Die säkulare Einstellung von Menschen gehört auch zu den Gründen, weshalb Menschen in ihren Heimatländern verfolgt werden und ins Exil gehen müssen. Dieser Fluchtgrund wird jedoch kaum beachtet und der "Abfall vom Glauben" als Fluchtgrund häufig nicht anerkannt. Werner Hager fordert, den Verfolgungsgrund "Säkularität" als Fluchtursache anzuerkennen.
Ruth Birkle: Hallo Werner, vor dem Hintergrund, dass in den letzten Jahren viele Menschen nach Europa fliehen mussten, machst Du auf den Aspekt "Säkularität" als Fluchtgrund aufmerksam. Könntest Du das Problem bitte in einigen Sätzen ausführen?
Werner Hager: In immer mehr Ländern werden säkulare Menschen verfolgt. Diese Verfolgung bildet ein zusammenhängendes Phänomen, umfasst die Verfolgung von Nichtgläubigen, Apostaten sowie Menschen, die sich für politisch säkulare Institutionen und ein säkulares Recht einsetzen.
Diese Verfolgung geht einher mit Menschenrechtsverletzungen, befindet sich aber nicht im Fokus der Menschenrechtspolitik, die häufig auf die Thematisierung der Verfolgung religiöser Gruppen orientiert ist.
Auch die Verfolgungstiefe ist meist nicht vergleichbar, da es hier nicht alleine um Diskriminierung, sondern um unmittelbaren Ausschluss aus den Gemeinwesen und ihren Rechtsvorstellungen handelt, nicht alleine um eine Schlechterstellung.
Was lässt sich machen, um ein stärkeres Bewusstsein für säkulare Menschen zu schaffen?
Es liegt politisch an, den Verfolgungsgrund Säkularität als Fluchtursache anzuerkennen. Eine Schwierigkeit liegt darin, dass fast immer eine Projektion vorliegt. Ob die jeweilige Person sich tatsächlich zum Atheismus entwickelt hat, ist dabei eher unbedeutend. Die vermutete Trennung von bestehenden Traditionen reicht zur Verfolgung bzw. als Legitimation zum Mord häufig aus.
Nicht alleine die Situation in den Herkunftsländern, auch die Fluchtwege und selbst die Unterbringung in den Asylländern findet unter erheblich verschärfter Gefährdung statt. Im Asylprozess wird dann häufig noch verlangt, die Gefährdung nachzuweisen.
Wie sind die konkreten Fluchtursachen zu bekämpften? Wie kann die politische Situation säkularer Menschen im Ausland gestärkt werden?
Politisch muss die Hauptforderung sein, die Situation in den Herkunftsländern zu ändern oder zumindest nicht stillschweigend zu tolerieren. Ein Land, welches beispielsweise die Todesstrafe für Atheisten fordert oder gesellschaftliche Sanktionen hinnimmt, die ein langfristiges Leben Nichtreligiöser in diesem Land unmöglichen machen, kann weder als sicheres Herkunftsland noch als sicheres Urlaubsziel gelten. Auch wenn auf Urlauber Rücksicht genommen würde.
Es scheint jedoch, dass religiöse Konflikte beziehungsweise Auseinandersetzungen zwischen Religionsgruppen in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen haben. Wie siehst Du die Zukunft?
Die immer stärkere Gefährdung Säkularer ist Teil eines Vorgehens gegen Menschen, die sich emanzipieren wollen in einer immer autoritäreren Welt, in der immer größere Regionen sich vom säkularen Recht trennen, Individuen Kollektiven unterordnen und Gemeinschaften sowie Identitäten hoch gehalten werden.
Deswegen bilden sich inzwischen – auch in Deutschland – Gruppen, die dieser Entwicklung entgegensteuern wollen.
Es ist begrüßenswert, dass sich mittlerweile eine Säkulare Flüchtlingsorganisation gegründet hat und beispielsweise der IBKA Forderungen formuliert und der Humanistische Verband Studien über die Verfolgung Säkularer veröffentlicht. Der nächste Schritt ist, säkularen Flüchtlingen eine Stimme zu geben, damit diese über ihre Erfahrungen selbst berichten können und Forderungen stellen. Die bestehende Flüchtlingsaufnahme und ihre politischen Stimmen sind doch meist konfessionell getragen. In Religions-, Integrations- und vor allem Menschenrechts- und Entwicklungspolitik ist es aber wichtig, dass zukünftig ein überparteilicher Konsens besteht, dass dies keine Domäne der Religionsgemeinschaften mehr sein darf, sondern eine Perspektive auf Säkulare nicht fehlen darf.
Bei dem, was Du als säkulare Perspektive beschreibst, fehlt der Bereich von Kunst und Musik? Bietet hier säkulares Denken und Handeln keine Perspektive?
Es stimmt, hier gehört auch der Kulturbetrieb auf den Prüfstand. Auch dieser gehört ja zur Frage, wie eine Gesellschaft sich reproduziert und was sie bewegt. In einer transnationalen Gesellschaft kann wenig vorausgesetzt werden, d.h. die Gesellschaft muss immer wieder entscheiden bzw. streiten, wie sie sich entwickeln will. Wer sich in bestehenden Rollen einrichtet und sich auch – und sei es nur musikalisch – permanent zurückzieht, fällt als produktiver Faktor hierfür aus.
Also ist für Dich Säkularität der Weg zur Vision einer zukünftigen wünschenswerten transnationalen Gesellschaft? Ist dies nicht trotz allem als Vision etwas fade?
Der Zusammenhang der Reproduktion der Gesellschaft mit Säkularität ist, dass letztere eine Zumutung für religiöse Moral darstellt und auch immer dargestellt hat. Eine moderne Gesellschaft muss zeigen, wie wichtig in der Kunst gerade Polemik und Karrikaturen für die Entwicklung der Aufklärung und der heutigen Rechte waren. Auch z.B. Popmusik hat ein wichtigen Einfluss auf das Aufbrechen bestehender Gesellschaftsstrukturen, denn hier können die Menschen etwas erleben, was über die bestehende Vergesellschaft hinaus geht. Die moderne Gesellschaft muss vielleicht überhaupt zeigen, dass die Infragestellung von Allem ihre notwendige Existenzbedingung ist. Momentan setzt sie hingegen stattdessen auf Identitätsdiskurse.
Von der faden Vision zur Praxis: Mit welchen Akteuren lässt sich das Thema Fluchtgrund Säkularität verankern?
Ich denke, gerade die Themen LGBT, Frauenorganisationen, Gewerkschaften sowie Jugend- und Studentenorganisationen sind hier die treibende Kraft. Weltweit schreiben immer mehr Blogger und Bloggerinnen, deren Kosmopolitismus sie zum Widerstand gegen repressive Verhältnisse drängt. Es wäre wichtig, wenn die Netzszene diese Themen stärker aufmacht. Ihre Publikationen und Kongresse erreichen viel mehr Menschen als die schwerpunktmäßig säkularen Organisationen. Die Parteien sind hier weder in Deutschland noch anderswo Vorkämpferinnen gegen bspw. Blasphemiegesetze, werden aber auf gesellschaftlichen Druck reagieren. Politik arbeitet aber immer mit sozialer Bewegung und umzusetzenden Konzepten.
Tatsächlich ist das Thema Säkularität für mich primär ein rational-politisches. Auch wenn die Bewegung ein Thema in die öffentliche Debatte befördern kann: eine tatsächliche Änderung wird auch nicht ohne die Unterstützung religiöser Menschen gehen. Bei breiten Debatten über den Gesellschaftsvertrag ist es auch notwendig, erst einmal mit allen zu reden und tatsächlich allen Menschen – unabhängig von ihren politischen oder religiösen Bekenntnissen – die Chance zu geben, auf die Argumente zu reagieren. Diese Gesellschaft antizipiert und moralisiert zu viel und argumentiert zu wenig. Gerade als Säkulare sollten wir – neben den auch einfach ungeheuer sympathischen Biografien der säkularen Exilanten – auf das Gewicht von Argumenten setzen.
Was können wir praktisch tun?
Uns politisch dafür einsetzen, die Kooperation mit Herrschaftssystemen wie Saudi-Arabien und dem Iran laut kritisieren, säkulare Flüchtlinge nicht alleine lassen, weder während ihrer Flucht noch bei ihrer Tätigkeit im Exil. Diese in die politischen Strukturen in Deutschland einbinden und ihnen die Möglichkeit geben, ihre Geschichte zu erzählen, zu Kongressen zu fahren und sich zu vernetzen. Und keinen Zweifel daran zu lassen, dass es ein Unding ist, dass dieselben Fluchtursachen - wie faktische Blasphemiegesetze, Elternrechte, Kommunitarismen und religiöses Sonderrecht - auch in Deutschland existieren und von starken politischen Kräften verteidigt werden.
Zudem sollten wir in den Parteien und Verwaltungen überall die säkulare Perspektive einfordern.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Politikwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin Ruth Birkle ist Mitglied im Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) sowie Sprecherin der "Säkularen Grünen" in Baden-Württemberg
Werner Hager ist ebenfalls im IBKA und maßgeblich am Aufbau des "Secular Movement in Exile" beteiligt. Er bereitet derzeit einen Kongress zu dem Thema vor.
2 Kommentare
Kommentare
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Das ist ein von der christlich-abendländischen Politik (bewusst?) verpenntes Thema. Menschen aus mehrheitlich islamischen Ländern werden bei uns als Muslime gerechnet und die Flüchtlinge gleich mit.
Bei rechten Populisten ist es letztlich sogar egal, ob ein Flüchtling muslimisch-bekennend oder säkular eingestellt ist. Beides ist dem rechten Krakeeler ein Dorn im Auge. Der wünscht sich eine konservative, traditionelle, christliche Gesellschaft mit Biodeutschen.
Leider haben sich die etablierten Parteien - allen voran die CSU - in großen Teilen diesem Trend angepasst. Eine unreligiöse, wahrhaftig säkulare Gesellschaft (mit "Religion" als Privathobby) hat keine der großen Parteien mehr im Programm. Es wird ein bisschen herumgedoktert, hier ein Schräubchen gelockert - zumindest wenn der gesellschaftliche Druck ausreichend groß geworden ist. Grundlegendes wird nicht angegangen.
Dabei ist es eine Binse, dass wir in einer globalisierten Welten die Beschichtung einer Gesellschaft mit diametral einander ausschließenden Konzepten nicht länger aushalten können. Wenn man Christentum, Judentum und Islam (um nur drei Beispiele herauszupicken) gleichrangig gesellschaftlich verankert (durch Sondergesetze, Sonderregeln, Privilegien etc.), dann kann es - nicht unbedingt auf der Ebene des Klerus, aber auf der der Gläubigen - zu Verwerfungen kommen, zu sozialem Stress, der in wechselseitigen Ausgrenzungen und evtl. sogar Gewalt ausartet. Allein über die Frage 'Wer war Jesus?' wird es zwischen diesen drei Gruppen nie Konsens geben.
Also MUSS der moderne Rechtsstaat - als den sich Deutschland sieht - absolut säkular werden. Sämtliche Staatsorgane, die gesamte Bildung, das Krankenhauswesen, Flüchtlingshilfe etc. müssen kultur- und religionsneutral werden. Da es keine neutrale Religion gibt, bedeutet dies für den Rechtsstaat, dass er religionslos agieren muss, um allen Bürgern vergleichbare Chance einzuräumen.
Gleich gilt für die Außenpolitik, welche die Länder, die aus kulturellen oder religiösen Gründen ihre Bürger verfolgen, als nicht menschenrechtskonform titulieren sollte. Wirtschaftliche, gar militärische Beziehungen mit diesen Ländern müssen auf den Prüfstand. Nur so gewinnen wir Glaubwürdigkeit, wenn wir nach außen und innen agieren.
Flüchtlinge sind in erster Linie Menschen, die einen persönlichen Fluchtgrund haben. Wir sollten sie also als Menschen empfangen und ihren Fluchtgrund ernst nehmen. Die Duldung religiöser Gemeindestrukturen gerade muslimisch bekennender Flüchtlinge, in die dann säkulare Flüchtlinge - die oft genug gerade vor diesem Islam geflohen sind - zwangsintegriert werden (mit der Folge oft dramatischer Repressionen), sollte verhindert werden. Dies würde auch die Eingliederung in die Gesellschaft erleichtern, denn Gettobildung hat selten Gutes bewirkt.
Die Botschaft müsste also sein: Deutschland ist ein säkulares Land ohne religiöse Sondergesetze oder Sonderbehandlung. Jeder darf seine Religion als Privathobby betreiben, auch gerne organisiert, aber außerhalb der staatlichen Einrichtungen. Hier darf jeder jede Meinung offen und öffentlich vertreten, niemand darf deswegen diskriminiert werden. Nur so kann der Rechtsfrieden garantiert werden. Und nicht etwa, indem man die Kritiker der Religionen an den Pranger stellt - in dem Sinne, ihre Kritik sei Grund für die Störung des Rechtsfriedens durch Gläubige.
Allein aus diesem Grund ist der "Blasphemie-§" kontraproduktiv. Würde er nicht mehr existieren, wäre jede Gewalt wegen angeblicher religiöser Beleidigung nichts als Landfriedenbruch, der entsprechend geahndet wird. Nicht einmal mehr religiöse Beleidigung gäbe es dann noch, solange die Kritik selbst nicht beleidigend formuliert ist. Also nicht in der Art, wie Luther dies weiland tat, als er Juden und Muslime auf das übelste beschimpfte. Wir sollten heute in unserer Kritik sachlicher und gerechter sein als er - und vor allem säkular...
angelika richter am Permanenter Link
Es ist eine unterstützenswerte Sache, einen Teil der hoffentlich in naher Zukunft ausgehandelten festen Kontingente für Flüchtlingshilfe durch (temporäre) Aufnahme in Europa für aufgrund ihrer Säkularität Verfolgte zu
In der aktuellen Situation führte die Erklärung zweifellos deutlicher gesellschaftlicher Missstände wie Diskriminierung von Homosexuellen, Säkularen, Frauen usw zu Fluchtgründen zu einer Überforderung der aufnehmenden Länder, die die Interessen der Ansässigen missachtet.