Ein Kuss, obwohl eigentlich ein intimer privater Akt, kann ein politisches Statement sein. Eine demonstrative Provokation gegen rigide religiöse Moralvorstellungen und für Gleichberechtigung und Emanzipation. In letzter Zeit häufen sich solche Küsse aus Protest.
In vielen Ländern ist es verboten, sich in der Öffentlichkeit zu küssen, so etwa in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Malaysia, Indonesien, Indien, natürlich auch im Iran und in Saudi-Arabien. Jetzt wurde auch in der Türkei, die sich seit Jahren unter Erdogan immer mehr vom Laizismus entfernt und auf die Scharia zusteuert, das Küssen in der Öffentlichkeit verboten. Dagegen richtete sich vor einigen Tagen ein Kiss-In-Protest in Ankara. Die überaus friedliche Demonstration hat die Gewalt der Scharia-Anhänger provoziert. Sie griffen die Küssenden mit Messern an, einige wurden verletzt.
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Der Kuss aus Protest ist eine Waffe, deren Einsatz keine Opfer fordert und daher immer gerechtfertigt ist. Obwohl er auf die Adressaten provokant und aggressiv wirken kann, ist er immer defensiv. Es geht immer nur darum, einen Übergriff auf die eigene Lebensweise und die eigenen Wertvorstellungen abzuwehren, niemals darum, anderen etwas aufzuzwingen. Die Küssenden ziehen einen Kreis um sich, nicht um andere, sie demonstrieren immer für ihre individuelle Freiheit, für ihr Recht auf Anerkennung und Teilhabe am öffentlichen Leben, sei es als homosexuelle oder überhaupt als sexuelle Wesen.
Sex ist ein überwiegend im Privaten verborgener Eisberg, und der Kuss ist seine öffentlich sichtbare Spitze. Es ist politisch umstritten, wie weit diese Spitze herausragen darf. Aber beim Küssen aus Protest geht es nicht in erster Linie darum, Schamgrenzen zu verschieben, sondern – wie in der Türkei – um die Abwehr einer Hegemonie religiöser Moral, oder – wie bei uns im Westen – um die längst überfällige Gleichberechtigung und Emanzipation einer Minderheit.
Der Kuss ist eine inhärent sympathische Handlung. Wer durch einen Kuss provoziert wird, wer ihn verhindern oder verbieten will, hat daher schnell ein Imageproblem. Daher ist der Kuss aus Protest ein hervorragendes Mittel, um die gesellschaftlichen Veränderungen voranzutreiben, die vielen nützen und niemandem schaden. Wir sind schon weit gekommen, aber solange Küsse aus Protest noch so viele Menschen provozieren, sind wir noch nicht am Ziel.