Welchen Einfluss nehmen Verlage auf weltanschaulich-politische Bewegungen? Das ist eine von vielen Fragen, auf die eine soeben im Aschaffenburger Alibri-Verlag erschienene historische Studie Antworten gibt. Der Kulturwissenschaftler Horst Groschopp hat die Geschichte des Neuen Frankfurter Verlags untersucht, der im frühen 20. Jahrhundert eine bedeutsame Rolle in der humanistischen Publizistik gespielt hat. Das Buch ist zugleich Auftakt einer neuen Reihe, dieses Mal in Partnerschaft mit der Dr. Arthur Pfungst-Stiftung in Frankfurt am Main. Der hpd hat mit dem Autor darüber gesprochen.
hpd: Neuer Frankfurter Verlag (NFV) – das klingt sehr unspezifisch. Was bringt einen Humanismusforscher dazu, sich damit zu befassen?
Horst Groschopp: Mit der deutschen Freidenkerei beschäftige ich mich theoretisch, historisch und praktisch seit Mitte der 1980er Jahre und hier besonders mit deren Nähen und Fernen zum modernen Humanismus; wenn man so will mit Annäherungen beider Kulturströmungen an das wirkliche Leben und die Verwendung humanistischer Ideen in organisatorischen Praxen und alltäglichen Verhaltensweisen.
Bei den Reflexionen darüber stieß ich immer wieder, vor allem seit meiner Arbeit am Buch "Dissidenten" (1997) auf diesen Verlag, ohne ihn tiefer zu betrachten. Ich war noch zu sehr in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung als der maßgeblichen Richtung in der Freigeisterei verfangen, um mich dem Denken eines liberalen Humanismus außerhalb der Arbeiterbewegung zu öffnen.
Diese Haltung änderte sich mit den konservativen Wendungen, die derzeit in Deutschland stattfinden und die den Humanismus in Verruf zu bringen versuchen, sowie nach meinen beiden Büchern über die Geschichte von Lebenskunde und (mit Eckhard Müller) der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur. Das alles kann nicht betrachtet werden ohne Arthur Pfungst und den von ihm 1900 gegründeten Verlag.
Welches Spektrum innerhalb der Dissidenten-Szene hat der Verlag mit seinem Programm denn abgedeckt?
Die Geschichte des Verlages zerfällt in zwei Phasen, wie auch der Buchtitel zum Ausdruck bringt. Die zweite Etappe beginnt mit einem Volksbildungsprogramm 1925 und endet 1936 mit der Liquidierung des Verlages im Zuge der Arisierung der Dr. Arthur Pfungst-Stiftung ab 1933.
Freidenkerisch, mit eindeutigem Dissidentenbezug, ist die Zeit bis Kriegsbeginn 1914, und zwar auf zwei Publikationsformen gründend: Die nahezu 200 Bücher, hier besonders die "Bibliothek der Aufklärung"; und die Zeitschrift "Das freie Wort" (20.000 Seiten Text) mit der Beilage "Der Dissident" (800 Seiten). Das Programm folgte, einer damals populären kirchenkritischen Losung zugehörig, dem "Kampf gegen Rom".

Das klingt nicht unbedingt nach Verkaufsschlagern…
Klar, es gab auch Ladenhüter. Dazu zählten wahrscheinlich die teuren Lizenzen für die eigenen Übersetzungen des Verlagsgründers Arthur Pfungst, die seinen gottfreien Buddhismus unterstützten. Aber die Bücher hatten teils sehr bekannte Autoren, die sich gut verkauften. Ihre Stoffe trafen nicht nur den Geist der Zeit, sondern trugen wesentlich dazu bei, freigeistige Weltanschauungen zu befördern.
Die wichtigsten Publikationen werden im Buch detailliert vorgestellt, auch diverse "Verirrungen" (etwa in Zuspitzungen des Entwicklungsgedankens) und ein Plagiat-Skandal (eines Autors, nicht des Verlages). Da will ich nichts verraten, nur darauf hinweisen, dass das Buch die wahrscheinlich erste vollständige Bibliographie enthält, mit einigen Überraschungen.
Wie hat sich der Neue Frankfurter Verlag denn finanziert?
Genau wissen wir das nicht, denn das Hauptbuch des Verlages (der GmbH) und weitere Dokumente sind, wie wohl alle Unterlagen der Familie, der Angestellten, der Fabrik, der Stiftung usw. im Nationalsozialismus vernichtet worden. Geblieben ist alles Gedruckte und – wie durch ein Wunder – das "Inventuren und Bilanzbuch" des Verlages als Buchhändler. Das motivierte das vorliegende Buch. Das "IBB" hat die Stiftung inzwischen vollständig im Original und in der "Übersetzung" (alles da drin ist handschriftlich) auf ihrer Homepage dokumentiert.
Dieser Quelle können wir entnehmen, dass der fleißige und sehr reiche jüdische Schleifmittel-Fabrikant Arthur Pfungst jährlich die Verluste mit seinem Privatvermögen ausglich und wohl auch sonst freidenkerische Unternehmen großzügig unterstützte – etwa eine "Akademie des freien Gedankens" in Gang setzte – und wahrscheinlich den gesamten Verlag finanzierte. Das "IBB" sagt nichts über Angestellte, Löhne usw., sondern nur etwas über den Buchhandel… und das ist schon sehr viel. Einer anderen Quelle ist zu entnehmen, dass auch die Schwester Marie Pfungst, die alle Geschäfte nach dem Tod von Pfungst im Jahr 1912 übernahm, den Verlag stützte und unter anderem ab 1926 die Zeitschrift Die freie Volksbildung mit jährlich 10.000 Reichsmark am Leben hielt.
Ihr Buch erscheint im Alibri-Verlag, der heute eine wichtige Rolle in der säkularen, humanistischen Publizistik spielt. Welche Parallelen gibt es denn zwischen den beiden Verlagen? Und welche grundlegenden Unterschiede?
Ich habe die Geschichte des Alibri-Verlages nicht erforscht, was einen direkten Vergleich schwer macht. Auf den ersten Blick ist eine gewisse Themengleichheit festzustellen hinsichtlich Kirchen- und Religionskritik, Unterstützung der Evolutionstheorie usw. Ich möchte lieber auf einen wesentlichen Unterschied verweisen, nämlich dass sich der Verlag seit einem Jahrzehnt immer mehr dem Thema Humanismus geöffnet hat. Heute ist Alibri der Verlag, der dazu am meisten veröffentlicht. Das nun vorliegende Buch ist mein 25. bei Alibri, eine Art Jubiläumsband.
Die "humanistische Wendung" begann im Jahr 2007 mit der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Bayern, ihr folgte 2009 nach diesem Muster die Berliner Akademie, ab 2010 dann die Bundesakademie mit dem Band "Humanismusperspektiven", ein Titel, den ich 2016 für meine eigene Reihe übernahm.
Wir sind damals zu Alibri gegangen, weil dort die "säkulare Szene" zu Hause war. Dieser wollten wir unseren Humanismus näherbringen. Heute, wenn wir uns das ganze Sortiment bei Alibri ansehen, sehen wir zahlreiche weitere humanistische Texte. Es geschah ein Durchbruch, den die historischen Umstände beim NFV nicht zuließen.
Durch den Tod von Arthur Pfungst und auch den Ersten Weltkrieg kommt die verlegerische Tätigkeit fast zum Erliegen. Wie kommt es dazu, dass dessen Schwester Marie die Leitung des Verlags übernimmt?
Sie übernahm eine ganz normale Erbschaft von ihrem Bruder, denn Pfungst starb unverheiratet und kinderlos. Formal wurde Marie sofort nach Arthurs Tod Hauptgesellschafterin der GmbH Neuer Frankfurter Verlag. Allerdings lebte ihre Mutter Rosette noch bis 1922 und hatte wohl das letzte Wort. Genau wissen wir es nicht. Mit Kriegsausbruch kam es zu einigen Turbulenzen, besonders was den Umgang mit dem Hauptredakteur Max Henning, "Das freie Wort" und die Stiftungsgründung 1918 betrifft. Jedenfalls übernahm Marie den Verlag 1925 in die Stiftung. Von da an ist die Geschichte von Stiftung und Verlag verkoppelt, und ich versuche im Buch, dies zu erklären.
Welche programmatischen und organisatorischen Veränderungen gehen damit einher?
Bis 1932 kamen noch einmal eine neue Zeitschrift Freie Volksbildung und etwa vierzig weitere Bücher hinzu, inklusive die vier Bände der Gesammelten Werke von Arthur Pfungst und ihre Einzelausgaben. Vom alten Führungspersonal wurde lediglich der Verlagsdirektor Emil Doctor übernommen. Von Lektoren, Assistenten, Sekretärinnen und diversem Hilfspersonal wissen wir nichts. Das neue Publikationsprogramm übertrug die Stifterin einem neuen Stab, der einer bestimmten Auffassung von personenbezogener Volkshochschulbildung folgte, die in der historischen Literatur "Neue Richtung" heißt. Das ist Gegenstand des zweiten Teils dieses Buches.
Wie lässt sich im Rückblick die Bedeutung des NFV einschätzen?
Ich möchte mich hier auf die widersprüchliche zweite Phase beschränken, weil ich hier viel gelernt habe.
Erstens ist der NFV nun der Hauptverlag der Volkshochschulbewegung und hatte einen Hauptautor Eduard Weitsch, der die "Experimentiersozietas Dreißigacker" bei Meiningen in Thüringen leitete. Er verfocht ein humanistisches Konzept der Persönlichkeitsbildung ohne Zweckbindung.
Zweitens wuchs im Verlag selbst ein Gegenkonzept, das den konservativen Strömungen in Deutschland folgte und Volksbildung als Volk-Bildung interpretierte, bis hin zur völkischen Pädagogik des später führenden NS-Autors Ernst Krieck.
Drittens erschienen zwei Publikationen, die den Auftakt zu ganz neuen Forschungsprojekten bildeten, die aber wegen der faschistischen Herrschaft erst in den 1970er Jahren begannen, Hans Epsteins literaturwissenschaftliche Analyse des Detektivromans und Will-Erich Peuckerts Arbeiterkulturforschung.
Herausgegeben wird das Buch von der Dr. Arthur Pfungst-Stiftung Frankfurt. Inwiefern knüpft diese an die damalige Stiftung an?
Formal gesehen ist es die gleiche Stiftung, hinter der eine tragische Arisierungsgeschichte steht, eingeschlossen die Fabrik "Naxos-Union", die zur Stiftung gehörte, die Liquidierung des Verlages, die Ermordung von Marie Pfungst, des Verlagsdirektors Doctor, die Plünderung seiner reichen Büchersammlung und die verschleiernde Legendenbildung nach 1945 durch die gleichen Personen, die ab 1933 die Arisierung vorantrieben und nun wieder in ihre alten Ämter kamen. Da harrt noch viel Geschehenes und Verdunkeltes der Aufklärung.
Ein großer erster Schritt geschah am 18./19. September 2025 mit einer Konferenz "Unternehmer – Visionäre – Mäzene" zum Erbe von Marie und Arthur Pfungst. Das Protokoll wird der zweite Band dieser Reihe sein, der dritte dann eine Analyse der Zeitschrift Das freie Wort, erneut ein Verbindungsthema von Freidenkergeschichte und modernem Humanismus.
Jedenfalls zeigt das Hinzukommen der Stiftung und ihrer Schriftenreihe in den Alibri-Kosmos, dass die Öffnung des Verlages sich fortsetzt.
Horst Groschopp, Von der Freidenkerei zur Volksbildung. Der Neue Frankfurter Verlag und seine Geschichte. Schriften der Dr. Arthur Pfungst-Stiftung in Frankfurt am Main, Band 1. 284 Seiten, 34 Euro, ISBN 978-3-86569-445-4






