Dass Religion an Einfluss verliert, zeigt sich in Deutschland daran, dass mittlerweile weniger als die Hälfte der Bevölkerung einer der beiden großen christlichen Kirchen angehört. Dieser gesellschaftliche Prozess hat viele Facetten und wird seit der Aufklärung von einem philosophischen Diskurs begleitet. Andreas Becke hat sich die wichtigsten an dieser Debatte beteiligten Denker vorgenommen und ihre Positionen in seinem Buch "Der philosophische Diskurs der Säkularisierung" zusammengefasst. Der hpd sprach mit dem Autor über den Mythos, dass früher alle Menschen religiös gewesen seien, die vermeintliche Wiederkehr der Religion und die postsäkulare Gesellschaft.
hpd: Im Vorwort schreiben Sie, dass Religion eine größere gesellschaftliche Sprengkraft besitzt als Kunst. Warum ist das eigentlich so? Kunst nimmt doch seit mindestens 250 Jahren für sich in Anspruch, Gesellschaft zu verändern ...
Andreas Becke: Kunst will die Selbstauffassung der Gesellschaft verändern, auf Missstände aufmerksam machen und zu Verbesserungen anregen. Kunst will etwas verändern, aber nicht alles dominieren. Religion beansprucht die Deutungshoheit in allen Fragen. Religion will Gesetze machen, Werte und Normen bestimmen und herrschen.
Was bedeutet "Säkularisierung" denn im philosophischen Diskurs? Dasselbe wie in der Alltagssprache?
Säkularisierung ist in der Philosophie ein Emanzipationsprozess. Wörtlich bedeutet Säkularisierung "Verweltlichung". Im philosophischen Diskurs ist damit weniger der Rückgang von Religion gemeint als vielmehr die Trennung von Politik und Religion.
Für Marx etwa darf sich ein Staat nicht zu einer Religion bekennen, weil Kritik an Politik und Gesellschaft dann sofort zur Blasphemie werde und ein Staat nur dann ein freier Staat sei, wenn es keine Staatsreligion gebe. Im 20. Jahrhundert wird dann Säkularisierung mit Max Weber vor allem als "Entzauberung der Welt" verstanden. Damit ist ein Prozess der Rationalisierung gemeint, der Aberglaube, Magie und Religion durch Wissenschaft ersetzt.
Heute leben wir in einer globalisierten Gesellschaft, in der es nicht nur eine Religion gibt, sowie Menschen, die mit Religion nichts am Hut haben. Wir haben es in unserer unmittelbaren Umgebung nicht mehr mit einer Religion zu tun, sondern mit verschiedenen Religionsgemeinschaften und unterschiedlichsten Weltanschauungen. Die religiösen wie säkularen Bürger müssen sich laut Habermas mit vernünftigen Gründen über ihre unterschiedlichen Interessen verständigen, wenn sie ihr Zusammenleben demokratisch regeln wollen.
Seit welcher Zeit kann von einem "Säkularisierungsdiskurs" in der Philosophie gesprochen werden?
Dass alle Menschen im Mittelalter religiös gewesen seien, ist von Novalis bis Charles Taylor ein Fantasieprodukt derer, die sich mit Säkularisierung schwertun. Ob früher alle Menschen religiös waren, wissen wir nicht, weil es darüber keine Aufzeichnungen gibt. Die Tatsache jedoch, dass es antike Texte gibt, die religiöse Vorstellungen ablehnen oder agnostisch damit umgehen, zeigt jedoch, dass vermutlich niemals alle Menschen fromm waren. Aber wann beginnt die Aufklärung? Mit Sokrates? In der Moderne hängen Säkularisierung und Aufklärung eng zusammen. Den philosophischen Diskurs der Säkularisierung würde ich spätestens mit Hobbes ansetzen, ohne dass zunächst der Begriff vorkommt. Der Säkularisierungsbegriff entsteht ja erst nach dem Dreißigjährigen Krieg; auch Hegel spricht noch von "Verweltlichung".
Hat sich die Funktion von Säkularisierungsprozessen für die Gesellschaft vom 17. Jahrhundert bis heute denn verändert?
Mit dem Verb "säkularisieren" war nach dem Westfälischen Frieden gemeint, materiellen Besitz der Kirche zu enteignen und zu verweltlichen, das heißt in weltliche Hände zu übergeben, was auch als "Säkularisation" bezeichnet wird. "Säkularisierung" wurde dann zu einem Begriff, der bedeutet, der Religion Einflussnahme, Macht- und Herrschaftsbereiche zu entziehen und sie der Politik zu übergeben. In diesem Sinn entspricht Säkularisierung einem Demokratisierungsprozess. Damit ist also nicht unbedingt ein Rückgang von Religion gemeint.
Die klassische Säkularisierungstheorie hat vorausgesetzt, dass der Rückgang des Einflusses von Religion einhergeht mit sozialer Modernisierung. Wird das heute auch noch so gesehen?
Da gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die einen halten einen Rückgang von Religion vor allem weltweit gesehen für empirisch nicht belegbar, und mit steigenden Geburtenraten gibt es faktisch immer mehr Menschen, die einer Religion angehören. Andere sehen im Zuge einer weltweit weiter voranschreitenden Aufklärung und Modernisierung auch einen Anstieg der Zahl an Menschen, die nicht religiös gebunden sind. Verbesserte Lebensbedingungen und höhere Bildung würden dazu führen, dass die Menschen weniger an religiöse Inhalte glauben. Dazu trägt sicherlich auch die zunehmende Verbreitung wissenschaftlichen Wissens bei. Die These, dass Modernisierung zum Bedeutungsverlust von Religion führt, lässt sich inzwischen auch empirisch bestätigen. Von einer "Wiederkehr der Religionen" kann also keine Rede sein.
Was ist dann darunter zu verstehen, wenn Habermas und andere von einer "postsäkularen Gesellschaft" sprechen?
Das ist zunächst ein missverständlicher Begriff, denn man könnte denken, Habermas meint damit, dass die Säkularisierung zu Ende sei. Habermas will aber mit dem umstrittenen Begriff einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel bezeichnen, der nicht mehr von einem Rückgang oder gar völligem Verschwinden von Religion ausgeht, was er "säkularistisch" nennt, sondern vom Fortbestehen der Religion in der modernen Gesellschaft. Gemeint ist also eine "postsäkularistische" Gesellschaft, die sich weiter säkularisiert. Laut Habermas verweist sein Prädikat auf ein verändertes Selbstverständnis und bezieht sich auf eine mentalitätsgeschichtliche Zäsur in weitgehend säkularisierten Gesellschaften, nämlich der Erkenntnis, dass Religion auch in modernen Gesellschaften erhalten bleibt und nicht verschwindet.
Sind die Zielsetzungen des Laizismus oder eines kämpferischen Säkularismus vergleichbar mit denen einer Religion? Oder anders formuliert: Braucht der Laizismus ein der Säkularisierung entsprechendes Korrektiv, um nicht zu einer "Religion" zu werden?
Begrifflich muss man zwischen Säkularisierung als gesellschaftlichem Prozess und Säkularismus als Weltanschauung unterscheiden. Man könnte sagen, dass Atheismus letztlich auch ein Glaube ist, der Glaube, dass es keinen Gott gibt. Der Säkularismus geht von der Immanenz aus und bestreitet, dass es ein Jenseits gibt. Philosophisch und wissenschaftlich würde ich von einer agnostischen oder skeptischen Position ausgehen: über Gott und Jenseits kann ich nichts wissen oder aussagen. So wie ich Laizismus und Säkularisierung verstehe, ist das ein gesellschaftspolitischer Prozess, der sich nicht gegen Religion richtet, sondern die Entflechtung und Entkoppelung von Staat und Kirche bedeutet. Wenn der säkulare Staat dadurch Religionsfreiheit gewährleistet, ist das durchaus im Interesse von Religion. Ich halte es aber für legitim, unter Religionsfreiheit auch zu verstehen, nicht durch Religion belästigt werden zu wollen. Außerdem ist Säkularisierung etwas anderes als Religionskritik. Doch auch Atheismus und Säkularismus berufen sich, soweit ich sehe, auf die Vernunft. Das wäre ja dann das entsprechende Korrektiv.
Im Buch werden (abgesehen von dem Kanadier Charles Taylor) ausschließlich europäische Philosophen behandelt. Hatte das arbeitsökonomische Gründe oder wird der Diskurs der Säkularisierung außerhalb Europas nicht geführt?
Zum einen ist Philosophie als Nachdenken über Vernunft und Freiheit seit der Antike ein europäisches Phänomen, zum anderen ist Säkularisierung als Folge des Dreißigjährigen Krieges ein europäisches Thema. Ein weltweiter philosophischer Diskurs ist ja noch jung. Wenn ich den philosophischen Diskurs seit der Aufklärung nachzeichne, schreibe ich über europäische Philosophie. Beim Schreiben ist mir sogar aufgefallen, dass der philosophische Säkularisierungsdiskurs hauptsächlich ein deutscher Diskurs zu sein scheint: die weitaus größere Zahl der Autoren, die ich referiere, schreibt auf Deutsch. Säkularisierung ist aber auch ein soziologisches und politisches Thema. Ich habe ja nur den philosophischen Diskurs untersucht.
Zum Schluss der Blick in die Glaskugel: Wird die Säkularisierung in 50 Jahren eher positiv oder eher negativ bewertet werden? In welche Richtung bewegt sich hier gerade der Diskurs?
Im philosophischen Diskurs der Säkularisierung hat es sich als vernünftig erwiesen, Politik und Religion zu trennen. In der Weltgeschichte geht es aber, anders als Hegel meinte, durchaus nicht vernünftig zu. Im philosophischen Diskurs wurde Säkularisierung wie Aufklärung natürlich positiv verstanden, sie führen zu mehr Freiheit und Verantwortung. Wenn nicht gerade die Taliban die Weltherrschaft übernehmen, wird das wohl auch so bleiben. In Deutschland sind seit diesem Jahr mit knapp unter 50 Prozent zum ersten Mal die Kirchenmitglieder eine Minderheit, und sogar in den USA bezeichnen sich zunehmend weniger Menschen als gottgläubig. Dieser langanhaltende Trend wird sich auch in Zukunft nicht einfach umkehren.
Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.
Andreas Becke: Der philosophische Diskurs der Säkularisierung. Aschaffenburg 2022, Alibri Verlag, 143 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-86569-357-0, 15,00 Euro
8 Kommentare
Kommentare
Inseljunge am Permanenter Link
"Man könnte sagen, dass Atheismus letztlich auch ein Glaube ist, der Glaube, dass es keinen Gott gibt."
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Es gibt tausend Gründe warum es keinen Gott geben kann, das liegt in der Logik der Thematik.
welche einem bestimmten Zweck dient, nämlich, Macht über die gläubigen Menschen zu generieren und unendliche Reichtümer anzuhäufen.
Um diesen Aberglauben an eine erfundene Gottheit aufrecht zu erhalten ist den Verkündern
dieser Legende jedes Mittel recht.
Dabei werden die Ängste der Menschen vor dem Leben, sowie vor dem Tod, benutzt um diese gefügig zu halten und zu unterdrücken.
Der größte Feind der Religionen (man beachte den Plural) ist der aufgeklärte und selbstbewusste Mensch.
Das selbe Prinzip gilt auch größtenteils für die Politik, besonders in einer Autokratie.
A.S. am Permanenter Link
Es gibt zwei Arten von Atheismus.
1.) "Es gibt keinen Gott." Ohne Negativbeweis ist diese Behauptung gewagt.
Sie brauchen mir 2.) nicht zu glauben. Sie brauchen nur mal einen kritischen Blick auf die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften werfen. Dann werden Sie selber erkennen: Lauter eingebildete Blender und Hochstapler, Meister einlullender Worte - und eine Gefolgschaft von verblendeten Dummköpfen. Reinhard Marx ist ein Blender, Heinrich Bedford-Strom ist ein Blender, Baghwan (Transzendentale Meditation) war ein Blender, Paul Schäfer (Colonia Dignidad) war ein Blender, L. Ron Hubbard (Scientology) war ein Blender, ... . Und der Stamm steht bekanntlich nicht weit vom faulen Apfel.
Christian Nentwig am Permanenter Link
Natürlich kann man das sagen. Ich bin mir aber ziemlich sich, dass sie jemand, der sich ausdrücklich als Atheist versteht, mit hoher Sicherheit davon überzeugt ist, dass es keinen Gott/Schöpfer der Welt gibt.
Die Sicherheit, dass es keinen Gott gibt, wird 99,9... unendliche Periode sein und die, dass es Gott gibt 0,00000-unendliche Periode-1 sein.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ich glaube nicht.
Ingeborg am Permanenter Link
.... die Gewissheit, dass es keinen Gott gibt -------denn Glaube heißt: "Nicht wissen wollen, was wahr ist".
Viele Grüsse!
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ein absolut positiver Trend, leider steht in einem anderen Artikel, dass sich Berlin für einen Staatsvertrag mit dem Vatikan entschlossen hat, dies ist mir unverständlich, da es der notwendigen Trennung von Staat und
Was haben sich die Politiker in Berlin dabei gedacht, diesen Schurkenstaat Vatikan, der Verbrecher deckt und Tausende von Milliarden Vermögen mit Verbrechen angehäuft hat,
zu unterstützen?
Hat Berlin noch nicht erkannt, dass das Zeitalter der kirchlichen Macht und das ermorden von Ungläubigen, sowie das verbrennen von Hexen und anderen missliebigen Menschen vorüber ist.
Marias am Permanenter Link
„Zum einen ist Philosophie als Nachdenken über Vernunft und Freiheit seit der Antike ein europäisches Phänomen, zum anderen ist Säkularisierung als Folge des Dreißigjährigen Krieges ein europäisches Thema.
Das ist ja eine sehr voraussetzungsvolle These, für die hier zudem auch Belege fehlen. Es wäre eine Sache, zu untersuchen, ob „Vernunft“ und „Freiheit“ Begriffe sind, die spezifisch europäisch geprägt sind und in anderen Kukturen keine so große Tradition haben. Es ist aber etwas anderes, zu bestreiten, wie hier impliziert, dass sich nichtwestliche Kulturen überhaupt keine Gedanken zu Spiritualität, Kultur, Ethik, Zusammenleben, Handlungsfähigkeit usw. gemacht haben. So eine These halte ich für absurd und nicht haltbar.
Dass viele Auseinandersetzungen mit dem Thema deutschsprachig sind, kann selbstverständlich heißen, dass das Thema im deutschsprachigen europäischen Raum viel verhandelt wird. Aber es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Themen - vielleicht unter anderen Begriffen - in anderen Sprachen bzw. nichteuropäischen Kontexten nicht ähnlich stark oder sogar noch stärker diskutiert, erforscht, reflektiert werden.