Wer ist dieser Franziskus?

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Grabstelle Luigi Giussani auf dem Cimitero Monumentale (Mailand) / Foto: HFrankDM (CC BY-SA 3.0)

ROM. (hpd) Obwohl der Papst nach wie vor keine Divisionen besitzt, quälten sich in der letzten Woche weltweit Hunderttausende Kaffeesatzleser und selbst ernannte Vatikanexperten in allen möglichen Medien mit der Frage: Wie geht es nun weiter mit dem Vatikan?

Schwierige Frage bei einem Chef, der sich angeblich so rührend um die Armen und Schwachen sorgt und zugleich militant gegen Abtreibung und Verhütung als wichtiges Kampfmittel gegen Armut und Krankheit in der dritten Welt eifert.

Und wie verhält sich seine propagierte bescheidene, soziale Einstellung, ja sogar Linkslastigkeit, zu seiner so gut wie nachgewiesenen Kollaboration mit der asozialen, antikommunistischen, argentinischen Militärdiktatur oder seiner Ablehnung der Befreiungstheologie? Angesichts der jahrtausendalten realen Politik der katholischen Kirche ist diese Dialektik möglicher Richtungsentscheidungen jedoch eher irreführend und dient nur dazu die Seiten zu füllen oder bewusst falsche Hoffnungen zu erwecken.

Es reicht auf die erschreckende Beweisführung von z. B. Karlheinz Deschner zur Kontinuität der asozialen Kriminalität der Kirche hinzuweisen, um den gekünstelten Charakter dieser Entscheidungsfreiheit zu begreifen. Und doch! Es wäre doch möglich, dass ein Papst, der aus eigener Tasche seine dienstliche Übernachtung in einem vatikanischen Hotel bezahlt, eine historische Wende einläutet. Wo doch schon sein Vorgänger den Heiligen Vater zu einem einfachen kündbaren Beamten heruntergesetzt hat. Vielleicht hat der Heilige Geist es endlich begriffen, dass seine Kirche sich überlebt hat und man nun mal was anderes erfinden sollte?

Sind Wunder noch möglich?

Das würde allerdings die Kräfte des Heiligen Geistes überfordern. Es wäre eine strategische Operation von der Größe der alliierten Landung in der Normandie gleichgekommen. Es würde bedeuten, 115 alte Kardinäle davon zu überzeugen, dass sie einen von ihnen zum Papst wählen sollten, der fast genau das Gegenteil von Benedikt XVI darstellt. Nun aber war Benedikt, als noch Ratzinger, bereits seit 1981 inquisitorischer Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre und war, zuverlässigen Informationen nach, der oder zumindest ein maßgebender „Berater“ des Papstes.

Alle zum Kardinal ernannten Bischöfe (50 Männer) wurden unter Johannes Paul II mit an kompletter Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit durch die bewertenden Filteranlagen des Präfekten sortiert. Und alle nach 2005 ernannten 67 Kardinäle waren, wie Insider behaupten, meist nur noch geklonte Benedikts. Das Konklave von 2013 also eine Versammlung, vollständig geprägt durch die Lehrauffassungen des Benedikts. Hier eine freie Wahl zu erwarten ist blauäugig, sogar im Rahmen einer freizügigen Interpretation des christlichen Freiheitsbegriffes.

Aber auch Wunder sind noch möglich. Hat der neue Papst doch als Jesuit den Gründervater der Franziskaner als Namenspatron gewählt. Bei den bekannten dubiösen Freundschaftsbeziehungen zwischen den beiden Vereinen sozusagen ein innerkatholisches Wunder! Sind seine ersten Worten, Gesten und Taten vielleicht doch kein missleidender Populismus, sondern eine historische Wende in der Geschichte der katholischen Kirche?

Der Existenz von solchen Wundern stehen wir aber eher skeptisch gegenüber und gehen lieber von der, insbesondere bei älteren Herrschaften, im Denken sehr ausgeprägten Persistenzneigung aus, um die Antwort zu finden. D. h. es gilt zu erforschen wie denn Jorge Mario Bergoglio so gedacht hat, bevor er Papst wurde.

Er hat eine ganze Reihe von Büchern geschrieben, die aber leider fast ausschließlich unübersetzt in spanischer Sprache vorliegen. Dies übrigens leider ähnlich dem enormen Angebot von innovativen theoretischen Gesellschaftsideen und politische Reformprojekte aus diesem Kontinent. Aber schließlich ist es mit katholischen Topklerikalen doch meistens so, dass ihre theologische Ausdrucksweise eindeutige Aussagen verhindert. Dann besser den indirekten Weg gehen und schauen, in welchen weltanschaulichen Kreisen bzw. Vereinen Bergoglio aktiv war. Diese Bergoglionische Interessenstruktur können wir dann als wesentliche Wurzel des zukünftigen Verhaltens von Franziskus deuten.

Comunione e Liberazione als päpstliche Leuchtbaken

Die biologischen Wurzeln des Papstes führen nach Italien und das ist für die Antwort auf unsere Frage keine zufällige Randerscheinung. So genießt Bischof Bergoglio in seinem mehr modernistisch ausgerichteten Jesuitenorden weniger Sympathien als beim äußerst einflussreichen in Italien wurzelnden christlichen Netzwerk der „Ciellini“: der Mitglieder von „Comunione e Liberazione“ (Gemeinschaft und Befreiung). Bergoglio sprach des Öfteren auf der jährlichen Generalversammlung der Bewegung in Rimini. Er promotete das Buch des Gründers der Bewegung Giussani auf vielen Präsentationsveranstaltungen in Argentinien und schrieb Artikel zu den Zielen dieser Bewegung. Damit nahm er sogar Konflikte mit seinem Orden im Kauf, da dieser in Italien und besonders in Mailand in starker Konkurrenz mit „Comunione e Liberazione“ steht.

Insgesamt darf man also davon ausgehen, dass die zukünftigen Pfade des neuen Papstes stark in den Spuren der Ciellini verlaufen werden. Dies um so mehr, da seine Vorgänger Johannes Paul II und sein Klonvater Benedikt XVI glühende Sponsoren der Bewegung waren. Letzterer behauptete auf der Bestattungsfeier von Giussani, dass dieser Kontakt mit der Bewegung „sein Leben geändert hat“. Unter Johannes Paul II wurden die Ciellini sogar “die Rambos des Papstes” oder “die Stalinisten Gottes” genannt.

Die Comunione e Liberazione (CL) entstand in Italien aufbauend auf den pädagogischen und katechetischen Methoden von Don Luigi Giussani, der die Bewegung 1969 als Lehrer in Milano gründete. Heute existiert die Bewegung in mehr als 80 Ländern und ist besonders stark in Italien, Spanien und Brasilien aber auch in den USA. Der heutige Leiter ist der spanische Priester Julián Carron. Vom Ursprung aus besitzt die Organisation einen integralistischen Charakter. Sie will als solche antipluralistisch eine Gegenbewegung zu den konkurrierenden Gesellschaftsvorstellungen des Sozialismus und des säkularen Humanismus aufbauen. Sie ist gegen die Trennung von Staat und Kirche und will, wenn möglich, den Katholizismus zur Staatsreligion erheben. Heute versucht die CL sich weniger politisch darzustellen, indem sie mehr auf Einfluss in kulturellem, sozialem und Bildungsbereich zielt.

Die CL-Anhänger sind überwiegend katholische Laien. Allerdings gibt es auch Priester und Religiöse, die der Bewegung lebenslang angehören, sowie geweihte Laien mit einer lebenslangen Zölibatsverpflichtung, die als „Memores Domini“ bekannt sind. Der Haushalt von Papst Benedikt wurde z. B. von vier geweihten Mitgliedern des Memores Domini geführt, mit denen der Papst, zusammen mit Erzbischof Georg Gänswein, wöchentlich eine „Schule der Gemeinschaft“ durchführte. Als Emeritus nimmt er sie übrigens mit nach Castell Gandolfo. Normalerweise leben die Memores Domini gemeinsam in Kollektiven mit Regeln des Schweigens, des gemeinsamen Betens, der Besitzlosigkeit, der Gehorsamkeit etc.

Viele Bischöfe in der ganzen Welt waren ehemalige Mitglieder, die sich aber nach der Erhebung in den Episkopat offiziell aus der CL zurückziehen mussten. Deswegen wird auch gesagt, dass Bergoglio der CL nur „nahe“ steht. Beweisen kann man den Grad der Nähe auch nicht, weil die CL offiziell keine formellen Mitglieder hat und keine Register führt. Die obligatorische Teilnahme begrenzt sich auf eine wöchentliche Katechese als "Schule der Gemeinschaft". Wer mehr will, schreibt sich in die Brüderschaft der CL ein. In Italien schätzt man die Zahl der Anhänger, die sich an der Schule der Gemeinschaft beteiligen, auf etwas mehr als 100.000 Personen.

Konflikte und Skandale

Zweck der Schulen ist es, die Anhänger zur christlichen Reife zu führen und sie zur Missionierung in allen Bereichen des modernen Lebens zu qualifizieren. Dabei ist für sie Christus die einzige wahre Antwort auf die tiefsten Bedürfnisse der Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen und in jedem Augenblick der Geschichte. Erforderlich ist lediglich, dass Christus als unmittelbar gegenwärtig anerkannt wird. Papst Johannes Paul II beauftragte die CL dazu, mit modernen Methoden, mit christlicher Vernunft und mit einer starken kollektiven Organisation gegen den modernen, individualistischen Zeitgeist anzukämpfen.

"Comunione e Liberazione" strebt weniger danach, "irgend etwas Neues anzubieten, als vielmehr die Tradition und Geschichte der Kirche wiederentdecken zu lassen, um diese erneut in einer Art und Weise zum Ausdruck zu bringen, die den Menschen von heute anspricht und herausfordert. (…) Es gilt, die christliche Erfahrung mit Intelligenz und Kreativität voll und ganz zu leben. Dies ist die Voraussetzung, um angemessene Antworten auf die drängenden Herausforderungen der Zeit und der immer wieder neuen geschichtlichen Umstände zu finden".

Trotz dieser heiligen Unterstützung hatte bis 1968 jedoch eine beträchtliche Anzahl von Mitgliedern die Bewegung verlassen, um sich der säkularen revolutionären Studentenbewegung anzuschließen, und viele waren sogar aktive Marxisten geworden. Die CL reagierte scharf gegen diese neuen Bewegungen. Dies sogar im Gegensatz zu dem zunehmenden Trend in den offiziellen katholischen Jugend- und Laienorganisationen, die ihren traditionellen Antagonismus gegen Säkularismus und Marxismus mehr und mehr abbauten. Die extrem reaktionäre und militante Haltung der CL während des  Referendums zur Ehescheidung (1974) und zur Abtreibung (1981) brachte sie sogar in Konflikt mit dem Vatikan. Sie gründete daraufhin eine Gruppe innerhalb der Christdemokratischen Partei, um eigenen Kandidaten politische Ämter zu verschaffen. Zugleich wurde eine eigene Arbeitgeberorganisation gegründet, die „Compagnia delle Opere“, um diese Aktivitäten zu finanzieren.

Konsequenterweise entstanden vor diesem Hintergrund dann auch ernsthafte Korruptionsskandale. Der sogenannte „Tangentopoli“-Skandal (Mitte der 1990er Jahre), mit ihren Tausenden Korruptionsangeklagten, führte im Rahmen der Auflösung der Christlich-Demokratischen Partei dann auch zur Verurteilung einer Reihe von CL-Amtsträgern. Doch blieb die Bewegung politisch aktiv und mit der Gründung der „Cristiani Democratici Uniti“ (CDU) bildete sie ein Bestandteil der politischen Konstruktionen von Berlusconi (der übrigens auch an CL-Schulungen teilnahm). Manche Beobachter qualifizieren die CL als eine wichtige Lobbymaschinerie mit engen Verbindungen zu rechten Parteien und sogar zur Mafia. Letzteres macht sich fest am CL nahen (und aktiver Memor Domini) Präsidenten der lombardischen Regionalregierung Formigniori, der vor kurzem abdanken musste, nachdem ein leitender Mitarbeiter aus Kalabrien wegen Mafiabeziehungen verhaftet wurde und weil sich Abgeordnete der Partei „Popolo della Libertà“ (PdL) von Ex-Premier Silvio Berlusconi eine opulente Feier auf Kosten des Steuerzahlers organisiert hatten.

Franziskus ist ein Erfolg der CL-Strategie

Vor diesem Hintergrund ist es also im Nachhinein keine Überraschung, dass Bergoglio zum Papst gewählt wurde. Nicht weil er Argentinier ist oder sehr bescheiden daherkam, sondern weil er ein Vertreter der italienisch geführte CL ist. Zwar war der stärkste Vertreter von Comunione e Liberazione im Konklave niemand anderes als sein engster Konkurrent Kardinal Angelo Scola, aber der war scheinbar als Italiener zu offensichtlich nah mit der CL und ihren Skandalen verbunden und das skandalöse Image wollten sie und die Kurienbürokratie unbedingt vermeiden.

Strategisch ging es außerdem mehr darum, zu versuchen den Wojtyla-Effekt zu wiederholen. Damals wurde die Wahl des polnischen Papstes zu einer Hauptwaffe im Kalten Krieg gegen den die westliche Welt und seine Kirche bedrohenden Kommunismus. Heute wirken die gesellschaftlichen und religiösen Entwicklungen in Lateinamerika als ähnliche Bedrohungen und ein autochthoner populistischer Papst könnte da sehr wirksam sein.

So hat die CL in jeder Hinsicht gesiegt und der heutige Vorsitzende der Fraternität von Comunione e Liberazione, Don Julián Carrón, hat die Wahl von Papst Franziskus dann auch wegen des neu geöffneten Weges für die CL-Missionierung begeistert gefeiert: „Wir danken dem Heiligen Geist, der Seiner Kirche eine neue Leitung geschenkt hat. So machen wir uns erneut auf den Weg, mit dem Wunsch, dem Papst mit unserer ganzen Person zu folgen und zu dienen, wie es uns Don Giussani gelehrt hat: „Das Antlitz jenes Menschen [Christus] ist heute die Gemeinschaft der Gläubigen. Sie ist Sein Zeichen in der Welt, oder – wie der Heilige Paulus sagt – sie ist Sein geheimnisvoller Leib, den man auch ‚Volk Gottes‘ nennt. Und dafür bürgt eine lebendige Person: der Bischofs von Rom.“

Rudolf Mondelaers