Der Esotainment-Check

Wie die meisten Wahrsagerinnen leben

Immerhin geht es ihr besser als den meisten Zunftkolleginnen in Wien.  Es sind überwiegend Romani vom Balkan. Die häufig älteren und gebrechlichen Frauen schleppen sich bei Wind und Wetter von Balkanlokal zu Balkanlokal und hoffen auf Kundschaft. Dort stoßen sie manchmal auf Interessierte, häufig auf offene Ablehnung. Das Verhältnis von Serben, Bosnjaken und Kroaten zu Roma ist höflich formuliert ein unterkühltes. Um nicht zu sagen, dass offener Antiziganismus weit verbreitet ist. Wenn sich niemand aus der Hand lesen lassen will, betteln die Frauen. Wenn es nichts gibt, gehen sie weiter. Vor wenigen Jahren waren die Balkan-Wahrsagerinnen auch auf belebten Plätzen unterwegs und versuchten, Kunden in den Gastgärten zu gewinnen. Das dürfte zuletzt seltener vorgekommen sein.

Zufälligerweise habe ich wenige Stunden vor dem Selbstversuch in einem meiner Stammcafés eine dieser Wahrsagerinnen getroffen. Eine kleine Frau mit Buckel. Sie muss um die 70 sein. Die Frau war kaum eine Minute im Lokal. Neben mir waren nur der Chef und eine Kellnerin da. Keiner der zwei wollte sich aus der Hand lesen lassen. Bei mir versuchte sie es nicht. Der Chef, selbst serbischer Roma, bat sie in bestimmten Worten, das Lokal zu verlassen. Die serbischstämmige Kellnerin hat sich danach etwas über die Wahrsagerinnen ausgelassen. „Aber weißt du“, hat sie mir erzählt, „es ist komisch. Ich glaube überhaupt nicht daran. Aber als ich ihr das letzte Mal kein Geld gegeben habe, hat sie mir gesagt, dir passiert heute was Schlimmes. Und ich hab den ganzen Tag Angst gehabt.“

Gesundheit: Total daneben

„Der Stress kann sich auf Ihre Gesundheit auswirken“, sagt „Madame“ in ihrem Stand in der Lugner City. Was für eine weltbewegende Erkenntnis. Im Moment sei das kaum ein Problem. Dass ich gerade dabei bin, eine Infektionskrankheit auszukurieren, sage ich ihr nicht. Mich wundert, dass sie mir nicht rät, mit dem Rauchen aufzuhören. Das sollte sie an meinen Händen sehen können. „Mit 55 bis 60 werden Sie gesundheitliche Probleme haben, die Sie mit weniger Stress heute schon vermeiden können.“ Wieder mal angewandte Statistik. Genauso wie die Aussagen kurz darauf: „Sie sind ein Mensch, der sich anderen Menschen gegenüber schlecht öffnen kann und sich schwer tut, um Hilfe zu fragen.“ Das wäre eine ganz neue Aussage über Männer. Sie bekräftigt die „Beobachtung“ und formuliert sie neu: „Sie sind ein starker Mann, aber sie trauen sich nicht, sich auszuweinen.“ Honig ums Maul in Verbindung mit Vulgärpsychologie.

Das Hundefutter sieht „Madame“ nicht

„Madame“ hält mich für tierlieb. Da liegt sie mal richtig. Sie hat aus meiner Hand gelesen, dass sie beobachtet hat, dass ich ein grundsätzlich freundlicher Mensch bin (ich war auch ihr gegenüber freundlich) und dass sie weiß, dass Tierliebe in Österreich ein hochgehaltenes Ideal ist. Geben wir ihr einen halben Punkt für Beobachtungsgabe.

Kaum habe ich anerkannt, dass sie halbwegs die Beobachtungsgabe mitbringt, um für unkritische Geister eine mäßig überzeugende Wahrsagerin abzugeben, irritiert sie mich das erste Mal ernsthaft. Ich warte, dass sie mir aus der Hand liest, dass ich einen Hund habe. Allein, sie scheint das Trockenfutter im Einkaufssackerl nicht gesehen zu haben. Ist es zu blickdicht? Oder hat sie nur nicht genau hingesehen? Ich bin enttäuscht.

Was sind Glücksfarben?

Zum Schluss erfahre ich etwas über meine Glückszahlen. Zwischen eins und zehn sind nur zwei, vier, fünf und neun nicht dabei. Oder war's acht? Auch egal. Meine Glücksfarben sind Grün, Weiß und Schwarz. Gut zu wissen, nur hab ich keine Ahnung, was das heißen soll. Vielleicht setzt „Madame“ es als gegeben voraus, dass jeder weiß, was Glücksfarben sein sollen. Dann murmelt sie irgendetwas von Frühling und hört abrupt auf. Die Sitzung ist vorbei. Sie hat keine fünf Minuten gedauert.

Enttäuschende Erfahrung

Ich gebe ihr die zehn Euro. Ich habe ein wenig erfahren können, wie Wahrsagerinnen arbeiten. Ich hätte mir nur gewünscht, dass es etwas herausfordernder gewesen wäre. Sie hat mich kein einziges Mal auch nur halbwegs mit ihrer Beobachtungsgabe verblüfft. Überraschender war, was an Offensichtlichem ihr nicht aufgefallen ist. Ist „Madame“ eingerostet? Oder ist ihre Beobachtungsgabe so gut, dass sie von Anfang an durchschaut hat, dass ich sie nur aushorchen wollte und sie sich schlicht nicht mehr angestrengt hat? Egal. Es war selbst für einen in die Wolle gefärbten Skeptiker wie mich eine enttäuschende Erfahrung. Umso größer wird mir das Rätsel, wie auch nur irgendjemand auf Wahrsager(innen) hereinfallen kann. Das passiert leider häufig.
 

Unklar ist auch, warum die Lugner City zum zweiten Mal innerhalb von acht Tagen ihre Pforten dem Irrationalen öffnete.

Christoph Baumgarten