einige Teile spezieller Kapitel (z.B. bzgl. Chemie, Mathematik, Logik, Evolution, Erkenntnistheorie, aber auch Astronomie) sind sehr komplex und m.E. ohne weitergehende Vorkenntnisse nur schwer verständlich. Philosophische Erörterungen von Erkenntnistheorie und Wissenschaftshistorie sind schließlich keine alltägliche Hausmannskost, gehörten aber als Pflichtfach in die Curricula naturwissenschaftlicher Studiengänge (ist dies inzwischen eigentlich der Fall?). Aus der Historie, wie Wissenschaft ablief, ließe sich viel darüber lernen, wie Wissenschaft ablaufen sollte bzw. könnte – auch wenn ein solcher Blickwinkel komplizierter erscheint als eine gradlinige Annäherung an 'die' Wahrheit (wie dies lange gelehrt wurde). Darüber hatte ich manche Einsicht in den 1970ern durch Thomas S. Kuhn ("Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen") gewonnen, aber Musgrave gelingt es, wie es scheint, traumwandlerisch sicher und mit meist klarem Ausdruck, dem eine tiefere Einsicht hinzuzufügen; auch wenn das komplizierter wird. Die Kompliziertheit räumt der Autor selbst ein (z.B. S. 77) – und ich hier ebenso und nachdrücklichst für diese Rezension!

Im Prinzip ist das detailreich und sehr gut gelungen – wie vom Autor Alan Musgrave, den ich außerordentlich schätze, zu erwarten (s.u. die Empfehlung im Fazit). Aber: Wer meine wenigen Rezensionen hier im hpd kennt, wird um meine 'Eselsohren-Marotte' (zur Kenntlichmachung wichtiger Textstellen) wissen. Das war in diesem Fall nicht so einfach möglich, so dass die Seiten 'gesplittet' werden mussten: Ohren oben für Textstellen, Ohren unten für ÜbersetzungsfehlerDer Teufel im Detail wollte es, dass die Ohren unten in deutlicher Mehrzahl sind (ich habe nicht exakt gezählt und damit auch irgendwann aufgehört) – im gefühlten Durchschnitt etwa ein Fehler pro Seite. Das darf aber bei einer ca. 250-seitigen zwar fadengehefteten Broschur bei einem so hohen Preis (der mit 49 Euro an sich schon hinterfragenswert ist) eigentlich nicht vorkommen.

*Das sind u.a. neben dem o.g. 'Hammer' nicht gekennzeichnete Auslassungen / Ergänzungen in Zitaten und Fußnoten, Verwendung von ‹ statt ' in s-endendem Genitiv, Beginn einer Kenntlichmachung mit › und deren Ende mit ', Grammatik- (z.B. Plural-) und simple Druck- Fehler. 

Oder unglückliche Ausdrücke wie 'voraufgehen' statt 'vorausgehen', auf (etwas) 'aufruhen' statt 'beruhen'. Letzteres Beispiel klingt zwar etwa so doppelt wie 'aufoktroyieren'; dieser Doppelmoppel (aufoktroyieren) hat es aber inzwischen sogar bis in den Duden geschafft…

Oder ein spezieller Fall: In mehreren Textstellen (z.B. S. 73 ff) bzgl. der früheren Phlogistontheorie der Verbrennung wird phlogisticated mit 'phlogistiert' übersetzt (aber immerhin durchgehend; gemeint ist das Versetzen/Verbinden mit Phlogiston). Dies findet sich im Internet etwa ebenso selten wie 'phlogistiziert'. Letzteres (z.B. in Übersetzungen von Originalliteratur des 18. Jh.) erscheint mir jedoch richtig; sonst könnten analog indicated mit 'indiert' statt 'indiziert', modificated mit 'modifiert' statt 'modifiziert', domesticated mit 'domestiert' statt 'domestiziert', falsificated mit 'falsifiert' statt 'falsifiziert' oder sophisticated mit 'sophistiert' statt 'sophistiziert' (wenn es das gibt; 'ausgefeilt' o.ä. wäre üblicher, es hat nichts mit 'Sophisterei' gemein) übersetzt werden. Nur eins dieser Beispiele hätte hier zur Verdeutlichung ausgereicht; aber in keinem der Beispiele ist die kürzere Form ('-iert') statt der längeren Form ('-iziert') im Deutschen gebräuchlich. Der Gebrauch des Begriffs 'phlogistiert' (und insbes. auch des o.g. 'Hammers') hingegen indiziert daher, dass der Übersetzer kein Naturwissenschaftler (Chemiker) bzw. Wissenschaftshistoriker ist. Aber wenn es denn schon auf '-iert' enden soll, dann allenfalls 'phlogistoniert', bitte; aber auch das wäre ungewöhnlich.

Oder der Fall Proportionalzeichen: "∝" (S. 23 f); es ist im englischsprachigen Raum geläufig und wurde unerläutert aus dem Original übernommen. Im Deutschen ist dafür m.W.n. aber nur die Tilde (~) gebräuchlich. Und dass aus One of the greatest oddities dann "Eine der besonders eigentümlichen Eigentümlichkeiten" (S. 35) wird, springt nur mehr als kapriziöser Pleonasmus ins Auge.

Diese Liste ließe sich verlängern bzw. im Einzelnen ausführen, aber ich bin ja nur der Rezensent, nicht das Lektorat, das in den Verlag gehörte. War das dort der Fall?

Fazit

Die DE Übersetzung des (meist) einfacheren Verständnisses wegen lesen, falls in einer Bibliothek vorhanden, aber das vergriffene Original "Secular Sermons", sofern (auch gebraucht) verfügbar, unbedingt besorgen und lesen. Es ist ein Schatz des kritischen Rationalismus!

Wer das Buch / die Bücher nicht bekommen kann oder wem sie zu teuer sind, dem sei von demselben Autor (1993) "Common Sense, Science and Scepticism" ("Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus", nahezu werkgetreu übersetzt und mir wärmstens als "sehr gutes Buch" empfohlen von Hans und Gretl Albert) von mir ebenso wärmstens weiterempfohlen. Es macht (am Ende, trotz Einschränkung, mit klarstem Votum zum kritischen Rationalismus) einen äußerst eleganten Parforceritt durch die Historie der Erkenntnistheorie – mit von mir als notwendig erachteten Logik-Vorkenntnissen. Musgrave wartet darin schließlich mit einer bemerkenswerten Einschätzung des krit. Rationalismus' auf, die zu spoilern ich mich hier hüten werde – jeder/m ihr/sein Lese- und Lernvergnügen (vielleicht ist dies dem Übersetzerpaar auch nicht aufgefallen; Hans Albert hat das m.W.n. zumindest nie thematisiert). Das Werk ist für knapp 7 Euro (!) vom Verlag Mohr Siebeck erhältlich.

Ein unbestreitbarer Vorteil der 'Predigten' sind jedoch die vielen Anekdoten und Details der Wissenschaftshistorie (z.B. Kap. 4), die so bisher nicht kolportiert wurden. Und sie zeigen Musgraves konstant kritischen Rationalismus in professoraler Arbeit von über 35 Jahren.

Zum Autor

Alan Musgrave (geb. 1940 in Manchester) ist ein britischer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker sowie Schüler von Karl Popper, unter dem er promoviert wurde. Zeitweilig arbeitete er in demselben Büro wie Imre Lakatos, mit dem er wichtige Beiträge zur Falsifikations-Debatte zwischen Karl Popper und Thomas S. Kuhn verfasste. 1970, im Alter von 30 Jahren, wurde er an die University of Otago in Dunedin, Neuseeland, berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 2005 Leiter des Philosophie-Departments war und sich in einem Schwerpunkt mit der Wissenschaftstheorie der Evolutionsbiologie befasste. Er ist dort immer noch aktiv.

Ich schließe diese Rezension mit dem aus dem Original zitierten Ende der ersten Predigt:

"I venture to believe (this is not inconsistent with what I have been saying – it is a euphemism for 'I suspect, and propose for your consideration') – I venture to believe that more human misery has been caused by belief-discrimination than by hair, eye, or skin-colour discrimination, and that all of them are equally stupid."

Das entspricht haargenau meiner Auffassung. Ich bin sehr dankbar, von Alan Musgrave viel gelernt zu haben!

Alan Musgrave (2011): Weltliche Predigten. Essays über Wissenschaft und Philosophie. Übers.: Axel Walter, Mohr Siebeck, Tübingen, ISBN 978-3-16-150614-7, 257 S., € 49,00.

Original (out of print) Alan Musgrave (2009): Secular Sermons. Essays on Science and Philosophy. Otago University Press, ISBN 978-1-877372-70-4, 216 pp, $ 16 to > $ 160.