DARMSTADT. (hpd) In seiner berühmten „Eisenacher Rede“ zur „Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck“ am 18. September 1882 sorgte Ernst Haeckel durch die Verlesung eines Briefes von Charles Darwin aus dem Jahr 1879 für Aufsehen bzw. das Gegenteil – für ein Totschweigen.
Darwin war im April des gleichen Jahres gestorben und in einer prunkvollen Zeremonie – und gegen seinen Willen – in unmittelbarer Nähe des Grabes von Isaac Newton in der Westminster Abbey beigesetzt worden.
Am 2. April 1879 hatte Haeckels Student Nicolai Alexandrovitch Baron Mengden unter Berufung auf die Lektüre von dessen „Natürlicher Schöpfungsgeschichte“ Darwin brieflich gefragt, ob sich der Glaube an Gott mit dem Glauben an die Evolution vereinbaren ließe.
Darwin schrieb nicht selbst; den Antwortbrief verfasste am 8. April seine Frau Emma mit dem Hinweis auf die vielen Briefe, die „Mr. Darwin“ erhalten würde und nicht alle selbst beantworten könnte. Sie schrieb, dass die Theorie der Evolution durchaus kompatibel mit dem Glauben an Gott sei, dass aber das Gottesbild der Menschen durchaus sehr verschieden sei, dass sich jeder etwas anders unter Gott vorstellen würde ( „He considers that the theory of evolution is quite compatible with the belief in a God; but that you must remember that different persons have different definitions of what they mean by God.“(Quelle)
Der junge Mengden aber ließ sich damit nicht abspeisen und wiederholte sehr eindringlich am 3. Juni 1879 seine Anfrage:
„Sehr verehrter Herr.
Bitte haben Sie die große Güte mir zu verzeihen, daß ich erst so spät Ihnen für Ihre freundliche Antwort meinen wärmsten Dank sage.
Ich habe dieselbe aber mehrfach durchgelesen, und auch während dieser Zeit die Bekanntschaft von E. Häckel gemacht, dem ich, als ich in Jena war, dieselbe Frage zu stellen gewagt habe, und er stimmte natürlich vollständig mit Ihnen überein.
Auf meine Frage aber ob er an einen Christus glaube wurde mir die Antwort zu Theil: “Er könne nicht etwas übernatürliches glauben”.
Daher wage ich nun nochmals, zum dritten Male als Bittender und Fragender vor Sie zu treten, damit ich durch Ihre gütige Antwort eine Richtschnur erhalten, die mir sagt was ich zu glauben habe.
Bitte haben Sie die große Güte und stoßen Sie mich nicht von Ihnen weg; wohl weiß ich und fühle ich wie unbescheiden und aufdringlich meine Bitten sind, doch weiß ich nicht wo ich Wahrheit erhalten kann außer bei Ihnen?
Bitte sagen Sie mir kann man an einen Christus glauben wie ihn die Bibel schildert, oder muß man nach Ihrer Meinung, E. Häckel beistimmen? und welche Definition von Gott halten Sie für einen Anhänger Ihrer Theorie für richtig?
Wenn Sie mich aber vollständig mit Ihrer Güte überhäufen wollen, so sagen Sie mir bitte auch, was soll man über dem Leben nach dem Tode denken? und darf man ein Wiedersehen hoffen? Diese Sorge ist mir wiederum gekommen, da ich eben durch den Tod meines besten Freundes zu ernsteren Gedanken veranlasst worden bin.
Nochmals bitte ich Sie mich nicht abzuweissen, sondern so gütig zu sein wie Sie es bisher immer für mich gewesen sind. Nicht ist es Neugirde die mich drängt, sondern ich möchte Ihre Meinung nur wissen um mich nach derselben vollständig zu richten, denn in dieser Angelegenheit kann ich Ihnen nur allein glauben.
Nochmals meinen besten Dank für Ihre Güte, und mit der flehenden Bitte mir zu antworten bin ich mit größter Verehrung
Ihr ehrfurchtsvoll ergebener. N. Mengden“ (Quelle)
Antwortbrief von Darwin
Der sehr klare und eindeutigen Antwortbrief von Darwins eigener Hand vom 5. Juni 1879 nun war es, den Haeckel in seiner Rede in einer eigenen Übersetzung verlas: „Wissenschaft hat mit Christus nichts zu tun, ausgenommen insofern, als die Gewöhnung an wissenschaftliche Forschung einen Mann vorsichtig macht, Beweise anzuerkennen. Was mich selbst betrifft, so glaube ich nicht, dass jemals irgend eine Art Offenbarung stattgefunden hat. In Betreff aber eines zukünftigen Lebens muss jedermann für sich selbst die Entscheidung treffen zwischen widersprechenden unbestimmten Wahrscheinlichkeiten.“
Im Original lautete der Brief:
“Dear Sir! I am much engaged, an old man and out of health, and I cannot spare to answer Your question fully – provided it can be answered. Science has nothing to do with Christ, except in so far as the habit of scientific research makes a man cautious in admitting evidence. For myself, I do not believe that there ever has been any revelation. As for a future life, every man must judge for himself between conflicting vague probabilities.
Wishing you happiness, I remain, dear Sir,
Yours faithfully
Charles Darwin“ (zitiert nach Fußnote 17 in Haeckel 1882).
Mit Ausnahme zweier Zeitungen nahm die Englische Presse damals wohl kaum Notiz von diesem Brief; vor allen vermied es wohl „Nature“ an dem Bild durch die Veröffentlichung dieser Aussage zu rütteln. „Nature“ publizierte zwar in der Ausgabe vom 28.9. (also 10 Tage nach Haeckels Rede seinen Text, ging aber auf den Brief Darwins nicht ein.
Der streitbare Dozent für Biologie, Sozialist und Verbreiter der Darwinschen Ideen zur Evolution Edward Bibbins Aveling (1849-1898) schrieb Haeckel einen erbosten Brief, in dem er dieses mitteilte und kommentierte. „Wäre der Brief unseres heimgegangenen Lehrers zugunsten der Kirchen-Religion geschrieben gewesen, so würde hingegen die erwähnte Zeitung nicht die geringste Rücksicht auf die Ansichten der freidenkenden und wissenschaftlichen Welt genommen und den Brief vollständig wiedergegeben haben.“
Der kämpferische Haeckel setzt mit starken Worten am 10. Oktober noch einen drauf: „Aus diesem Brief ergiebt sich, bis zu welchem Grade selbst noch in dem ‚freien‘ Groß-Britannien der freie Gedanke und die Wahrheits-Forschung von dem festgesetzten Terrorismus der socialen und religiösen Vorurtheile unterdrückt wird. Wir sind gewohnt, England als Hort politischer Freiheit zu preisen. Vergessen wir aber nicht, dass diese theuer erkauft wird durch die Unterwerfung unter einen gesellschaftlichen und kirchlichen Zwang, den wir Deutschen schon seit langer Zeit glücklich überwunden haben.“ (Haeckel 1882: 64; in einer Nachschrift).
Die Wellen schlugen bis nach Brasilien: Dort in Blumenau nahm der kämpferische Früh-Darwinist und überragende Biologie Fritz Müller dies alles zur Kenntnis und kommentierte in seinem Brief vom 12.1.1883: „Mit wahrer Herzensfreude habe ich Ihre Eisenacher Rede gelesen (wenn auch nur in englischer Übersetzung in „Nature“). Ja wir dürfen uns am Grabe Darwin’s sagen schon jetzt der Sieg vollkommen unser ist; es bedarf keines Kampfes mehr gegen die spärlichen Überbleibsel der alten Schule, die uns das heranwachsende Geschlecht nicht mehr abwendig machen können. Sie haben für uns kaum mehr ein anderes als ein pathologisches-Interesse. … Den Brief Darwin‘s dessen Veröffentlichung, wie ich höre, man Ihnen so übel genommen hat, las ich in portugiesischer Übersetzung in einer hiesigen Zeitung; ich fing an, an dessen Ächtheit zu zweifeln, weil ich meinte, ‚Nature‘ hätte sonst auch dies zur Kennzeichnung unseres großen Todten so wichtige Schriftstück bringen müssen. - Nun, mit diesem Todtschweigen des Briefes werden die Herren Engländer für kommende Geschlechter ihren großen Landsmann nur noch höher stellen; sein heller freier Geist wird um so lichter strahlen in der hochkirchlichen Nacht seines Vaterlandes.“ (zitiert nach dem Original aus dem Ernst-Haeckel-Archiv der Friedrich-Schiller-Universität in Jena)
Es ist erstaunlich, mit welcher Detailgenauigkeit und Schnelligkeit man sich damals in Südbrasilien über Vorgänge und Ereignisse des intellektuellen und wissenschaftlichen Lebens in Europa informieren konnte.
Angesichts dieses Briefes, der eine christliche Weltsicht dezidiert zurückweist – „keine Offenbarung“ – kann man auch mit dem neuen Buch von Michael Blume "Evolution und Gottesfrage" (Herder 2013) nicht ganz einverstanden sein, in dem Darwin ja als anglikanischer Theologe dargestellt wird, um daraus zu konstruieren, dass Wissenschaft und Glaube keine Widersprüche darstellen würden. Dies gilt vielleicht im Sinne eines deistischen Gottesbildes, nicht jedoch im Sinne des christlichen Glaubens und einer christlichen Gottesvorstellung.
Wie dieser und andere Briefe zeigen, war Darwin bei aller Vorsicht und Zurückhaltung in vielen seiner Äußerungen zu Fragen der Religion und der Rücksicht auf seine gläubige Ehefrau dem christlichen Glauben doch sehr fremd geworden. Er trennte zwar Glauben, Biologie und seine große Theorie; persönlich war seine Position – gelang es einmal, ihn aus der Reserve zu locken – doch recht eindeutig. Und das sollte man nicht verwischen und beschönigen. Sonst ist man – siehe die Stellungnahmen Ernst Haeckels und seiner Freunde und Briefpartner aus England und Brasilien – in den letzten 130 Jahren nicht viel weiter gekommen. Der Brief Darwins an Mengden ist innerhalb des „Darwin Correspondence Projektes“ nicht transkribiert …
Stefan Schneckenburger