… Keinen Staat, der vor dem Papst kniet

Wie ist es Ihrer Meinung nach um das säkulare, laizistische und atheistische Polen bestellt?

Die Entwicklung der Säkularisation ist in Polen sehr bedeutend: Die überwältigende Anzahl der Menschen lebt im Alltag völlig weltlich und denkt nicht an Gott. Die Teilnahme an religiösen Zeremonien erfolgt sporadisch, hauptsächlich um religiöse Gefühle auszulösen und aus Angst, dass Gott sie bei Nichtteilnahme bestrafen könnte. Darüber hinaus gibt es kulturelle Gründe: man möchte zum Beispiel seine Eltern oder die Oma nicht ärgern. Doch Katholiken, die an die katholischen Dogmen glauben und sich bemühen, nach diesen zu leben, gibt es nur ganz wenige, etwas über 10 Prozent.

Doch auch deklarierte Atheisten gibt es sehr wenige in Polen, nicht mehr als echte Katholiken. Ganz viele Menschen glauben, dass es eine höhere Macht gibt und bemühen sich, diese auf irgendeine Weise zu ehren. Jedoch steigt die Zahl derer, die wütend auf die Kirche sind und aus ihrer Wut heraus, oft gegen den eigenen Willen, aufhören zu glauben. Das scheußliche Wirken der Kirche in Polen, zum Beispiel von Radio Maryja bewirkt das Anschwellen von Wut auf die Kirche. Und wütende Menschen glauben nicht mehr, weswegen die Kirche selbst die Säkularisation vorantreibt.

Kennen Sie laizistische Organisationen in Polen, die Erfolg haben?

Diese Organisationen sind sehr schwach und nischenhaft, da die Polen der Meinung sind, dass die Kirchenkritik an sich radikal und schädlich ist. Das bedeutet, dass die Menschen sehr gerne die Kirche kritisieren, jedoch privat und in einer nicht organisierten Art. Die stärkste Kritik an der Kirche wird im Übrigen von Priestern selbst im privaten Kreis geäußert.

Manchmal hört man in den polnischen Medien über Repressionen gegen nichtgläubige Menschen. Zum Beispiel bekommen deren Kinder in der Schule schlechtere Noten. Haben sie selbst Repressionen erleiden müssen?

Eindeutig herrscht im polnischen Bildungssystem ein religiöser Zwang. Das zeigt sich auf verschiedene Weise, zum Beispiel herrscht in den Schulen eine klerikale Atmosphäre und die Kirche mischt sich in Lehrpläne ein. Vor allem werden die Kinder einem unmittelbaren Zwang ausgesetzt: In polnischen Kindergärten wird die Nichtteilnahme am Religionsunterricht bestraft; nicht vorsätzlich, aber de facto in dem das nicht am Unterricht teilnehmende Kind vor Unterrichtsbeginn aus dem Unterrichtsraum geführt wird. Das ist für das Kind eine sehr große Strafe. Und daher entscheidet sich fast niemand, sein Kind nicht am Religionsunterricht im Kindergarten und in den ersten Schuljahren teilnehmen zu lassen.

Ich unterlag auch diesem Zwang und musste mein Kind der Prozedur der Taufe und Kommunion unterziehen und es am Religionsunterricht teilnehmen lassen. Das Kind wäre sonst ausgeschlossen gewesen. Man muss unglaublich entschlossen sein, um seinem Kind dieses Leid anzutun und es nicht in die Katechese zu schicken und es nicht zu taufen. Das können sich nur Mitglieder anderer Kirchen erlauben. Das ist eine Schande und mitverantwortlich ist jede Regierung, die sich dem nicht widersetzt. Wirklich verantwortlich ist die Regierung von Mazowiecki, die den Religionsunterricht in die Schule einführte aus Angst davor, dass die Kirche sich dem Bau eines demokratischen und freien Polens entgegenstellen könnte.

Haben Sie persönlich, zum Beispiel in der Arbeit als Universitätsprofessor Repressionen erleiden müssen?

Nein, ich habe keine Repressionen erleiden müssen aufgrund dessen, dass ich Jude oder nichtgläubig bin. Doch in Dörfern oder kleinen Städten passieren solche Sachen und ich kenne Menschen, die Unannehmlichkeiten deswegen erleiden mussten. Hingegen ist die Diskriminierung wesentlich geringer, als es noch in den 1990er Jahren der Fall war – ein erheblicher Fortschritt hat stattgefunden. Die polnische Bevölkerung ist egalitär, demokratisch und hat eine ganz starke Bindung zur Wahlfreiheit – sie ist schon in einem großen Maße eine liberale Gesellschaft.

Wurden Sie schon mal bedroht, weil sie nicht gläubig sind?

Ja, ich bekomme Briefe, lese auch viele Einträge in Foren sowie unter meinen Artikeln im Internet. Die Einträge haben antisemitischen Charakter und ich werde beschimpft, weil ich nicht gläubig bin – das ist aber normal in Polen. Aber wenn es um unmittelbare Repressionen im alltäglichen Leben geht, dann findet so was praktisch nicht statt, ich lebe frei und muss keine Schikanen, Verfolgungen oder Repressionen erleiden.

Kommen wir zu den Medien, das ist in Polen ein ganz wichtiges Thema. Sehen Sie in Polen die Teilung zwischen den modernen, aufgeschlossenen und den konservativ-klerikalen Medien? Und welche Entwicklungen sehen sie in der Zukunft?

Allgemein durchleben die Medien zurzeit eine Revolution: die Digitalisierung. Sie verlagern sich ins Internet und sind heute zum viel schnelleren Produzieren von kürzeren Nachrichten gezwungen. Das senkt generell das Niveau der Medien und erleichtert das Übermitteln von populistischen Inhalten. Darüber hinaus demokratisieren sich die Medien und werden immer schlechter; immer öfter sind sie ganz einfach private Meinungen, die auf einem Portal publiziert werden. Daher wird sich auch diese Teilung in den Medien leider verwischen.

Zurzeit haben wir zwei Strömungen; eine verkörpert den liberalen Mainstream und besteht aus zwei Zeitungen, und zwar der konservativen Rzeczpospolita und der mitte-rechts-konservativen Gazeta Wyborca, von der die radikale Rechte denkt, sie sei links. Das ist lustig, denn die Zeitung ist überhaupt nicht links. Die zweite Strömung besteht aus einer parallelen öffentlichen Meinung, die sich auf Basis von neuen radikalkonservativen Medien gebildet hat. Das ist so eine Art Dualismus, der noch dazu unterlegt ist mit persönlichen Reibereien im journalistischen Umfeld. In diesem Zusammenhang hat sich eine Gruppe von Journalisten gebildet, die sich selbst „hochmütig“ nennen. Sie haben ganz starke politische Aspirationen und stellen einen politisch-journalistischen Wirrwarr her. Sie gründen Zeitungen, die sich später umwandeln; es ist so ein ganzes Theater darum. Linke Medien sind eine absolute Nische: Menschen mit typisch linken Ansichten, also links von der Mitte im Sinne von Deutschland zum Beispiel, sind fast gar nicht in den Medien vertreten.

Es gibt in Polen aber so eine starke klerikale Strömung aus Thorn (Torun) – es geht mir um das sogenannte mediale Imperium des Redemptoristenpaters Rydzyk. Von außen sieht es aus, als wenn sein Imperium immer stärker wächst.

Nein, das ganze dreht sich um circa eine halbe bis zwei Millionen Menschen, was bei 30 Millionen erwachsenen Polen nicht besonders viel ist: Ich würde die Bedeutung dieser Medien nicht überschätzen. Das Phänomen Rydzyk ist jedoch ein gutes Beispiel für die Abhängigkeit der Politik von der Kirche. Rydzyk hat viele Parlamentarier in der Tasche und auch die Regierung Recht und Gerechtigkeit (PiS) (2005-2007) kniete vor Rydzyk. Das hat sich jetzt gewandelt, aber noch immer ist  Rydzyk unantastbar, obwohl er verschiedene rechtlich sehr bedenkliche Sachen macht. Fakt ist, dass er ein spezielles Gesetz für sich nutzt, das ihm die Übertragung von Radiosignalen garantiert, ohne dass er sich in regelmäßigen Abständen um eine Erneuerung der Konzession bemühen muss, so wie es andere tun müssen. Rydzyk ist ein Beispiel dafür, dass die Kirche in Polen außerhalb jeglicher politischer Kontrolle steht und machen kann, was sie will. Doch alleine die Tatsache, dass zwei Millionen Menschen einen hetzenden, unerbittlichen und hasserfüllten Radiosender hören, ist nichts Ungewöhnliches. In jeder Gesellschaft gibt es solche Menschen.

Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Die Fragen stellte Lukas Plewnia
Das Interview wurde am 9. März 2013 in Warschau aufgezeichnet.

 

Zur Person: Jan Hartman (geb. im 18. März 1967 in Breslau) ist Philosoph und seit 2011 ordentlicher Professor an der Jagiellonen-Universität. In der Arbeit als Wissenschaftler beschäftigt sich Hartman mit der Heuristik, politischen Philosophie sowie der Ethik und Bioethik. Als sehr bekannter Teilnehmer der öffentlichen Debatte in Polen nimmt er stets liberale und laizististische Positionen ein.

Warschauer Impressionen