ISTANBUL. (hpd) Die Proteste in Istanbul und anderen türkischen Städten sind - obwohl es etwas stiller wurde - noch nicht beendet. Sie haben nur andere Formen angenommen. Unsere Korrespondentin berichtet über das vergangene Wochenende in Istanbul.
14.6.2013 17.30h – Cihangir-Istanbul
Ich treffe meine Freundin Sule, die ich seit zwei Jahren nicht gesehen habe in einem Bistro in Cihangir. Sie ist nicht allein, ihre Freundin und Nachbarin Lale ist auch bei ihr. Die beiden verbindet zusätzlich, dass ihre Kinder Musiktalente sind und im staatlichen Konservatorium unterrichtet werden. Wir unterhalten uns über allgemeine Themen, über Europa und aktuelle Ereignisse der vergangenen Tage in der Türkei. Beide Frauen sind aktive Unterstützerinnen der Proteste im Gezi-Park. Sie sind seit Beginn dabei, seit dem 29. Mai 2013, als zum Protest aufgerufen wurde.
"An dem Tag war es eher ein überfülltes Picknick im Park anstatt ein Protest. Ich hatte eine Decke mitgenommen, habe in Plastikschüsseln Obst und Salat eingepackt und brachte diese zum Park mit. Die Stimmung war friedlich, wir sangen und lachten. Am 31. Mai war es eher eine Kundgebung, Menschen kamen von überall her und der Taksim-Platz war überfüllt", erzählt Sule, eine alleinerziehende Mutter und fügt lächelnd hinzu: "Meine Decke ist immer noch dort und hat allem widerstanden und wird weiter genutzt."
Seit den Angriffen der Polizei am 31. Mai 2013 sei auch die Solidarität in der Nachbarschaft immens gestiegen. In der Nachbarschaft organisieren sie Verpflegung und sonstige alltägliche Dinge, die die Besetzer des Parks brauchen. Sules Bruder war in Estland und kam am 3.6. nach Istanbul zurück und ist am selbigen Tag direkt hin in den Gezi-Park. Einer der weiteren Gründe, warum Sule jeden Tag mehrmals im Park war.
"In der Nacht als die Polizei die Demonstranten angriff, war ich kurz vorher im Park. Eine Freundin von mir kennt die Crew der Fernsehserie 'Muhtesem Yüzyil' (Das glorreiche Jahrhundert), die ebenfalls dort waren. Ich habe ihnen gesagt, dass sie, wenn irgendwas passiert und sie Unterschlupf brauchen, bei mir anklopfen können. Und sie klopften an, als ganz Beyoglu in Gas erstickt wurde … und ich war überrascht, dass fast 30 Leute in meiner Bude waren; die ganze Crew und noch weitere Freunde von ihnen. Wir hatten Türen und Fenster verschlossen und die ganze Nacht auf dem Boden sitzend verbracht.", erzählt Sule.
Wir verlassen das Bistro auf dem Cihangir Platz und laufen kurz rüber in die Wohnung von Sule, um mein Gepäck abzuladen. Lale verabschiedet sich von uns und stellt noch in Aussicht, dass wir uns später vielleicht sehen können.
"Wenn Du Dich in der nächsten Zeit in der Innenstadt bewegen willst, solltest Du eine Taucherbrille und eine Gasmaske mit Luftfilter mitführen. Die gibt es an jeder Ecke. Du kannst nie wissen, wann Du in eine Gaswolke reinläufst, oder sie dich erwischt", weist mich Sule in die neuen Bedingungen der Stadt ein.
Inzwischen ist es schon gegen 19 Uhr. Ab und an prüft Sule aktuelle Facebook-Postings und Tweets auf ihrem Handy. Auch telefoniert sie mit Freunden, um die Lage auf dem Taksim-Platz und Gezi-Park abzuchecken. Später laufen wir die Istiklal Caddesi runter in Richtung Tünel. Die mir sehr vertraute Einkaufsmeile fühlt sich erstaunlich normal an: Touristen, junge Leute, Straßenverkäufer, Straßenmusiker, Frauen mit Einkaufstüten edler Labels, Familien, auf der Fußgängerzone flanierende Männer und Frauen - mit und ohne Kopftücher. Es fällt schwer mir vorzustellen, dass auf dieser Straße vor nur ein paar Tagen der Polizeiterror gegen Stadtbewohner stattfand.
Während des Spaziergangs auf der Istiklal Caddesi mit einem Schlenker in die Seitenstraßen der Asmalimescit, erhält Sule einige Anrufe von Freunden. Einer von ihnen teilt ihr mit, dass wir uns in einem Lokal in Cihangir, in der Nähe des Orhan Kemal Museum treffen können. Auf dem Weg dorthin läuft uns Orhan Pamuk mit seiner Tochter entgegen. So klein kann wohl die Welt manchmal in Cihangir sein.
Wir treffen Zehra, eine Musikerin (Opern und Musicals), nebenbei Musikpädagogin und -produzentin, geschieden, Mutter einer Tochter, die von beiden Elternteilen aufgezogen wird. Die beiden Frauen verbindet die Schule ihrer Kinder.
Wir kommen ins Gespräch, sie fragt mich, wie in Deutschland die Proteste und der Polizeiterror beurteilt werden. Ich versuche meine Wahrnehmungen möglichst differenziert weiterzugeben, bin aber daran interessiert zu erfahren, wohin ihrer Meinung nach die Proteste führen werden. Sie sagt, dass die Proteste zufällig und ungeplant bereits ein riesiges Ausmaß erlangt haben. Allein diese Tatsache wäre in der Vergangenheit unvorstellbar gewesen. Ebenso aber auch die immense Solidarität mit den Demonstranten in der ganz normalen durchschnittlichen Bevölkerung .
"Erdogan hat uns einen großen Dienst erwiesen", sagt sie sarkastisch und fügt hinzu: "So traurig es ist, ohne sein brutales Vorgehen gegen friedliche Menschen hätte es diesen neuen Zusammenhalt in der Bevölkerung in diesem Ausmaß wahrscheinlich nicht gegeben. Wohin das führen wird? Nun ja, im Rahmen der Taksim Solidaritätsplattform gibt es Gespräche und Diskussionen darüber, diese Bewegung weiter zu tragen. Meiner Meinung nach muss es eine treibende Kraft geben, eine Stimme dieser Bewegung, die sich in den nächsten Wahlen entsprechend aufstellen kann. Ich bin mir sicher, dass Erdogan trotz seiner Wahlmanipulation einen Denkzettel bekommen wird. Der Protest und die Verletzungen, die viele jungen Menschen seit Beginn der Ausschreitungen tragen, können nur bis zu einem bestimmten Punkt gehen. Danach muss es politisch weitergetragen werden. Und dafür brauchen diese jungen Menschen Unterstützung. Es kann nicht sein, dass diese Menschen umsonst gestorben sind und umsonst das Leid tragen. Um ein Beispiel zu geben, eine Freundin von mir liegt im Koma, sie hat Hirnblutungen ... Es gibt einige Bilder ihrer Verletzungen in den sozialen Netzwerken. Eine 32-jährige, sie hat sich nichts zu Schulden kommen lassen, sie schlief in einem der Zelte im Gezi Park und wurde von der Patronenhülse eines Gasgeschosses am Kopf getroffen. Sie ist kein Einzelfall, solche Erfahrungen können wir doch nicht einfach vergessen, niemand kann diese Bilder vergessen. Trotz all des Terrors gibt es Hoffnung, wenn du auf den Taksim Platz gehst, wirst du es spüren, diese Kraft. Niemand zuvor hatte so etwas geschafft, dieser Geist, den diese jungen Menschen hervorgebracht haben. Ich zweifle nicht daran: Diese jungen Menschen werden diesen Geist behalten."
Lale schließt sich uns an und plötzlich wird unser Gespräch unterbrochen: Von überall hören wir das Klappern von Töpfen und Pfannen aus vielen Wohnungen. Auch wir schließen uns an und schlagen mit unserem Besteck auf die Weinflasche und auf die Kühlbox aus Metall. Seit Beginn der Proteste hat es sich im ganzen Land etabliert, dass Punkt 21 Uhr das Topf- und Pfannenkonzert beginnt. Diejenigen, die unterwegs sind, halten an der Straße an, klatschen und jubeln. Ganze fünf Minuten lang.
Zwischendurch klappern Sule und Zehra per Handys aktuelle Nachrichten ab, sie wollen wissen, ob es denn heute Nacht friedlich auf dem Taksim Platz und im Gezi Park zugehen wird. Wir erfahren, dass der Pianist Davide Marcello ein Klavierkonzert gibt und freuen uns über diese Idee und diese Solidarität. Gleichzeitig hoffen wir, dass die Polizei fern bleibt und Menschen nicht zu Schaden kommen.
Die Töchter von Sule und Zehra, zwei Teenies, kommen vorbei, setzen sich zu uns und fragen ihre Mütter um die Erlaubnis, ob sie denn nochmal in ein Café auf der Istiklal Caddesi zu Freunden gehen können. Diesem Wunsch wird nicht entsprochen und alternativ dürfen die beiden im Viertel rumlaufen. Sie werden gefragt, ob sie denn für alle Fälle ihr "Überlebenspaket" bei sich haben. Sules Tochter fischt ihre Maske und ihre Taucherbrille aus der Tasche und wedelt ihr lächelnd zu.
Die drei Istanbulerinnen um mich herum erzählen, dass es neben all der Gewalt auch so viel Positives gibt und die Türkei eine neue Seite an sich entdeckt hätte, nämlich ihren intelligenten Humor und ebenso eine neue Kraft, die hoffen lässt, dass es eines Tages ein wirklich demokratisches Land werden kann.
9.6.2013 Istanbul-Taksim - ca. 15:30 Uhr
Zehra zeigt nach links und erzählt von der Nacht des 1. Juni: "Sieh, hier auf dieser Straße war ich, ich wollte rüber ins Deutsche Krankenhaus, weil ich dort meine durch die Polizei in der Nacht zuvor verletzten Freunde besuchen wollte. Als ich an dieser Straße ankam wurde ich von einer Gaswolke erwischt, die die Polizei unermüdlich abfeuerte. Ich hustete heftig und bekam keine Luft; ich dachte das war‘s dann wohl, ich werde sterben. Du musst wissen, ich habe bereits eine OP am Hirn hinter mir. Ich dachte, ich falle in Ohnmacht und dann ist es vorbei. Ein paar Häuser weiter von hier kam eine Frau raus, sie hatte Wasser in Plastikflaschen vor ihrer Tür ..." "Hier haben zahlreiche Leute ihre Türen aufgelassen und Wasserflaschen vor die Türen gestellt. Sie haben mit ihren Fußmatten die Türen angelehnt, so dass die vor der Polizei flüchtenden Unterschlupf bekommen", ergänzt Sule.
Zehra fährt fort: "... das stimmt. Diese Frau rief mich rein. Ich ging zwar rein, aber auch im Hauseingangsbereich habe ich nicht atmen können. Die Frau schlug vor, zu ihr in die Wohnung zu gehen. Ich weiß nicht, auf welcher Etage die Wohnung war, aber ich fühlte, dass das Atmen besser wurde. Ich dachte daran, dass ich in der Nähe von Sule war und ob ich es irgendwie zu ihr schaffen könnte. Als es sich etwas zu beruhigen schien, verließ ich das Gebäude, in welchem ich vorübergehend Unterschlupf gefunden hatte und rannte los. Ich kam bis zur Ecke, als sie von allen Seiten schossen. Müllcontainer brannten - und zwar nicht, weil Demonstranten sie angezündet haben, sondern, weil die Patronenhülsen der Gasgranaten das Feuer entfachten. Schließlich habe ich es irgendwie bis zu Sule geschafft."
Sule zeigt mir ein Foto von Zehra und sagt, dass es eine Momentaufnahme sei. Sie lachen über den damaligen Zustand von Zehra und sie fährt fort:
"Sule bot mir eine Joghurtsuppe an und versorgte meine Augen. Als ich mich später etwas besser fühlte, bin ich wieder raus und machte mich auf den Weg zum Taksim Platz ... Fast am Platz angekommen, landete wieder eine Gasgranate in meiner Nähe ... und wieder konnte ich nicht atmen und dachte, ich falle gleich um. Dann kam ein junger Mann - 18 war er, nahm die Granate und schleuderte sie zurück in die Richtung der Polizisten. Dabei verbrannte er sich die linke Hand - er hatte keinen Schutz, war total unerfahren. Ich fragte ihn, woher er denn kommt und er antwortete, dass er ein Oberstufenschüler sei und mit seinen Klassenkameraden da wäre. Ich habe ihn mitgenommen in die entgegengesetzte Richtung und habe in einem Laden Wasser gekauft, um seine Hand abzukühlen … dann haben wir vom Ladenbesitzer Eis bekommen. Damit sind wir in die nächste Apotheke und haben dort rudimentär die Hand versorgen lassen. Dann sagte er mir, dass er sich besser fühlen würde und am besten wieder zurück zu seinen Freunden auf den Taksim Platz gehen möchte. Er hatte auch Brandwunden im Gesicht. Ich war sprachlos: Er ging zurück."
"Ich bin aus Beşiktaş und gehöre zu der çArşı Gruppe“, fährt Zehra fort, "... ich begegnete einem Kumpel aus dieser Gruppe und fragte ihn ironisch, was er denn hier machen würde, die ganze Gruppe wäre doch wieder auf dem Taksim Platz und er antwortete auf dieselbe Art zurück, dass es doch alles noch Grünschnäbel wären und wir als die wahre çArşı-Gruppe doch den Widerstand geleistet hätten."
Sie lacht und versucht die machohafte Art des Kumpels nachzuahmen. "Wir liefen ein Stück zusammen in Richtung Yildiz Universität. Vor der Uni sahen wir die Barrikaden der Polizei, die die çArşı Anhänger eingekesselt haben. Ein Durcheinander, die jungen Leute versuchen in die Seitenstraßen auszuweichen. Ich wohne dort in Yildiz am Barbaros Boulevard und rannte so schnell ich konnte, um die Hauseingangstür zu öffnen. Meine Tochter war auch dabei und gemeinsam riefen wir die jungen Leute rein. Kaum drin, war eine dabei, die nur noch röchelte und kaum atmen konnte. Wir versuchten zu helfen, aber es half wenig. Offensichtlich eine Asthmatikerin. Ich fragte sie, warum sie denn dabei sei, wenn sie doch Asthma hätte, dann wäre es doch umso gefährlicher. Also sind diese jungen Leute um die 20, mit diesem naiven Elan auf die Straßen - und sie antwortete mir röchelnd, dass sie nicht anders konnte, dass sie nicht zuhause bleiben konnte, wenn ihre Freunde im Getümmel seien. Sie ergänzte noch, dass sie es nicht bereuen würde auch wenn sie dabei draufgehen würde ... Dieses Mädel war gerade 19 Jahre alt. Wie Du siehst, er hat diese Menschen so weit gebracht, dass sie so verrückt sind. Und der Hinterhalt der Polizei ist ja noch schlimmer - wie können sie diese Barrikaden umstellen, diese Kinder in die Ecke drängen und sie unter dauerndes Pfeffergas setzen? Ich meine, ist das Leben denn so wertlos? Das waren Kinder, die 18, 19, höchstens 20 Jahre alt sind. Nehmt euch doch Erwachsene vor, denn wir sind bereit mit euch zu kämpfen! Aber Kinder, die noch nichts in ihrem Leben erlebt haben so niederzumachen, das ist unmenschlich! Diese Brutalität der Polizei in den ersten drei Tagen war heftig und nicht gerechtfertigt."
Lale erwähnt den Vorfall von Yakup, dem Sicherheitsangestellten der Schule ihrer Kinder. Sie erklären mir, dass die Schule ihrer Kinder an dem Regierungssitz des Ministerpräsidenten grenzt und dieses Gebiet immer eine Zielscheibe darstellt. Yakup hatte schon Feierabend und versuchte so schnell wie möglich zuhause anzukommen und somit den Gefechten der Polizei und Demonstranten zu entkommen. Kurz vor seiner Haustür trifft ihn eine der Gaspatrone im Gesicht. "Ein einfacher Mann, unpolitisch und hat weder mit der einen Seite noch mit der anderen Seite irgendetwas zu tun. Schau dir das Foto an. Die Verantwortlichen, aber auch die Polizisten, die haben kein Gewissen. "Unmenschen!", sagt sie und die Traurigkeit in ihrem Gesichtsausdruck ist unverkennbar.
Sule zeigt mir auf ihrem iPhone das Foto des Verletzten.
Er habe schon zwei Operationen hinter sich, aber die Ärzte sehen keine Chance für die Wiederherstellung. Das Kinn, die Kiefer mitsamt der Zähne sind zu stark zerfetzt, sodass er nie wieder so aussehen wird wie vorher.
"Es tragen nun so viele Menschen schwere Verletzungen, es sind auch welche gestorben. Genau deshalb darf all der Protest nicht umsonst sein. Wir dürfen uns nicht beugen!" sagt Zehra.
Çapulcu Zeliha
Bericht aus Istanbul (1) (13.06.2013)