Der Esotainment-Check

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Wien, Lugner City / Foto: Christoph Baumgarten

WIEN. (hpd) Eine Wahrsagerin macht im Einkaufszentrum Halt, baut ein Tischchen mit zwei Sesseln auf und hofft auf zahlende Kundschaft. hpd-Österreich-Korrespondent Christoph Baumgarten lässt sich auf einen Selbstversuch ein.

Der kleine Stand steht direkt an der Galerie, gegenüber dem einzigen Aufzug im Zentrum der Wiener Lugner City. Ein Tischchen mit grün-samtenen Tischtuch, zwei Sessel. Eine Stoffbahn mit ausgespartem Eingang drumherhum. Ein Deck Tarot-Karten und eine überdimensionierte Leselupe sind die einzigen Deko-Stücke auf dem Tischchen. Sehr ansprechend wirkt der Stand nicht. Das macht die etwas klischeehafte Kleidung der Inhaberin wett. Weite Kleidung, vor allem Ärmel, wie eine Jahrmarkt-Handleserin, passendes Kopftuch dazu, Grüntöne überwiegen. Eine Kristallkugel gibt es  - leider – nicht. So viel Klischee muss offenbar doch nicht sein.

Politiker, Aristokraten und Schauspieler

Die Selbstbeschreibung der Frau, Ende 60, liest sich beeindruckend. Deutsche Film- und Fernsehstars hat sie beraten. Die „österreichische Aristokratie“ (die es seit 1918 nicht mehr gibt) zählt zur Kundschaft, vor allem ein oder mehrere „Enkel des letzten österreichischen Kaisers“, liest man auf einer kleinen Tafel, die neben dem Stand aufgestellt wurde. Politiker sowieso, darunter gibt es eine Wahrsagerin nicht, die seit den 70-er-Jahren im Gewerbe sein will. Auch Christine Lugner wird genannt, die Ex-Frau von Richard Lugner. Er bzw. eine seiner Gesellschaften besitzt das gleichnamige Einkaufszentrum. Alle, so sagt sie, loben ihre Genauigkeit.

Ich beschließe, das zu überprüfen. Nach dem Einkauf versteht sich. Ich will es der „Madame“, so ihr selbst gewählter Titel, etwas einfacher machen. Vielleicht hilft ihr ein Blick in meine Einkaufssackerl (österr. für Einkaufstüte, Anm.) etwas über mich zu erfahren, dass sie aus meiner Hand lesen kann. Außerdem hätte ich sonst warten müssen. Eine Frau, Mitte 50, hat gerade eine „Sitzung“ bei „Madame“.

Als ich zurückkomme, benötigt offenbar niemand die Dienste der Frau. Dutzende Menschen gehen achtlos vorüber. Es ist Samstagnachmittag. Die Kundenfrequenz im Einkaufszentrum ist hoch. Dass der Stand jetzt leer ist, überrascht ein wenig. Der Anteil an türkischen und balkanstämmigen Migranten in dieser Gegend ist hoch. Sie sind im Regelfall deutlich ansprechbarer für diese Form des Esotainments als Menschen ohne Migrationshintergrund. Ob es daran liegt, dass Handlesen und Tarot (noch) mehr dem dortigen kulturellen Aberglauben entsprechen als dem „hiesigen“ oder schlicht daran, dass solche Praktiken in der Türkei und am Balkan auch als Form der Unterhaltung akzeptabler sind als es im westlichen Mitteleuropa der Fall ist, ist schwer zu sagen  (wobei Handlesen sich hierzulande unabhängig von kulturellem Hintergrund einer gewissen Akzeptanz zu erfreuen scheint, wie dieses Beispiel zeigt).

Freiwillige Spenden mit Fixtarifen

Ich halte zunächst Ausschau nach einer Preisliste. Nichts zu finden. Brauchbare Erläuterungen zu den Praktiken, die „Madame“ anbietet, suche ich auch vergeblich. „Haben Sie eine Preisliste“, frage ich mit dem freundlichsten Lächeln, dessen ich gegenüber Jemanden, die ich für eine Betrügerin halte, fähig bin. „Nein, das richtet sich danach, wie lange die Sitzung dauert und was sich ein Kunde leisten kann. Das ist auf Spendenbasis.“ Der ungarische Akzent ist nicht zu überhören. Er klingt authentisch – und doch fast zu deutlich, um echt zu sein. Keine Ahnung, ob sie Ungarin ist oder sehr überzeugend eine spielt, um das Klischee der „Zigeuner“-Wahrsagerin zu bedienen. Ich werde es nicht herausfinden. „Ich möchte gerne einmal aus der Hand gelesen bekommen.“ „Das kostet zehn Euro“. Wie war das mit Spenden und Leistbarkeit?

„Handlesen“ durch die Leselupe

„Madame“ überrascht mich ein wenig. Sie berührt meine Hände nicht. Das hätte ich, ganz im Klischee denkend, eigentlich erwartet. Ich soll sie nur, Handfläche nach oben, auf das Tischtuch legen. „Madame“ betrachtet sie durch die überdimensionierte Leselupe. „Wie alt sind Sie?“ Ich antworte wahrheitsgemäß. „Madame“ beginnt beinahe stakkatoartig zu reden. Sie sieht so gut wie nie auf, um mein Gesicht zu beobachten, wenn ich eine Antwort gebe. Vermutlich sieht sie mein gelegentliches Nicken aus den Augenwinkeln. Möglicherweise beobachtet sie auch Spiegelungen im Glas der Leselupe. Ich kann von meiner Position aus nicht erkennen, ob sich mein Gesicht dort spiegelt. Auch der Tonfall meines seltenen Murmelns, meistens absichtlich zustimmend, wird ihr das eine oder andere verraten. Nicht zu vergessen die Hände selbst, die das eine oder andere Mal unwillkürlich leicht zucken werden. Es bedarf einiger Kenntnis um diese nonverbalen Signale zu interpretieren. Das ist sozusagen Geschäftsgrundlage von „Madame“.

„Sie sind ein sehr interessierter und skeptischer Mensch“, sagt sie mir. Welche Einsicht über einen Menschen, der vorher alle Tafeln gelesen hat, die sie aufgestellt hat und sie gleich zu Beginn nach einer Preisliste gefragt hat. Ihr ist klar, dass ich kein „Gläubiger“ bin sondern lediglich neugierig. Sie macht aus der Not eine Tugend. „Ihr kritisches Interesse ist sehr positiv“. Vielleicht billig aber keine schlechte Idee, dem bloß neugierigen Laufkunden etwas Honig ums Maul zu schmieren. Wer lässt sich nicht gern schmeicheln? Es geht eine Zeitlang dahin mit Allgemeinem, das kaum zuordenbar ist. Kaum überraschend ist das erste Thema, dem sie sich etwas eingehender widmet: mein Liebesleben.

Liebe: Total daneben

Meine Beziehung sei harmonisch, stellt „Madame“ fest. Geben wir ihr hier einen halben Punkt für Beobachtungsgabe. Dass ich keinen Ehering trage, ist offensichtlich. Das erklärt die Wortwahl „Beziehung“ statt „Ehe“. Der Rest ergibt sich daraus, dass die meisten Männer in meinem Alter in einer längerfristigen Beziehung leben. Ein gewisses Maß an Harmonie kann man da voraussetzen. Simple Statistik. In meinem Fall leider etwas daneben. Ich bin Single. Ich nicke nur und korrigiere „Madame“ nicht.

Wer sieht sich nicht als zielstrebig und erfolgreich?

In meinen Beruf bin ich erfolgreich und ich bin zielstrebig, erfahre ich über mich. Das will jeder hören und niemand würde dem widersprechen. Noch weniger ihrer Feststellung, mit mir werde es beruflich bald bergauf gehen, eine berufliche Veränderung, die mich vorwärts bringen werde.  In der Wissenschaft nennt man das den Barnum-Effekt. Etwas umständlich erklärt „Madame“, dass ich Kopfarbeiter bin. Auch keine epochale Erkenntnis. Dass ich nicht mit meinen Händen arbeite, wäre auch ohne Leselupe offensichtlich. Ich sei sehr fleißig, meint sie und würde vielleicht manchmal zu viel Stress haben. Die Anzahl der Menschen, die diese Aussage von „Madame“ nicht auf sich beziehen, wird sich in sehr überschaubarem Rahmen bewegen. Für Überraschung sorgt Ihre Aussage: „Sie sind technisch sehr begabt, mit Ihren Händen können Sie an Maschinen und technischen Dingen etwas weiterbringen.“ „Mhhmmm“. Ich will sie nicht wissen lassen, wie weit sie daneben liegt.

„Madame“ wirkt lustlos

Ihre Sprechgeschwindigkeit bewegt sich an der Grenze der Verständlichkeit. Mag sein, dass sie etwas lustlos ist. Ein kleiner Gastauftritt in einem Einkaufszentrum ist nicht sehr glamourös. Der Umsatz wird sich auch in Grenzen halten. Für eine Wahrsagerin, die laut eigener Darstellung wesentlich bessere Zeiten hinter sich hat, ist das sicher nicht sehr motivierend, unabhängig davon, dass ihre Biografie maßlos übertrieben ist. „Madame“ macht nur kurze Pausen, fragt sehr wenig. Ich gehe davon aus, dass sie mit den Pausen das Gespräch ein wenig lenkt. Wenn sie überraschenderweise einmal zwei Sekunden lang nichts sagt, entsteht Spannung. Die zwingt die Kunden, irgendetwas zu sagen. Meistens etwas, in dem sie etwas über sich preisgeben. Damit kann „Madame“ weiterarbeiten. Einfache Kommunikationspsychologie. Billig aber effektiv.

Die Prozedur wirkt nicht sonderlich beeindruckend. Das liegt an „Madames“ Lustlosigkeit. Auch das Ambiente eines Einkaufszentrums ist nicht günstig für ihr Anliegen. Eine mystische Atmosphäre kann sie hier nicht aufbauen. Dazu bräuchte es Ruhe, Dunkelheit und gut platzierte Lichter. Im Vergleich zu einem Jahrmarkt, wo das Ambiente ähnlich umtriebig wäre wie hier, sind die potentiellen Kunden auch nicht in übermäßig ausgelassener Laune. „Madame“ hat's nicht einfach.

Wie die meisten Wahrsagerinnen leben

Immerhin geht es ihr besser als den meisten Zunftkolleginnen in Wien.  Es sind überwiegend Romani vom Balkan. Die häufig älteren und gebrechlichen Frauen schleppen sich bei Wind und Wetter von Balkanlokal zu Balkanlokal und hoffen auf Kundschaft. Dort stoßen sie manchmal auf Interessierte, häufig auf offene Ablehnung. Das Verhältnis von Serben, Bosnjaken und Kroaten zu Roma ist höflich formuliert ein unterkühltes. Um nicht zu sagen, dass offener Antiziganismus weit verbreitet ist. Wenn sich niemand aus der Hand lesen lassen will, betteln die Frauen. Wenn es nichts gibt, gehen sie weiter. Vor wenigen Jahren waren die Balkan-Wahrsagerinnen auch auf belebten Plätzen unterwegs und versuchten, Kunden in den Gastgärten zu gewinnen. Das dürfte zuletzt seltener vorgekommen sein.

Zufälligerweise habe ich wenige Stunden vor dem Selbstversuch in einem meiner Stammcafés eine dieser Wahrsagerinnen getroffen. Eine kleine Frau mit Buckel. Sie muss um die 70 sein. Die Frau war kaum eine Minute im Lokal. Neben mir waren nur der Chef und eine Kellnerin da. Keiner der zwei wollte sich aus der Hand lesen lassen. Bei mir versuchte sie es nicht. Der Chef, selbst serbischer Roma, bat sie in bestimmten Worten, das Lokal zu verlassen. Die serbischstämmige Kellnerin hat sich danach etwas über die Wahrsagerinnen ausgelassen. „Aber weißt du“, hat sie mir erzählt, „es ist komisch. Ich glaube überhaupt nicht daran. Aber als ich ihr das letzte Mal kein Geld gegeben habe, hat sie mir gesagt, dir passiert heute was Schlimmes. Und ich hab den ganzen Tag Angst gehabt.“

Gesundheit: Total daneben

„Der Stress kann sich auf Ihre Gesundheit auswirken“, sagt „Madame“ in ihrem Stand in der Lugner City. Was für eine weltbewegende Erkenntnis. Im Moment sei das kaum ein Problem. Dass ich gerade dabei bin, eine Infektionskrankheit auszukurieren, sage ich ihr nicht. Mich wundert, dass sie mir nicht rät, mit dem Rauchen aufzuhören. Das sollte sie an meinen Händen sehen können. „Mit 55 bis 60 werden Sie gesundheitliche Probleme haben, die Sie mit weniger Stress heute schon vermeiden können.“ Wieder mal angewandte Statistik. Genauso wie die Aussagen kurz darauf: „Sie sind ein Mensch, der sich anderen Menschen gegenüber schlecht öffnen kann und sich schwer tut, um Hilfe zu fragen.“ Das wäre eine ganz neue Aussage über Männer. Sie bekräftigt die „Beobachtung“ und formuliert sie neu: „Sie sind ein starker Mann, aber sie trauen sich nicht, sich auszuweinen.“ Honig ums Maul in Verbindung mit Vulgärpsychologie.

Das Hundefutter sieht „Madame“ nicht

„Madame“ hält mich für tierlieb. Da liegt sie mal richtig. Sie hat aus meiner Hand gelesen, dass sie beobachtet hat, dass ich ein grundsätzlich freundlicher Mensch bin (ich war auch ihr gegenüber freundlich) und dass sie weiß, dass Tierliebe in Österreich ein hochgehaltenes Ideal ist. Geben wir ihr einen halben Punkt für Beobachtungsgabe.

Kaum habe ich anerkannt, dass sie halbwegs die Beobachtungsgabe mitbringt, um für unkritische Geister eine mäßig überzeugende Wahrsagerin abzugeben, irritiert sie mich das erste Mal ernsthaft. Ich warte, dass sie mir aus der Hand liest, dass ich einen Hund habe. Allein, sie scheint das Trockenfutter im Einkaufssackerl nicht gesehen zu haben. Ist es zu blickdicht? Oder hat sie nur nicht genau hingesehen? Ich bin enttäuscht.

Was sind Glücksfarben?

Zum Schluss erfahre ich etwas über meine Glückszahlen. Zwischen eins und zehn sind nur zwei, vier, fünf und neun nicht dabei. Oder war's acht? Auch egal. Meine Glücksfarben sind Grün, Weiß und Schwarz. Gut zu wissen, nur hab ich keine Ahnung, was das heißen soll. Vielleicht setzt „Madame“ es als gegeben voraus, dass jeder weiß, was Glücksfarben sein sollen. Dann murmelt sie irgendetwas von Frühling und hört abrupt auf. Die Sitzung ist vorbei. Sie hat keine fünf Minuten gedauert.

Enttäuschende Erfahrung

Ich gebe ihr die zehn Euro. Ich habe ein wenig erfahren können, wie Wahrsagerinnen arbeiten. Ich hätte mir nur gewünscht, dass es etwas herausfordernder gewesen wäre. Sie hat mich kein einziges Mal auch nur halbwegs mit ihrer Beobachtungsgabe verblüfft. Überraschender war, was an Offensichtlichem ihr nicht aufgefallen ist. Ist „Madame“ eingerostet? Oder ist ihre Beobachtungsgabe so gut, dass sie von Anfang an durchschaut hat, dass ich sie nur aushorchen wollte und sie sich schlicht nicht mehr angestrengt hat? Egal. Es war selbst für einen in die Wolle gefärbten Skeptiker wie mich eine enttäuschende Erfahrung. Umso größer wird mir das Rätsel, wie auch nur irgendjemand auf Wahrsager(innen) hereinfallen kann. Das passiert leider häufig.
 

Unklar ist auch, warum die Lugner City zum zweiten Mal innerhalb von acht Tagen ihre Pforten dem Irrationalen öffnete.

Christoph Baumgarten